Kapitel 17

Am frühen Abend telefonierte ich mit Ken Armadale. Er wollte wissen, wie die Sitzung beim Jockey Club gelaufen war, und klang im übrigen sehr zufrieden mit sich, wozu er ja auch durchaus einigen Grund hatte.

«Dieser Rotlaufstamm ist gegen praktisch alle gängigen Antibiotika immun gemacht worden«, sagte er.»Sehr gründlich. Aber ich denke, es gibt da doch noch ein kleines Grüppchen, mit dem er sich wahrscheinlich gar nicht abgegeben hat, weil niemand auf die Idee kommen würde, sie in ein Pferd reinzupumpen. Sie sind nämlich selten und sehr teuer. Aber alles spricht dafür, daß sie die erwünschte Wirkung haben könnten. Jedenfalls hab ich mal etwas davon besorgt.«

«Großartig«, sagte ich.»Und wo?«

«In London. In einem der Lehrkrankenhäuser. Ich habe mit dem Pharmakologen dort gesprochen, und er hat mir zugesagt, ein bißchen davon in einen Karton zu packen und am Empfang Ihres Hotels zu hinterlegen, wo Sie’s dann abholen können. Steht >Halley< drauf.«

«Also, Ken, Sie sind einfach phantastisch.«

«Um’s zu bekommen, mußte ich meine Seele verpfänden.«

Am nächsten Morgen holte ich das Päckchen von der Rezeption ab und fuhr zum Portman Square, wo Chico bereits auf den Treppenstufen stand und einmal mehr auf mich wartete. Lucas Wainwright kam herunter und meinte, wir sollten, wenn’s recht wäre, mit seinem Auto fahren. Ich dachte an die viele Fahrerei der letzten vierzehn Tage und nahm sein Angebot dankend an. Wir ließen den Scimitar auf dem Parkplatz stehen, der am Vortag besetzt gewesen war — eine behelfsmäßige Angelegenheit auf einem noch leeren Baugrundstück —, und machten uns in einem großen Mercedes mit Klimaanlage auf den Weg nach Newmarket.

«Ist viel zu heiß«, sagte Lucas und stellte die Kühlung an.

«Falsche Jahreszeit.«

Er war im korrekten Anzug gekommen, worauf Chico und ich zugunsten von Jeans und Freizeithemd verzichtet hatten.

«Nettes kleines Auto, das Sie da fahren«, sagte Chico bewundernd.

«Sie hatten auch mal einen Mercedes, nicht wahr, Sid?«erkundigte sich Lucas.

Ich bejahte seine Frage, und wir unterhielten uns den halben Weg nach Suffolk hinauf über Autos. Lucas Wainwright fuhr gut, aber so ungeduldig, wie er alles andere auch tat. Ein Pfeffer-und-Salz-Typ, dachte ich. Braunes Haar mit grauen Strähnen, bräunliche Augen mit kleinen Flecken in der Iris. Braun-grau gemustertes Hemd und eine nichtssagende Krawatte. Pfeffer und Salz sein Benehmen, seine Sprechweise, sein ganzes Verhalten.

Schließlich stellte er die Frage, die er irgendwann ja mal stellen mußte:»Und wie kommen Sie mit den Syndikaten voran?«

Chico, der auf dem Rücksitz saß, gab ein Geräusch von sich, das halb Lachen, halb Prusten war.

«Äh…«, sagte ich.»Bedauerlich, daß Sie danach fragen, muß ich gestehen.«

«Das klingt nicht gut«, sagte Lucas mit gerunzelter Stirn.

«Nun ja«, sagte ich,»es ist da ganz zweifellos was im Gange, aber bisher haben wir noch nicht sehr viel mehr als Gerüchte und Geschichten vom Hörensagen erfahren können. «Ich hielt kurz inne, sagte dann:»Besteht irgendeine Aussicht, daß wir vielleicht doch ein Honorar bekommen?«

Er war grimmig amüsiert.»Ich kann’s vielleicht unter der Rubrik > Allgemeine Hilfeleistungen für den Jockey Club< verbuchen.

Kann mir nicht vorstellen, daß die Chefs Einwände erheben, ich meine, nach gestern.«

Chico hob hinter Lucas Wainwrights Rücken eine Hand mit nach oben zeigendem Daumen, und ich dachte mir, daß ich das Thema angesichts des günstigen Klimas vielleicht noch ein bißchen vertiefen sollte, um wenigstens das wieder reinzuholen, was ich an Jacksy gezahlt hatte.

«Wollen Sie, daß wir es weiter versuchen?«fragte ich.

«Aber ja. «Er nickte mit Entschiedenheit.»Unbedingt.«

Wir erreichten nach guter Fahrzeit Newmarket, und der Wagen kam auf der sehr gepflegten Zufahrt zu George Caspars Haus langsam ausrollend zum Stehen.

Es waren keine weiteren Autos zu sehen — mit Sicherheit jedenfalls nicht der Jaguar von Trevor Deansgate. Normalerweise müßte er an diesem Tag eigentlich in York sein, um sich seinen Geschäften als Buchmacher zu widmen. Allerdings war ich nicht überzeugt, daß das wirklich der Fall war.

George, der nur Lucas Wainwright erwartet hatte, war über meinen Anblick keineswegs erfreut, und als Rose-mary die Treppe herunterkam und mich unten im Flur stehen sah, ging sie sofort mit schrillen Mißfallensbekundungen auf mich los.

«Raus hier!«schrie sie.»Wie können Sie es wagen, dieses Haus zu betreten!«

Zwei rote Flecke brannten auf ihren Wangen, und sie sah fast so aus, als wolle sie mich eigenhändig vor die Tür setzen.

«Aber nicht doch«, sagte Lucas Wainwright und wand sich wie üblich mit der Verlegenheit des Marineoffiziers, der sich unziemlichem weiblichem Verhalten konfrontiert sieht.»George, würden Sie so gut sein und Ihre Frau veranlassen, sich erst einmal anzuhören, was wir beide Ihnen zu sagen haben?«

Rosemary wurde nach einigem Widerstreben dazu gebracht, sich in ihrem eleganten Wohnzimmer auf einem Stuhl niederzulassen, während Chico und ich müßig in bequemen Sesseln saßen und es Lucas Wainwright überließen, über Schweinekrankheiten und Herzgeräusche zu berichten.

Die Caspars hörten mit zunehmender Verwirrung und Bestürzung zu, und als Lucas den Namen Trevor Deansgate erwähnte, stand George auf und fing an, sehr erregt im Zimmer auf und ab zu gehen.

«Das ist doch unmöglich«, sagte er schließlich.»Trevor, nein. Wir sind befreundet.«

«Haben Sie ihn nach dem abschließenden Trainingslauf in die Nähe von >Tri-Nitro< kommen lassen?«fragte ich.

Das Gesicht von George gab die Antwort.

«Am Sonntagmorgen«, sagte Rosemary mit harter, kalter Stimme.»Er ist an dem Sonntag rausgekommen. Das tut er häufig. George und er machten einen Rundgang durch die Ställe. «Sie machte eine kleine Pause.»Trevor gibt Pferden gern einen Klaps. Klopft ihnen aufs Hinterteil. Es gibt so Leute. Manche tätscheln den Hals, andere ziehen an den Ohren. Trevor klopft auf Hinterteile.«

Lucas sagte:»Sie werden zu gegebener Zeit als Zeuge vor Gericht aussagen müssen, George.«

«Ich werde ganz schön blöde dastehen, was?«sagte dieser sauer.»Da stopf ich den Stall mit Wachen voll und nehm dann selbst Deansgate mit rein.«

Rosemary sah mich mit versteinertem, unversöhnlichem Blick an.

«Ich habe Ihnen ja gesagt, daß man sie müde gemacht hat. Ich hab’s Ihnen gesagt, aber Sie haben mir nicht geglaubt.«

Lucas sah sie überrascht an.»Aber ich dachte, Sie hätten das richtig verstanden, Mrs. Caspar. Sid hat Ihnen doch geglaubt. Es war Sid, der das alles ermittelt hat, nicht der Jockey Club.«

Ihr Mund öffnete sich und blieb offen stehen — sie war sprachlos.

«Schauen Sie«, sagte ich verlegen,»ich habe Ihnen hier ein Geschenk mitgebracht. Ken Armadale vom Equine Research Establishment hat einen Haufen Arbeit für Sie geleistet und meint nun, >Tri-Nitro< könnte vielleicht geheilt werden, und zwar mit Hilfe von Antibiotika, die nur sehr schwer zu bekommen sind. Und die habe ich Ihnen aus London mitgebracht.«

Ich stand auf, ging mit der Pappschachtel zu Rosemary hinüber, drückte sie ihr in die Hand und küßte sie auf die Wange.

«Es tut mir aufrichtig leid, Rosemary, daß es nicht rechtzeitig vor den 2000 Guineas zu schaffen war. Vielleicht reicht’s ja zum Derby… auf jeden Fall aber zum Irish Derby und zum Diamond Stakes und zum Arc de Tri-omphe… doch, >Tri-Nitro< wird bis dahin wieder fit sein.«

Und Rosemary Caspar, diese harte, so schwer zu beeindruckende Frau, brach in Tränen aus.

Wir waren erst gegen fünf Uhr wieder in London, da Lucas Wainwright darauf bestanden hatte, auch noch Ken Armadale und Henry Thrace einen persönlichen Besuch abzustatten. Der Chef des Sicherheitsdienstes des Jockey Club war bemüht, die ganze Geschichte zu einer hochoffiziellen Angelegenheit zu machen. Er war sichtlich erleichtert, als Ken seine Leute, die nach den verunglückten Rennen die Blutuntersuchungen durchgeführt hatten, von jeder Schuld freisprach.

«Der Erreger wandert schnurstracks zu den Herzklappen und ist im akuten Stadium im Blut nicht aufzuspüren, selbst wenn man an eine Krankheit dächte und nicht nur nach Drogen suchte. Erst später. und auch nur manchmal… gelangt er in die Blutbahn, wie es bei >Zingaloo< der Fall war, als wir ihm die Blutprobe abnahmen.«

«Soll das bedeuten«, verlangte Lucas zu wissen,»daß man, wenn man jetzt in diesem Augenblick das Blut von >Tri-Nitro< untersuchte, das Vorhandensein der Krankheit gar nicht nachweisen könnte?«

«Sie würden nur Antikörper finden«, erklärte Ken. Das schmeckte Lucas nicht.»Wie können wir dann aber vor Gericht beweisen, daß er sie hat?«

«Nun ja«, sagte Ken,»man könnte zum Beispiel heute die Zahl der Rotlauf-Antikörper ermitteln und dann noch einmal in einer Woche. Die Zahl hätte sich bis dahin drastisch erhöht, was beweisen würde, daß das Pferd die Krankheit hat, weil es sie ja abzuwehren versucht.«

Lucas schüttelte bekümmert den Kopf.»Einem Gericht wird so was kaum reichen.«

«Halten Sie sich an >Gleaner<«, sagte ich, und Ken pflichtete mir bei.

Danach verschwand Lucas in den Räumen des Jockey Club in der High Street, und Chico und ich zogen uns derweil in die Bar des» White Hart «zurück, um etwas zu trinken. Uns war sehr heiß.

Ich wechselte die Batterien aus. Reine Routine. Der Tag zog sich hin.

«Laß uns nach Spanien fahren«, sagte ich.

«Spanien?«

«Irgendwohin.«

«Ich hätte gegen eine Senorita nichts einzuwenden.«

«Du bist wirklich unmöglich.«

«Wer im Glashaus sitzt.«

Wir bestellten einen zweiten Drink und tranken — und uns war immer noch heiß.

«Was meinst du, wieviel wir kriegen?«fragte Chico.

«Mehr oder weniger das, was wir verlangen werden.«

George Caspar hatte gesagt, daß uns der Besitzer von >Tri-Nitro< die Welt zu Füßen legen wolle, falls das Pferd sich wieder erholte.

«Ein Honorar würde schon genügen«, hatte ich trocken erwidert.

Chico fragte:»Und was wirst du verlangen?«

«Ich weiß nicht«, sagte ich.»Vielleicht fünf Prozent von seinen Preisgeldern.«

«Da könnte er sich nicht beklagen.«

Schließlich und endlich brachen wir dann in dem angenehm kühlen Wagen in Richtung Süden auf und hörten uns im Radio die Übertragung der Dante Stakes in York an.

Zu meinem größten Vergnügen ging >Flotilla< als Sieger durchs Ziel.

Chico schlief danach auf dem Rücksitz ein, Lucas fuhr so ungeduldig wie auf der Hinfahrt, und ich saß still da und dachte an Rosemary und Trevor Deansgate und Nicholas Ashe und Trevor Deansgate und Louise und Trevor Deansgate.

Ein Stich nach dem anderen. »Ich werde meine Ankündigung wahr machen.«

Lucas setzte uns an der Einfahrt zu dem Parkplatz ab, auf dem ich den Scimitar stehengelassen hatte. Der würde jetzt ein richtiger Glutofen sein, dachte ich, wo er doch den ganzen Tag in der prallen Sonne gestanden hatte. Chico und ich gingen über den ungepflasterten, steinigen Platz zu ihm hin.

Chico gähnte.

Ein Bad, dachte ich. Ein kühler Drink. Abendessen. Wieder irgendwo ein Hotel suchen… nicht in der Wohnung schlafen.

Neben meinem Auto war ein Landrover mit einem für zwei Pferde ausgelegten Transporter geparkt. Komisch, dachte ich arglos, so einen mitten in London zu sehen. Chico, der noch immer gähnte, ging zwischen dem Anhänger und dem Scimitar durch und wartete darauf, daß ich die Wagentür aufschloß.

«Da drin wird’s bullig heiß sein«, sagte ich, suchte in meiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel und sah dabei nach unten in den Wagen.

Chico gab einen erstickten Laut von sich. Ich blickte auf und dachte verwirrt, wie ungeheuer schnell sich doch so ein langweiliger, heißer Nachmittag in eine eiskalte Katastrophe verwandeln konnte.

Ein großer Mann stand zwischen dem Pferdeanhänger und meinem Auto und hielt Chico, der mit dem Gesicht zu mir stand, fest mit seinem linken Arm umklammert. Er hielt ihn mehr oder weniger aufrecht, denn Chicos Kopf hing schlaff nach vorn.

In seiner rechten Hand hielt der Mann einen kleinen Knüppel mit birnenförmiger Verdickung.

Der zweite Mann ließ die Laderampe an der Rückseite des Anhängers herunter.

Es fiel mir nicht schwer, die beiden wiederzuerkennen. Als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, hatte ich bei einer Wahrsagerin gesessen, der meine Zukunftsaussichten nicht sonderlich gefallen hatten.

«Rein in den Anhänger, Freundchen«, sagte der, der Chico festhielt, zu mir.»Die rechte Box, Bürschchen. Ruhig und ganz fix. Sonst muß ich deinem Freund noch ein paar verpassen. Auf die Augen, Bürschchen, oder ins Genick.«

Auf der anderen Seite des Scimitar murmelte Chico etwas Unverständliches vor sich hin und bewegte dabei den Kopf. Der große Mann hob seinen Schlagstock und stieß erneut ein paar kurze, eindeutig schottisch eingefärbte Worte aus.

«Rein in den Hänger«, sagte er.»Rein mit dir, ganz nach vorne.«

Vor Wut kochend, ging ich hinten um mein Auto herum und über die Rampe in den Pferdeanhänger hinein. In die rechte Box, wie er gesagt hatte, und ganz nach vorn. Der zweite Mann hielt sich vorsichtig außer Reichweite, und sonst war niemand auf dem Parkplatz zu sehen.

Mir wurde bewußt, daß ich immer noch meine Autoschlüssel in der Hand hielt, und ich steckte sie ganz automatisch in die Hosentasche zurück. Schlüssel, Taschentuch, Geld… und in der linken Tasche nur eine leere Batterie. Keine Waffe irgendwelcher Art. Ein Messer im Strumpf, dachte ich. Ich hätte von Nicholas Ashe lernen sollen.

Der Mann, der Chico hielt, kam jetzt zur Rückseite des Anhängers. Halb trug und halb zerrte er sein Opfer in die linke Box.

«Ein Mucks, Bürschchen«, sagte er und blickte über die Trennwand in der Mitte zu mir herüber,»und ich geb deinem Freund hier was drauf. Auf die Augen, Bürschchen, und aufs Maul. Versuch um Hilfe zu schreien, Bürschchen, und deinem Freund bleibt nicht mehr viel, das wie’n Gesicht aussieht. Klar?«

Ich dachte an Mason in Tunbridge Wells, der nur so dahinvegetierte und blind war.

Ich sagte gar nichts.

«Ich bin während der ganzen Fahrt hier bei deinem Freund«, sagte Chicos Bewacher.»Denk dran, Bürschchen.«

Der zweite Mann hob die Rampe, schloß den Anhänger und sperrte das Sonnenlicht aus, so daß sofort tiefe Nacht um uns war. Viele dieser Anhänger hatten zwar an der hinteren Seite oben eine Öffnung — dieser aber nicht.

Mein Zustand ließ sich am besten mit dem Wort Erstarrung umschreiben.

Der Motor des Landrovers wurde angelassen, der Anhänger setzte sich in Bewegung und wurde rückwärts aus der Parklücke geschoben. Das reichte schon aus, um mich gegen die Seitenwand kippen zu lassen und mir zu zeigen, daß ich in aufrechter Haltung nicht sehr weit kommen würde.

Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, die doch nicht tiefschwarz war, weil die Rampe nicht an allen Stellen dicht schloß. Auch wenn das von keinerlei Bedeutung war, konnte ich schließlich erkennen, welche Umbauten vorgenommen worden waren, um aus dem Pferdeanhänger ein ausbruchssicheres Transportmittel zu machen: die zusätzliche Platte an der Rückseite, mit der die Öffnung geschlossen worden war, die normalerweise der Belüftung diente, und noch eine weitere im Innenraum, die dafür sorgte, daß die mittlere Trennwand nicht nur bis Kopfhöhe, sondern bis zum Dach des Hängers reichte.

Was den Rest anbetraf, so handelte es sich dabei nach wie vor um eine Box, die so stabil gebaut war, daß sie dem Gewicht und den Hufschlägen eines Pferdes standhielt. Ich saß hilflos auf dem mit lehmigem Schmutz bedeckten, im übrigen aber nackten Boden, und die finstersten Mordgedanken gingen mir durch den Kopf.

Nach all der ungeplanten Herumfahrerei hatte ich Lucas Wainwrights Angebot, mit seinem Wagen zu fahren, dankbar angenommen — und hirnrissigerweise mein Auto den ganzen Tag an einem Ort stehen lassen, wo es jeder sehen konnte. Sie mußten meine Spur gestern beim Jockey Club aufgenommen haben, dachte ich. Entweder gestern oder heute morgen. Aber gestern war der Parkplatz voll gewesen, und ich hatte das Auto irgendwo auf der Straße stehen lassen und ein Knöllchen dafür bekommen.

Ich war nicht in meiner Wohnung gewesen. Ich war nicht nach Aynsford hinausgefahren. Ich war nicht im» Cavendish «oder an sonst einem der Orte gewesen, die ich regelmäßig aufsuchte.

Ich war nur beim Jockey Club gewesen.

Ich saß da und fluchte und dachte an Trevor Deansgate.

Die Fahrt dauerte weit über eine Stunde — eine heiße, durchrüttelnde, deprimierende Zeit, die ich im wesentlichen damit zubrachte, mir ganz bewußt nicht die Frage zu stellen, was an ihrem Ende wohl auf uns warten mochte. Nach einer Weile konnte ich Chico durch die Trennwand hindurch sprechen hören, aber nicht verstehen, was er sagte. Die ausdruckslose, dröhnende, aus Glasgow stammende Stimme antwortete in kürzeren Sätzen, grollte wie Donner.

Zwei Profis aus Glasgow, hatte Jacksy gesagt. Der bei Chico war mit Sicherheit einer. Nicht der gewöhnliche, draufhauende, hirnlose Schläger, sondern ein beinharter Kerl mit Grips — und deshalb um so schlimmer.

Schließlich hörte das Stoßen und Schlingern auf, und ich konnte hören, wie die Anhängerkupplung gelöst wurde und der Landrover davonfuhr. In der plötzlichen Stille hörte ich ganz deutlich, wie Chico sagte:

«Was geht denn hier vor?«Er klang immer noch ziemlich groggy.

«Das wirst du bald genug erfahren, Bürschchen.«

«Wo ist Sid?«wollte Chico nun wissen.

«Sei still, Bürschchen.«

Ein Schlag war nicht zu hören, aber Chico war still.

Der Mann, der die Rampe hochgehoben und geschlossen hatte, kam und ließ sie wieder herunter, und das Abendlicht dieses Mittwochs strömte zu uns in den Anhänger.

«Raus«, sagte er.

Er wich ein Stück zurück, als ich vom Boden aufstand, und er hielt eine Heugabel in Bereitschaft, die spitzen Zinken auf mich gerichtet.

Ich starrte aus der Tiefe des Pferdeanhängers nach draußen und wußte, wo wir uns befanden. Der abgekoppelte

Hänger stand in einem Gebäude, und dieses Gebäude war die Reithalle auf dem Hof von Peter Rammileese.

Holzverkleidete Wände, Fensterluken oben im Dach, wegen der Hitze geöffnet. Niemand konnte von draußen hier hineinsehen.

«Raus!«sagte der Mann erneut und hob ruckartig die Heugabel.

«Mach, was er sagt, Bürschchen«, erklang die drohende Stimme des Mannes drüben bei Chico.»Und ein bißchen plötzlich.«

Ich tat, was er sagte.

Ging die Rampe hinunter und betrat den schallschluk-kenden, bräunlichen Sägemehlboden der Reithalle.

«Da rüber!«Er gestikulierte mit der Forke.»An die Wand.«

Seine Stimme war rauher als die von Chicos Bewacher, und sein Akzent noch ausgeprägter. Er wirkte so einschüchternd, daß mir keine andere Wahl blieb.

Ich ging und hatte dabei das Gefühl, als gehörten meine Füße gar nicht mehr mir.

«An die Wand da, Gesicht zu mir.«

Hinter dem Mann mit der Gabel stand — was ich aus dem Anhänger nicht hatte sehen können — Peter Rammileese. Auf seinem Gesicht lag eine häßliche Mischung aus Befriedigung, Spott und Vorfreude — etwas ganz anderes als die vorsichtige Konzentration seiner beiden Handlanger. Er hatte, so nahm ich an, vorhin den Landrover weggefahren.

Chicos Bewacher brachte diesen an den Rand der Laderampe und hielt ihn dort fest. Halb stand Chico und halb lehnte er sich gegen den Schotten, lächelte ein bißchen und war völlig durcheinander.

«Hallo, Sid«, sagte er.

Der Mann, der ihn hielt, hob seinen Schlagstock und sagte zu mir:»Jetzt hör mal gut zu, Bürschchen. Du bleibst mucksmäuschenstill stehen. Keine Bewegung. Wenn du dich rührst, mach ich deinen Freund so schnell so platt, daß du’s gar nicht mitkriegst. Verstanden?«

Ich antwortete ihm nicht. Gleich darauf nickte er dem mit der Heugabel auffordernd zu.

Der kam langsam und vorsichtig auf mich zu, zeigte mir die Zinken seiner Forke.

Ich blickte zu Chico hinüber. Sah den Schlagstock. Sah die Schäden, die ich nicht riskieren durfte.

Ich stand… ganz still.

Der Mann mit der Heugabel hob diese an, bis ihre Zinken nicht mehr auf meine Magengegend, sondern auf mein Herz gerichtet waren, und dann noch höher. Langsam, vorsichtig kam er immer näher, bis eine Zinke meine Kehle berührte.

«Halt still«, sagte der Mann bei Chico warnend.

Ich hielt still.

Die Zinken der Gabel glitten an meinem Hals vorbei, auf jeder Seite eine, unterhalb meines Kinns, bis ihre Spitzen auf die Holzfläche in meinem Rücken trafen. Schoben dabei meinen Kopf nach hinten. Nagelten mich an die Bretterwand, ohne mir irgendeine Verletzung zuzufügen. Besser, als wenn sie mir durch die Haut gefahren wären, dachte ich benommen, was aber kaum dazu angetan war, meine Selbstachtung zu stärken.

Als er die Forke da hatte, wo er sie haben wollte, stieß er den Stiel kräftig nach vorn, so daß sich die Zinken in das Holz gruben. Dann stemmte er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Stiel, damit ich die Gabel nicht verrücken und mich befreien konnte. Ich war mir selten so hilflos und töricht vorgekommen.

Der andere Mann wirkte plötzlich ganz entspannt, schleppte Chico die Laderampe hinunter und verpaßte ihm einen kräftigen Stoß ins Kreuz, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Kraftlos wie eine Stoffpuppe flog er in die weichen Sägespäne, und sein Bewacher kam zu mir herüber, um sich davon zu überzeugen, daß die Kraft, die mich an Ort und Stelle festhielt, ausreichte.

Er nickte seinem Partner zu.»Konzentrier dich ganz auf den hier«, sagte er zu ihm,»und kümmre dich nicht um das andre Bürschchen. Das mach ich schon.«

Ich sah mir ihre Gesichter an, die ich nie wieder vergessen würde.

Die harten, abgestumpften Züge. Die kalten Augen, wachsam und gefühllos. Das schwarze Haar und die blasse Haut. Die kleinen Köpfe auf den stämmigen Nacken. Die Ohren und die schweren Kinne mit den schwärzlichen Bartstoppeln. Ende dreißig, vermutete ich. Beide waren einander sehr ähnlich — und beide gingen mit der methodischen Brutalität des erfahrenen Söldners vor.

Peter Rammileese, der jetzt nähertrat, wirkte im Vergleich mit ihnen geradezu harmlos. Trotz der Mißbilligung seiner Kumpanen legte er die Hand auf den Mistgab elstiel und versuchte, daran zu rütteln. Es schien ihn zu überraschen, daß es nicht ging.

Er wandte sich an mich und sagte:»Sie werden Ihre Rotznase nicht mehr in Sachen stecken, die Sie nichts angehen, wenn das hier vorbei ist.«

Ich würdigte ihn keiner Antwort. Hinter den dreien kam plötzlich Chico auf die Beine, und einen kurzen Augenblick lang hoffte ich, daß er die Betäubung nur vorgetäuscht hatte, in Wirklichkeit hellwach war und bereit, seine Judokünste zu wirkungsvollem Einsatz zu bringen.

Aber das war nur ein Augenblick. Der Tritt, den er dem

Manne verpaßte, der ihn festgehalten hatte, hätte nicht einmal ein Kartenhaus zum Einsturz bringen können. In hilfloser Wut mußte ich mit ansehen, wie der Schlagstock erneut auf seinen Schädel niedersauste, ihn in die Knie gehen ließ und sein Hirn noch mehr benebelte.

Der Mann mit der Heugabel tat das, was ihm aufgetragen worden war, und konzentrierte sich ganz darauf, den auf den Gabelstiel ausgeübten Druck nicht schwächer werden zu lassen. Ich zerrte daran und wand mich verzweifelt, um mich zu befreien, aber meine Anstrengungen blieben vergeblich. Der große Mann bei Chico löste seinen Hosengürtel.

Ich sah mit ungläubigem Staunen, daß das, was er da um seine Taille gehabt hatte, gar kein Ledergürtel war, sondern eine längere, dünne, feingliedrige Kette, wie man sie etwa in Standuhren findet. An einem Ende hatte er eine Art Griff befestigt, den er nun in die Hand nahm. Dann schlug er weit ausholend zu, so daß das freie Ende durch die Luft sauste und sich um Chico wand.

Chicos Kopf schoß hoch, seine Augen und sein Mund öffneten sich weit vor Staunen, als habe der neue Schmerz wie ein Flammenwerfer die Nebel des alten vertrieben. Der Mann holte erneut aus, und wieder sauste die Kette auf Chico hinab, und ich konnte mich schreien hören:»Ihr Schweine, ihr verdammten Schweine…«, was aber nicht das geringste änderte.

Chico kam schwankend auf die Beine und machte ein paar stolpernde Schritte, wollte seinem Peiniger entkommen, aber der folgte ihm und schlug, offenbar stolz auf sein Tun, mit nicht nachlassender Grausamkeit auf ihn ein.

Ich schrie zusammenhanglose Worte heraus, schrie, er solle aufhören… spürte Zorn und Schmerz und die Qual des Gedankens, daß ich an all dem schuld war. Wenn ich

Chico nicht nach Newmarket mitgenommen hätte… wenn ich nicht solchen Schiß vor Trevor Deansgate gehabt hätte… weil ich Angst gehabt hatte, war Chico hier… jetzt…

o Gott… dieses Schwein. Aufhören… aufhören… Ich zerrte an der Mistgabel und konnte mich nicht losreißen.

Chico wankte, stolperte, kroch auf allen vieren ziellos in der Reithalle umher und blieb schließlich nicht weit von mir entfernt im Sägemehl liegen, das Gesicht nach unten. Der dünne Baumwollstoff seines Hemdes zuckte jedesmal, wenn die Kette ihn traf, und ich sah, wie hier und da blutigrote Streifen das Gewebe färbten.

Chico. Gott im Himmel.

Erst als er vollkommen bewegungslos dalag, hörte die Quälerei auf. Der Mann blieb neben ihm stehen, blickte abschätzend auf ihn hinab und hielt seine Kette locker in der Hand.

Peter Rammileese sah irgendwie verwirrt und erschrocken aus, obwohl er es doch gewesen war, der das alles arrangiert, der uns hierher gebracht hatte.

Zum ersten Mal wandte jetzt der Mann mit der Heugabel den Blick von mir ab und der Stelle zu, wo Chico lag. Das hatte nur eine winzige Verlagerung seines Gewichtes zur Folge, verminderte aber doch den Druck an meinem Hals. Ich zerrte mit einer Kraft an dem Stiel, auf die er nicht gefaßt war, und es gelang mir tatsächlich, von der Wand loszukommen — und es war nicht der Mann bei Chico, auf den ich mit blutrünstiger Wut zustürzte, sondern Peter Rammileese, der mir näher war.

Ich schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht — und ich schlug ihn mit meiner linken Hand, einem Knüppel, in dem hochentwickelte Technik im Wert von gut zweitausend Pfund steckte.

Er kreischte auf und legte die Arme schützend um den

Kopf, und ich sagte in wilder Wut» Dreckskerl!«und schlug noch einmal zu, traf diesmal seine Rippen.

Das war der Moment, wo sich der Mann bei Chico mit mir zu befassen begann, und ich entdeckte wie Chico, daß das erste, was man spürte, ein Staunen war. Der schneidende Schmerz war unglaublich heftig, und nach der Wucht des Aufpralls folgte ein anhaltendes Brennen. Ich ging mit einer Wut auf den Kerl los, von der ich nicht gedacht hätte, daß ich sie empfinden könnte — und jetzt war er es, der vor mir zurückwich.

Den nächsten Hieb seiner Kette fing ich mit meinem gefühllosen Arm auf. Das freie Ende wickelte sich um den Unterarm, und ich zog mit solcher Heftigkeit daran, daß ihm der Griff, ein Stück zusammengenähtes Leder, aus der Hand flog und auf mich zugesaust kam. Wären nur wir beide dort in der Halle gewesen, hätte ich Chico gerächt und uns den Weg aus der Reithalle freigekämpft, denn die Art und Weise, wie ich ihn attackierte, hatte nichts mit Kaltblütigkeit zu tun.

Ich fing den Ledergriff auf, und als sich die feingliedrige Kette von meinem Arm gelöst hatte, schwang ich sie kreisend über dem Kopf und ließ sie ihm dann mit voller Wucht um die Schultern sausen. Seinen weit aufgerissenen Augen und dem zornerfüllten, schottischen Aufschrei entnahm ich, daß er zum ersten Mal am eigenen Leibe erfuhr, was er bisher nur anderen angetan hatte.

Zu diesem Zeitpunkt aber griff die Reserve ein, der Heugabelmann — und wenn ich vielleicht auch mit einem hätte fertigwerden können, gegen zwei hatte ich keine Chance.

Er ging mit den tückischen Zinken auf mich los, und obwohl ich ihnen auswich wie ein Stierkämpfer, packte sein Kumpan mit beiden Händen meinen rechten Arm, wild entschlossen, sich seine Kette wiederzuholen. Ich fuhr mit einem Satz zu ihm herum und schlug ihm mit der Innenseite meines metallenen Handgelenks so hart aufs Ohr, daß ich den Aufprall durch meinen Ellbogen und Oberarm bis hinauf in die Schulter spüren konnte.

Für einen Sekundenbruchteil sah ich ihm aus nächster Nähe in die Augen, erkannte darin die ganze Erfahrung des harten Schlägers und wußte, daß er sich nicht auf die Laderampe des Pferdeanhängers setzen und jammern würde, wie es Peter Rammileese getan hatte.

Der Schlag gegen seinen Kopf hatte seinen Griff trotzdem so gelockert, daß ich mich von ihm losreißen und wegspringen konnte, den Griff der Kette noch immer fest umklammert. Ich drehte mich um und suchte den Heugabelmann. Der hatte seine Waffe inzwischen beiseite geworfen und löste gerade seinen Gürtel. Ich stürzte auf ihn zu, während er noch mit beiden Händen an seiner Taille herumfummelte, und machte auch ihn mit den Realitäten der von ihnen gewählten Kriegführung bekannt.

In der halben Sekunde, in der die beiden Schotten vom Schock wie erstarrt waren, machte ich kehrt und rannte auf die Tür los, hinter der es irgendwo Menschen, Hilfe und Sicherheit geben mußte.

Durch Sägemehl zu rennen ist so, als liefe man durch Sirup, und obwohl ich bis zur Tür kam, kam ich nicht hinaus, denn es handelte sich um ein riesiges Ding, wie ein großes Stück Wand, das sich auf Rollen nach einer Seite hin aufschieben ließ und mit einem schweren, in den Boden versenkten Riegel verschlossen war.

Der Heugabelmann holte mich dort ein, bevor ich den Riegel hochkriegte, und ich bekam zu spüren, daß es sich auch bei seinem Gürtel nicht um Leder, aber auch nicht um eine Kette aus dem Inneren einer Standuhr handelte, sondern eher um eine, mit der man Wachhunde ankettet. Weniger Biß, mehr Wucht.

Ich hatte nach wie vor die dünne Kette und warf mich, weil ich eben noch an dem Riegel gezerrt hatte, in gebückter Haltung herum, so daß sie sich um seine Beine wand. Er stöhnte laut und warf sich auf mich, und ich hatte plötzlich den anderen Burschen direkt hinter mir, so daß nun beide mich packten und ich ihnen von da an leider keinen Schaden mehr zufügen konnte, obwohl ich es an weiteren Versuchen durchaus nicht fehlen ließ.

Der Große bekam seine Kette wieder, weil er stärker war als ich und meine Hand gegen die Wand schlug, um ihren Griff zu lockern, während der andere mich fest umklammert hielt. Und ich dachte, ich werd’s euch, verdammt noch mal, nicht leichtmachen, ihr sollt ruhig was tun für euer Geld — und riß mich wieder los und war auf und davon, so daß sie hinter mir her mußten, durch die Halle und um den Pferdeanhänger herum und an den Wänden entlang und wieder zurück zur Tür.

Es gelang mir sogar, die Heugabel aufzuheben und sie damit eine Weile auf Distanz zu halten, dann schleuderte ich sie nach dem einen und verfehlte ihn leider. Und weil man Schmerzen in vieles andere verwandeln kann, um sie nicht zu spüren, entfesselte ich in mir noch mehr Ärger und Wut und Zorn und konzentrierte mich ganz auf diese Gefühle, um einen Schutzschild zu haben.

Ich endete — wie Chico — stolpernd und schwankend und kriechend und schließlich bewegungslos auf dem weichen Untergrund ausgestreckt. Nicht weit von der Tür entfernt… aber sehr weit von jeder Hilfe.

Sie werden aufhören, jetzt, wo ich stillhalte, dachte ich… sie werden gleich aufhören — und sie taten es.

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