Kapitel 14

Aus verschiedenen Gründen niedergeschlagen, fuhr ich am Freitag relativ langsam nach Newmarket.

Der Tag war heiß, und glaubte man dem Wetterbericht, so entwickelte sich gerade eine jener Hitzewellen, wie man sie oft im Mai erleben konnte — Verheißungen eines schönen Sommers, die dann nur selten in Erfüllung gingen. Ich fuhr mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt und beschloß, nach Hawaii zu fliegen, um mich dort ein Weilchen an den Strand zu legen — ein recht ausgedehntes Weilchen, wenn’s nach mir ging.

Martin England stand, als ich bei ihm eintraf, auf dem Hof vor seinen Ställen. Auch er war in Hemdsärmeln und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

«Sid!«sagte er, anscheinend wirklich erfreut.»Das ist ja großartig. Ich wollte gerade meinen Abendrundgang machen. Hast du sehr gut abgepaßt.«

Wir gingen von Box zu Box, dem üblichen Ritual folgend, bei dem der Trainer nach jedem Pferd und seinem Gesundheitszustand sieht, während der Gast Bewunderung und Komplimente äußert und sich hütet, auf Schwachstellen hinzuweisen. Martins Pferde waren mittelmäßig bis gut — so wie er, wie die Mehrzahl der Trainer, auf deren Schultern der Rennsport in erster Linie ruhte und denen die meisten Jockeys Lohn und Arbeit verdankten.

«Ist schon ’ne ganze Weile her, daß du für mich geritten bist«, sagte er, meine Gedanken erratend.

«Zehn Jahre… vielleicht auch mehr.«

«Was wiegst du jetzt, Sid?«

«Etwa dreiundsechzig, vierundsechzig Kilo, ohne Klamotten.«

Weniger als zu dem Zeitpunkt, wo ich die Rennreiterei hatte aufgeben müssen.

«Und recht fit, was?«

«Ich denke, so wie immer«, sagte ich.

Er nickte, und wir gingen von der Seite des Hofes, auf der die Stutfohlen standen, hinüber zur anderen, zu den Hengsten. Er hatte ein gutes Lot von Zweijährigen beisammen, und es freute ihn, als ich ihm das sagte.

«Das hier ist >Flotilla<«, sagte er, zur nächsten Box weitergehend.»Schon dreijährig. Läuft am nächsten Mittwoch beim Dante in York… und wenn das hinhaut, dann auch beim Derby.«

«Er sieht gut aus«, sagte ich.

Martin spendierte seiner Hoffnung auf Ruhm eine Mohrrübe. Auf seinem freundlichen, nicht mehr ganz jugendlichen Gesicht lag Stolz — nicht auf sich selbst, sondern auf das glänzende Fell und das ruhige Auge und die durchtrainierte Muskulatur des prächtigen vierbeinigen Geschöpfes vor ihm. Ich strich dem Pferd über den Hals, klopfte ihm auf die kastanienbraune Schulter und befühlte seine schlanken, harten Vorderläufe.

«Ist wirklich in großartiger Verfassung«, meinte ich.»Sollte dir wohl Ehre machen.«

Er nickte mit einem unter dem Stolz sichtbar werdenden, durchaus normalen Anflug von Besorgnis, und wir gingen weiter, die Reihe der Boxen entlang, klopften Hälse und

Kruppen, unterhielten uns und waren glücklich und zufrieden. Vielleicht war’s das, was mir wirklich fehlte, dachte ich. Vierzig Pferde und harte Arbeit und die alltägliche Routine. Planung und Verwaltung und Papierkram. Die Freude daran, ein Pferd zum Sieger zu machen, und die Traurigkeit, wenn es verlor. Ein erfülltes, befriedigendes Leben an der frischen Luft, das Dasein eines Geschäftsmannes im Sattel.

Ich dachte daran, was Chico und ich nun schon seit so vielen Monaten machten. Ganoven jagen, kleine und große. Ein bißchen von dem Schmutz aufwischen, der in der Rennsportindustrie anfiel. Hin und wieder mal eins verpaßt kriegen. Uns mit all unserem Grips durch Minenfelder tasten und uns mit Leuten abgeben, die mit Kanonen drohten.

Ich käme wohl kaum in Verruf, wenn ich das alles aufgäbe und statt dessen Pferde trainierte. Eine sehr viel normalere Existenz für einen Ex-Jockey, würden alle denken. Eine vernünftige, ordentliche Entscheidung, wenn man allmählich in die Jahre kam. Nur ich… und Trevor Deansgate… nur wir würden wissen, warum ich mich so entschieden hatte. Ich würde mit diesem Wissen sehr alt werden können.

Ich mochte aber nicht.

Am nächsten Morgen ging ich, mit Reithose, Reitstiefeln und Jerseyhemd bekleidet, um halb acht hinunter in den Hof. Obwohl es noch einigermaßen früh am Morgen war, war es doch schon recht warm, und die allgemeine Geschäftigkeit, die Geräusche und der Stallgeruch um mich her hoben meine am Boden liegenden Lebensgeister und ließen sie so etwa in Kniehöhe schweben.

Martin, eine Liste in der Hand, rief mir einen Gutenmorgengruß zu, und ich ging zu ihm, um zu sehen, welches

Pferd er mir zugeteilt hatte. Es gab da einen zu meiner Gewichtsklasse passenden Fünfjährigen, den er wohl für genau richtig hielt.

Ein Stallbursche führte gerade >Flotilla< aus seiner Box auf den Hof, und ich betrachtete den Hengst voller Bewunderung.

«Na los, nun mach schon«, sagte er fröhlich.

«Was denn?«fragte ich.

«>Flotilla< reiten.«

Ich wandte mich vollkommen überrascht dem Pferd zu. Sein bestes Pferd, seine Derby-Hoffnung — und ich völlig aus der Übung und einhändig!

«Willst du nicht?«fragte er.»Das hätte dir vor zehn Jahren ganz selbstverständlich zugestanden. Und sein Jockey ist in Irland, um auf dem Curragh mitzureiten. Also reitest du ihn oder einer von meinen Jungs. und da wärst du mir, um ehrlich zu sein, schon lieber.«

Ich erhob keine Einwände. Schließlich schlug man so ein Himmelsgeschenk nicht aus. Ich hielt ihn zwar für ein bißchen verrückt, aber wenn er unbedingt wollte, hatte ich nichts dagegen. Er half mir in den Sattel, ich paßte die Bügelriemen meiner Beinlänge an und fühlte mich wie ein aus langer Verbannung Heimgekehrter.

«Möchtest du einen Helm?«fragte er und sah sich suchend um, als erwarte er, daß einer aus dem Pflaster des Hofes herauswüchse.

«Danke, dafür nicht.«

Er nickte.»Stimmt, du hast ja nie einen aufgesetzt. «Er selbst trug trotz der Hitze die gewohnte karierte Schirmmütze. Ich war immer am liebsten barhäuptig geritten, die Rennen natürlich ausgenommen. Der Hauptgrund war der, daß ich so gern die Leichtigkeit und die Bewegung der Luft spürte.

«Und eine Peitsche?«

Er wußte, daß ich immer ganz automatisch eine bei mir gehabt hatte, denn eine solche Reitpeitsche half dem Jok-key sehr dabei, das Pferd im Gleichgewicht und auf geradem Kurs zu halten. Ein leichter Schlag die Schulter hinunter tat es schon. Man wechselte die Peitsche je nach Bedarf von der einen in die andere Hand. Ich besah mir die beiden Hände vor mir und dachte, daß ich eine Peitsche doch zu leicht verlieren könnte — und es galt vor allem, mit dem Pferd zurechtzukommen.

Ich schüttelte den Kopf.»Heute nicht.«

«Also gut«, sagte er,»dann mal los.«

Mich in die Mitte nehmend, ritt der ganze Pulk aus dem Hof hinaus und auf den parallel zu den Seitenstraßen angelegten Reitwegen durch Newmarket hindurch zu den weitläufigen Trainingsbahnen auf den Limekilns. Dort schob sich Martin, der den ruhigen Fünfjährigen übernommen hatte, neben mich.

«Gib ihm sechshundert Meter zum Aufwärmen und galoppier dann eine Meile die Teststrecke rauf. Zusammen mit >Gulliver<. Ist für >Flotilla< das letzte Training vor dem Dante, also nimm ihn ruhig ordentlich ran.«

«Ist gut«, sagte ich.

«Warte noch, bis ich da oben bin«, sagte er und deutete in die entsprechende Richtung.»Da kann ich euch besser beobachten.«

«In Ordnung.«

Er ritt zufrieden davon zu einer Anhöhe, die etwa eine halbe Meile entfernt war und von der aus er die gesamte Strecke überblicken konnte. Ich wand den linken Zügel um meine Plastikfinger und wünschte mir sehnlichst, ich könnte den Zug des Pferdemauls darin spüren. Wie leicht konnte mir eine ungeschickte Bewegung unterlaufen, wie leicht konnte ich die Lage des Gebisses verschieben und das Pferd aus dem Gleichgewicht bringen, wenn ich die Zugkraft falsch einschätzte. Der Zügel in meiner Rechten fühlte sich lebendig an, er übertrug Botschaften, sagte >Flotilla< und auf umgekehrtem Wege mir, wohin der Ritt ging und wie und in welcher Geschwindigkeit. Eine ganz persönliche Sprache, uns beiden vertraut, von uns beiden verstanden.

Laß mich bloß keinen Mist bauen, dachte ich. Laß mich nur das schaffen, was ich früher tausendmal geschafft habe, laß mein altes Können wieder da sein, eine Hand hin oder her. Ich konnte ihn den Sieg im Dante und im Derby und überhaupt in allen weiteren Rennen kosten, wenn ich das hier vermasselte.

Der Jockey auf >Gulliver< ritt mit mir im Kreis herum, wartete wie ich auf den Augenblick, wo es losgehen konnte, und beantwortete meine beiläufigen Bemerkungen nur einsilbig oder knurrend. Ich fragte mich, ob er wohl >Flo-tilla< hätte reiten sollen, wenn ich nicht dagewesen wäre. Ich gab die Frage an ihn weiter, und er bejahte sie unwirsch. Pech, dachte ich. Aber deine Zeit kommt auch noch.

Martin winkte uns vom Hügel aus zu. Der Bursche auf >Gulliver< wartete einen gemeinsamen Start nicht ab, sondern gab seinem Pferd gleich die Sporen und schoß in gestrecktem Galopp davon. Du kleiner Scheißkerl du, dachte ich. Aber mach, was du willst, ich werde >Flotilla< so laufen lassen, wie’s Anlaß und Distanz erfordern, und wenn du dich auf den Kopf stellst und mit den Beinen wackelst.

Es war einfach phantastisch, wieder zu reiten. Plötzlich stimmte alles, war alles so selbstverständlich wieder da, als habe es nie eine Unterbrechung gegeben, als hätte ich nie eine Hand verloren. Ich zog den linken Zügel mit der guten wie mit der schlechten Hand und spürte die Vibrationen, die auf beiden Seiten vom Gebiß des Pferdes ausgingen — und wenn mein Reitstil vielleicht auch nicht der vollkommenste war, den man je auf dieser Bahn gesehen hatte, so erfüllte er doch seinen Zweck.

>Flotilla< ging in gleichmäßigem Arbeitsgalopp über den Turf und holte >Gulliver< mühelos ein. Ich hielt ihn dann einen großen Teil der Strecke neben dem anderen Pferd, aber da >Flotilla< das eindeutig bessere war, ließ ich ihn nach sechshundert Metern laufen, und er beendete die Meile in beachtlichem Tempo, was ihn aber ganz und gar nicht überforderte. Der ist fit, dachte ich und ließ ihn in leichten Trab übergehen. Er würde sich, da war ich mir nach diesem Ritt sicher, beim Dante gut schlagen.

Ich sagte das Martin, als ich wieder zu ihm zurückkam. Das freute ihn, und er lachte.»Du kannst wahrhaftig noch reiten. Sah völlig unverändert aus.«

Ich seufzte innerlich. Er hatte mich für einen kurzen Augenblick in das Leben zurückkehren lassen, das ich verloren hatte, aber ich war nicht mehr derselbe wie früher. Ich mochte ja einen Arbeitsgalopp hingekriegt haben, ohne mich dabei zum Narren zu machen, aber das war nun mal nicht der Gold Cup von Cheltenham.

«Ich danke dir für einen wirklich herrlichen Morgen«, sagte ich.

Wir ritten durch die Stadt zu seinem Stall zurück, frühstückten zusammen, und dann fuhr ich mit ihm in seinem Landrover mit zur Rennbahn, um mir auch sein zweites Lot bei der Arbeit anzusehen. Als wir von dieser Fahrt zurückgekehrt waren, saßen wir noch eine Weile in seinem Arbeitszimmer zusammen, tranken Kaffee und unterhielten uns, bis ich schließlich mit einigem Bedauern feststellen mußte, daß die Zeit zum Aufbruch gekommen war.

Das Telefon klingelte. Martin ging dran und hielt mir dann den Hörer hin.

«Ist für dich, Sid.«

Ich dachte, es wäre Chico, aber dem war nicht so. Zu meiner Überraschung war es Henry Thrace, der von seinem Gestüt vor den Toren der Stadt aus anrief.

«Meine Assistentin hat mir erzählt, daß sie Sie auf den Limekilns arbeiten gesehen hat«, sagte er.»Ich wollte ihr ja erst nicht glauben, aber sie war ganz sicher. Ihr Kopf, kein Helm, kein Irrtum möglich. Mit den Pferden von Martin England, sagte sie, und da hab ich halt mal versucht, ob ich Sie bei ihm erreiche.«

«Was kann ich für Sie tun?«fragte ich.

«Eigentlich ist’s eher umgekehrt«, erwiderte er.»Zumindest glaube ich das. Ich hab Anfang der Woche einen Brief vom Jockey Club bekommen, ganz offiziell und so, in dem sie mich aufforderten, sie sofort zu verständigen, falls >Gleaner< oder >Zingaloo< eingehen sollten, und auch die Kadaver nicht wegschaffen zu lassen. Als ich den Brief gelesen hatte, rief ich Lucas Wainwright an, von dem er unterzeichnet war, und wollte wissen, was zum Henker das alles zu bedeuten habe, und da sagte er mir, daß Sie es eigentlich seien, der informiert werden wolle, wenn eines der beiden Tiere einginge. Er teile mir das in aller Vertraulichkeit mit, sagte er.«

Mein Mund wurde plötzlich ganz trocken.

«Sind Sie noch dran?«

«Ja«, sagte ich.

«Dann berichte ich Ihnen wohl besser gleich, daß >Glea-ner< soeben eingegangen ist.«

«Wann?«fragte ich und kam mir sehr dumm vor.»Ah… wie?«Mein Herz schlug plötzlich mindestens doppelt so schnell. Wie war das mit Überreaktionen? dachte ich und spürte, wie mich die Angst schmerzhaft durchzuckte.

«Eine Stute, die er decken sollte, wurde rossig, und da haben wir die beiden zusammengebracht«, sagte er.»Heute morgen. Vor vielleicht einer Stunde. Die Hitze hat ihn stark schwitzen lassen. Ist ja auch ziemlich heiß in der Deckstation, wenn da die Sonne draufbrennt. Na ja, er hat die Stute gedeckt, ist auch wieder runtergekommen, hat dann aber plötzlich zu schwanken angefangen, ist zu Boden gegangen und praktisch sofort verendet.«

Ich zwang mich zum Sprechen.»Wo ist er jetzt?«

«Noch in der Deckstation. Wir brauchen sie heute morgen nicht mehr, deshalb hab ich ihn erst mal da liegen lassen. Ich habe versucht, beim Jockey Club anzurufen, aber es ist ja Samstag, und Lucas Wainwright ist nicht da, und als mir meine Assistentin dann erzählte, daß Sie hier in Newmarket wären.«

«Ja«, sagte ich und atmete einmal tief durch.»Eine Obduktion. Sie wären doch einverstanden, oder?«

«Sehr wichtig, würde ich sagen. Von wegen der Versicherung und so.«

«Ich werde versuchen, Ken Armadale zu erreichen«, sagte ich.

«Vom Equine Research Establishment. Ich kenne ihn… wäre er Ihnen recht?«

«Wüßte keinen Besseren.«

«Ich rufe Sie wieder an.«

«Gut«, sagte er und legte auf.

Ich stand da, hatte Martins Telefonhörer in der Hand und sah in düstere Fernen. Das ist zu früh, dachte ich. Viel zu früh.

«Was ist denn?«fragte Martin.

«Gerade ist ein Pferd, über das ich Erkundigungen eingezogen habe, verendet.«- Allmächtiger Gott! — »Darf ich dein Telefon noch mal benutzen?«fragte ich.

«Aber bitte.«

Ken Armadale meinte, er sei gerade bei der Gartenarbeit und würde viel lieber ein totes Pferd aufschneiden. Ich erbot mich, ihn abzuholen, und er erwiderte, daß er mich erwarte. Meine Hand, stellte ich flüchtig fest, zitterte jetzt.

Ich rief Henry Thrace wieder an und sagte ihm Bescheid. Dankte Martin für seine große Gastfreundschaft. Bugsierte meinen Koffer und mich selbst in mein Auto und holte Ken Armadale von seinem stattlichen, neugebauten Haus am südlichen Stadtrand von Newmarket ab.

«Wonach halte ich Ausschau?«fragte er.

«Herz, denke ich.«

Er nickte. Er war ein kräftiger, dunkelhaariger Mann, etwa Mitte dreißig und in der veterinärmedizinischen Forschung tätig. Ich hatte schon mehrfach mit ihm zu tun gehabt, oft genug jedenfalls, um mich mit ihm zu verstehen und ihm zu vertrauen — und soweit ich es beurteilen konnte, ging es ihm mit mir nicht anders. Eine berufsbedingte Freundschaft, die bis zu einem Bier im Pub, aber nicht bis zu Weihnachtskarten reichte, jene Art von Beziehung, die unverändert blieb und sich im Bedarfsfalle leicht reaktivieren ließ.

«Irgendeine Besonderheit?«erkundigte er sich weiter.

«Ja… nur weiß ich nicht, was für eine.«

«Das klingt mysteriös.«

«Warten wir mal ab, was Sie finden.«

>Gleaner<, dachte ich. Wenn es drei Pferde gab, um die ich mich ganz bestimmt nicht kümmern durfte, dann waren das >Gleaner<, >Zingaloo< und >Tri-Nitro<. Ich wünschte mir, ich hätte Lucas Wainwright nicht gebeten, diese Briefe für mich zu schreiben, den einen an Henry Thrace, den anderen an George Caspar. Sollten diese Pferde eingehen, so bitte ich Sie, mich davon zu unterrichten… aber doch nicht so bald schon, nicht so entsetzlich schnell.

Ich fuhr auf den Hof von Henry Thrace und brachte das Auto mit einem scharfen Ruck zum Stehen. Er kam aus dem Haus, um uns zu begrüßen, und dann gingen wir zusammen zur Deckstation hinüber. Wie die meisten Baulichkeiten dieser Art bestand auch diese nur aus vier mit einer Doppeltür versehenen Wänden, etwa drei Meter hoch, darüber eine Fensterreihe und dann das Dach. Der überdachten Reitbahn von Peter Rammileese sehr ähnlich, dachte ich, nur kleiner.

War es draußen schon heiß, so hier drinnen erst recht. Das tote Pferd lag an der Stelle, an der es auf dem sägemehlbestreuten Boden zusammengebrochen war — ein trauriger, brauner Haufen mit milchig-grauen Augen.

«Ich hab den Abdecker angerufen«, sagte Ken.»Die Jungs sind gleich da.«

Henry Thrace nickte. Es war unmöglich, die Obduktion an Ort und Stelle durchzuführen, da der Blutgeruch noch tagelang in der Luft hängen und alle Pferde in Unruhe versetzen würde, die hier hereingebracht wurden. Wir warteten also die kurze Zeit, bis der Lastwagen mit der Seilwinde eintraf, und als der Kadaver verladen war, folgten wir der Fuhre bis zur Abdeckerei, wo die Verluste der Ställe von Newmarket zu Hundefutter verarbeitet wurden. Klein und hygienisch, alles sehr sauber.

Ken Armadale öffnete die Tasche, die er mitgebracht hatte, und gab mir einen abwaschbaren Nylonoverall zum Schutz von Hemd und Hose. Der Pferdekadaver lag jetzt in einem Raum mit weiß gekalkten Wänden und Betonfußboden. Im Boden Rinnen und ein Abfluß. Ken drehte einen Hahn auf, so daß Wasser aus einem neben dem Pferd liegenden Schlauch lief, und zog sich dann lange Gummihandschuhe an.

«Alles bereit?«sagte er.

Ich nickte, und er machte den ersten langen Schnitt. Wie schon bei früheren Gelegenheiten, war es auch hier der Geruch, den ich an den nun folgenden zehn Minuten am wenigsten mochte. Ken dagegen schien ihn gar nicht wahrzunehmen und überprüfte mit methodischer Sorgfalt die inneren Organe. Nachdem er den Brustkorb geöffnet hatte, entnahm er ihm Lunge und Herz und trug die gesamte blutige Masse zu dem Tisch, der unter dem einzigen Fenster des Raumes stand.

«Das ist seltsam«, sagte er nach einer Weile.

«Was denn?«

«Sehen Sie mal.«

Ich trat neben ihn und besah mir die Stelle, auf die er zeigte, aber ich hatte nicht seine Kenntnisse und so sah ich nur einen blutbedeckten Gewebeklumpen mit hart aussehenden Knorpelwülsten darin.

«Sein Herz?«fragte ich.

«Genau. Schauen Sie sich mal die Klappen an…«Er wandte mir das Gesicht zu, die Stirn gerunzelt.»Er ist an etwas gestorben, was Pferde eigentlich gar nicht kriegen. «Er dachte über das Gesagte nach.»Ein Jammer, daß wir keine Blutprobe entnehmen konnten, bevor er verendet ist.«

«Bei Henry Thrace steht noch ein Pferd, das die gleiche Geschichte hat«, sagte ich.»Von dem können Sie Ihre Blutprobe bekommen.«

Er hatte sich über das Herz gebeugt, richtete sich jetzt aber wieder auf und sah mich groß an.

«Sie erzählen mir wohl besser mal, was hier gespielt wird, Sid«, meinte er.»Und das vielleicht draußen, wo wir ein bißchen frische Luft atmen können.«

Wir gingen hinaus, und da wurde mir gleich wieder besser. Er stand da und hörte mir zu, die Handschuhe und die ganze Vorderseite seines Overalls blutbeschmiert, während ich mit dem im hinteren Teil meines Kopfes sitzenden Entsetzen rang und völlig ohne Gefühl und Ausdruck allein aus dem vorderen sprach.

«Es sind… oder waren… vier«, sagte ich.»Vier, von denen ich weiß. Alle vier Spitzenpferde, galten den ganzen Winter lang als Favoriten für die Guineas und das Derby. Erste Klasse, absolute Spitze. Alle aus ein und demselben Stall. Sie waren alle in der Woche vor den Guineas in Topform, sahen großartig aus. Sie gingen alle als hohe Favoriten an den Start und versagten kläglich. Sie litten alle an einer leichten Virusinfektion, die sich aber nicht entwickelte. Und bei allen stellte man hinterher Herzgeräusche fest.«

Ken sah immer finsterer drein.»Fahren Sie fort.«

«Da war >Bethesda<, die vor zwei Jahren in den 1000 Guineas lief. Sie kam danach in ein Gestüt und ging beim Fohlen ein. Herzversagen.«

Ken holte tief Luft.

«Dann dieser hier«, fuhr ich fort.»>Gleaner<. War im vergangenen Jahr der Favorit der 2000 Guineas. Er bekam danach einen echten Herzschaden und dazu noch Arthritis. Das andere Pferd, das hier bei Henry Thrace steht, ging topfit an den Start und konnte sich hinterher vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten.«

Ken nickte.»Und welches ist das vierte?«

Ich blickte zum Himmel empor. Blau und klar. Ich bringe mich selbst um, dachte ich. Dann sah ich ihn wieder an und sagte:»Das ist >Tri-Nitro<.«»Sid!«Er war schockiert.»Das ist doch erst ganze zehn Tage her.«

«Um was handelt es sich denn nun?«fragte ich.»Was stimmt mit ihnen nicht?«

«Ich müßte noch ein paar Tests machen, um ganz sicher zu sein«, erwiderte er.»Aber die Symptome, die Sie mir beschrieben haben, sind sehr typisch, und bei den Herzklappen gibt’s kein Vertun. Das Pferd ist an Rotlauf eingegangen, eine Erkrankung, die eigentlich nur bei Schweinen auftritt.«

Ken sagte:»Wir müssen das Herz als Beweismittel aufheben.«

«Ja«, stimmte ich zu.

Lieber Gott…

«Würden Sie mir bitte mal einen von den Plastiksäcken da bringen?«sagte er.»Halten Sie ihn auf. «Er legte das Herz hinein.»Wir fahren nachher am besten gleich noch ins Institut. Ich meine… ich weiß, daß ich da irgendwo einen Artikel rumliegen habe, in dem es um Schweinerotlauf bei Pferden geht. Wir könnten da mal reinschauen, wenn Sie wollen.«

«Selbstverständlich«, sagte ich.

Er schälte sich aus seinem blutverschmierten Overall.»Hitze und Erschöpfung, das hat den Burschen hier geschafft. Eine tödliche Verbindung bei einem Herzen in diesem Zustand. Sonst hätte er vielleicht noch jahrelang weitergelebt.«

Welche Ironie, dachte ich bitter.

Er verstaute alles wieder in seiner Tasche, und wir fuhren zu Henry Thrace zurück. Eine Blutprobe von >Zinga-looEquine Research Establishment an der Bury Road.

Kens Arbeitszimmer lag neben einem großen Laborraum, wo er den Plastikbeutel mit >Gleaners< Herz mit zum Ausguß nahm um, wie er mir sagte, das noch darin enthaltene Blut herauszuspülen.

«Jetzt schauen Sie sich’s noch mal an«, sagte er, als er fertig war.

Diesmal konnte ich deutlich sehen, wovon er gesprochen hatte. An den Rändern der Herzklappen waren überall kleine, knötchenartige Auswüchse zu erkennen, cremig weiß, an Blumenkohlsprossen erinnernd.

«Diese Wucherungen«, sagte er,»hindern die Klappen daran, sich richtig zu schließen. Machen das Herz ungefähr so wirkungsvoll wie eine lecke Pumpe.«

«Ja, das kann man sehen.«

«Ich leg das in den Tiefkühlschrank und sehe dann mal die Fachzeitschriften nach diesem Artikel durch.«

Während er mit der angekündigten Suche beschäftigt war, saß ich auf einem harten Stuhl in seinem zweckmäßig eingerichteten Arbeitszimmer. Ich betrachtete meine Finger. Bog und streckte sie wieder. Das alles darf gar nicht wahr sein, dachte ich. Vor drei Tagen erst hatte ich Trevor Deansgate in Chester getroffen. Wenn Sie Ihr Versprechen nicht halten, werde ich meine Ankündigung wahr machen.

«Hier ist’s ja!«rief Ken aus und strich eine aufgeschlagene Zeitschrift glatt.»Soll ich Ihnen die relevanten Stellen vorlesen?«

Ich nickte.

«Schweinerotlauf trat — im Jahre 1938 — bei einem Pferd in Gestalt der vegetativen Endocarditis auf, bei Schweinen die chronische Form der Krankheit. «Er sah auf.»Das sind diese blumenkohlartigen Gewächse.«

«Aha.«

Er las weiter.»Im Jahr 1944 trat plötzlich eine Mutationsform des Schweinerotlauf-Erregers auf, und zwar im Labor einer auf die Herstellung von Antiseren spezialisierten Firma, und führte bei den für die Gewinnung von Serum benutzten Pferden zu akuter Endocarditis.«

«Übersetzen Sie mir das«, sagte ich.

Er lächelte.»Damals pflegte man noch Pferde zu benutzen, um Vakzine, also Impfstoffe, zu gewinnen. Man injiziert dem Pferd die Schweinekrankheit, wartet, bis es Antikörper entwickelt, und extrahiert dann das Serum. Mit diesem Serum impft man dann gesunde Schweine und verhindert so, daß sie an Rotlauf erkranken. Das gleiche Verfahren wie bei den Impfstoffen, die beim Menschen eingesetzt werden, also gegen Pocken und so weiter. Standardmethode.«

«Okay«, sagte ich.»Lesen Sie weiter.«

«Was nun geschah, war, daß die Pferde, statt Antikörper zu entwickeln, selbst erkrankten.«

«Aber wie konnte das denn geschehen?«

«Das wird hier nicht ausgeführt. Man müßte die betreffende pharmazeutische Firma befragen, bei der es sich, wie ich sehe, um Tierson in Cambridge handelt. Die würden Ihnen das wohl erklären können, wenn Sie danach fragten. Ich kenne da auch jemanden, falls Sie eine Empfehlung brauchen.«

«Das ist doch schon so lange her«, sagte ich.

«Mein lieber Freund, Erreger sterben nicht. Die sind wie Zeitbomben, warten nur drauf, daß sich irgendein Hohlkopf leichtfertige Spielereien erlaubt. Manche Labors halten sich solche virulenten Stämme jahrzehntelang, Sie würden staunen.«

Er blickte wieder in die Zeitschrift und sagte dann:»Sie lesen die nächsten Abschnitte besser selbst. Sieht so aus, als seien sie einigermaßen verständlich formuliert. «Er schob mir die Zeitschrift über den Tisch zu, und ich las ab der Stelle, auf die er mit dem Finger zeigte.

1. 24–48 Stunden nach der intramuskulären Injektion der reinen Kultur setzt die Entzündung einer oder mehrerer Herzklappen ein. Zu diesem Zeitpunkt sind außer einem leichten Temperaturanstieg und gelegentlicher Beschleunigung des Pulsschlages keine weiteren Symptome feststellbar, es sei denn, das Pferd wird sehr großen Belastungen ausgesetzt, in welchem Falle es zu einer Störung der Blutzufuhr zur Lunge und zu aurikularer Fibrillation kommt. Beides verursacht einen schweren Erschöpfungszustand, der erst nach 2–3 Stunden Ruhe überwunden wird.

2. Zwischen dem zweiten und dem sechsten Tag erhöhen sich Temperatur und Anzahl der weißen Blutkörperchen, das Pferd ist kraftlos und frißt nicht. Es kann dies leicht als» Virusinfektion «fehldiagnostiziert werden. Eine genauere Untersuchung mit dem Stethoskop ergibt jedoch, daß zunehmend stärker werdende Herzgeräusche vorhanden sind. Nach ungefähr zehn Tagen wird, wenn das Pferd keinen größeren Beanspruchungen ausgesetzt wird, als sie Schritt oder leichter Trab darstellen, die Temperatur wieder normal, und es hat den Anschein, als habe sich das Tier wieder erholt. Das Herzgeräusch ist aber nach wie vor da, weshalb es erforderlich ist, auch weiterhin auf jedes schnelle Arbeiten zu verzichten, da dies zu schweren Atembeschwerden führt.

3. Während der folgenden Monate entwickeln sich an den Herzklappen Wucherungen, und es kann zudem zu Arthritis in einigen Gelenken, vor allem der Extremitäten, kommen. Der Zustand ist von Dauer und verschlechtert sich fortlaufend, und der Tod kann sehr plötzlich nach größeren Anstrengungen oder bei sehr heißem Wetter eintreten, manchmal Jahre nach der auslösenden Infektion.

Ich sah auf.»Genau das ist’s doch, oder nicht?«sagte ich.

«Paßt wie die Faust aufs Auge.«

Ich sagte nachdenklich:»Eine intramuskuläre Injektion der reinen Kultur… das schließt doch wohl jeden Unfall oder Zufall vollkommen aus?«

«Absolut«, sagte er.

«George Caspar hat seinen Stall in diesem Jahr mit Alarmglocken und Wachen und Hunden so total dichtgemacht, daß da niemand mit einer Spritze voller lebender Krankheitserreger auch nur in die Nähe von >Tri-Nitro< hätte kommen können.«

Er lächelte.»Man braucht dazu keine Riesenspritze. Kommen Sie mit ins Labor, ich zeig’s Ihnen.«

Ich folgte ihm, und wir gingen zu einem der Schränke mit Schiebetüren, die eine ganze Wand einnahmen. Er öffnete ihn und zog ein Schubfach heraus, in dem sich viele kleine Einwegpackungen aus Plastik befanden.

Er riß eine auf und schüttete den Inhalt auf seine Handfläche — eine Injektionsnadel, die an einer Plastikkapsel von der Größe einer Erbse saß. Das Ganze sah aus wie ein winziger Pfeil mit einem kleinen Bällchen am einen Ende, beides zusammen etwa so lang wie ein kleiner Finger.

Er nahm die Kapsel auf und drückte sie zusammen.»Halten Sie das jetzt in eine Flüssigkeit, dann können Sie etwa einen halben Teelöffel davon aufsaugen. Und man braucht nicht mal soviel reine Kultur, um eine Erkrankung herbeizuführen.«

«Man könnte das Ding also durchaus so in der Hand verstecken, daß es niemand sieht«, sagte ich.

Er nickte.»Und dann dem Pferd einfach einen Klaps geben. Geht ruckzuck. Ich benutze diese Dinger manchmal bei Pferden, die vor einer Spritze scheuen. «Er zeigte mir, wie’s gemacht wurde, hielt die Nadel so zwischen Daumen und Zeigefinger, daß sie nach unten zeigte.»Rein mit der Nadel und drücken«, sagte er.

«Könnten Sie mir eine davon überlassen?«

«Gewiß doch, gern«, erwiderte er und gab mir eine Pak-kung.

Ich steckte die Packung ein. Lieber Gott im Himmel!

Ken sagte langsam:»Wir könnten im übrigen vielleicht noch etwas für >Tri-Nitro< tun.«

«Was heißt das?«

Er überlegte kurz, blickte auf die große Flasche mit dem Blut von >Zingaloo<, die auf dem Abtropfbrett neben dem Ausguß stand.

«Vielleicht gelingt es uns, ein Antibiotikum zu finden, das die Krankheit heilt.«

«Ist es dafür nicht schon zu spät?«fragte ich.

«Zu spät für >Zingaloo<, ja. Aber ich glaube nicht, daß sich diese Wucherungen sofort entwickeln. Angenommen, >Tri-Nitro< wurde infiziert… na, sagen wir mal.«»Sagen wir mal vor haargenau zwei Wochen, nach dem Abschlußtraining.«

Er sah mich belustigt an.»Schön, sagen wir also vor zwei Wochen. Sein Herz hat schon Probleme, aber die Wucherungen haben noch nicht zu wachsen angefangen. Wenn er das richtige Antibiotikum bald bekommt, wäre eine vollständige Ausheilung vorstellbar.«

«Sie meinen, er würde wieder voll einsatzfähig?«

«Sehe nicht, was dagegen spräche.«

«Worauf warten Sie dann noch?«sagte ich.

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