Kapitel 15

Ich verbrachte den größten Teil des Sonntags an der See, fuhr von Newmarket nach Nordosten und an die ausgedehnten, fast menschenleeren Strande Norfolks. Nur, um irgendwohin zu fahren, etwas zu tun, mir die Zeit zu vertreiben.

Obwohl die Sonne schien, bewirkte der von der Nordsee her wehende Wind, daß sich nur wenige Mutige an den Strand verirrten. Ein paar kleinere Häuflein hockten hinter Windschutzwänden aus Segeltuch und beobachteten ihre unverzagten Kinder, die Sandburgen bauten.

Ich saß in einer Mulde in den Dünen, von Büscheln rauhen Seegrases umgeben. Ich ließ mich von der Sonne bescheinen und beobachtete die auf den Strand laufenden Wellen. Später ging ich am Strand spazieren, zertrat die von Würmern aufgeworfenen Sandhügel. Oder ich stand da und blickte aufs Meer hinaus, wobei ich den linken Oberarm abstützte und das Gewicht des Apparates weiter unten spürte, das nicht übermäßig groß war, aber immer gegenwärtig.

Einsame Orte hatten mir schon oft geholfen, mich zu entspannen und zu erholen, aber an diesem Tag wollte das nicht gelingen. Die Dämonen begleiteten mich. Der Preis des Stolzes… und der Sicherheit. Wenn du nur nicht immer soviel von dir verlangen würdest, hatte Charles einmal gesagt, könntest du es viel leichter haben. Das stimmte aber eigentlich nicht. Man war, wie man war. Oder zumindest war man, wie man war, bis jemand daherkam und einen kaputtmachte.

In Newmarket gab es den Spruch, daß man ein Niesen auf den Limekilns noch auf der zwei Meilen entfernten Rennbahn hören könne. Daß ich bei der Obduktion von >Gleaner< dabeigewesen war, würde George Caspar innerhalb von vierundzwanzig Stunden erfahren. Und Trevor Deansgate ebenfalls, mit absoluter Sicherheit. Ich konnte mich immer noch davonmachen. Dachte ich. Es war noch nicht zu spät. Reisen. An anderen Stränden, unter anderen Himmeln spazierengehen. Ich konnte immer noch dem Grauen entfliehen, das er in mir wachrief. Ich konnte immer noch… weglaufen.

Ich kehrte der Küste den Rücken und fuhr wie betäubt nach Cambridge. Übernachtete dort im» University Arms Hotel «und suchte am Montagmorgen die pharmazeutische Firma namens Tierson auf. Ich fragte dort nach einem Mr. Livingston, der etwa sechzig, gräulich und hager war. Wenn er sprach, machte sein Mund kleine, knabbernde Bewegungen. Sieht zwar aus wie ein vertrockneter alter Kauz, hatte Ken Armadale gemeint, hat aber einen blitzgescheiten Kopf.

«Mr. Halley, nicht wahr?«sagte Livingston und schüttelte mir am Empfang die Hand.»Mr. Armadale hat mich angerufen und mir erklärt, was Sie wünschen. Ich glaube, ich kann Ihnen da helfen, ja, das kann ich wohl. Kommen Sie, kommen Sie nur, hier entlang.«

Er ging mit kleinen Schritten vor mir her und sah sich immer wieder nach mir um, um sich zu vergewissern, daß ich ihm noch folgte. Das schien eine Vorsichtsmaßnahme zu sein, die ich einem häufigeren Verschwinden von Besuchern verdankte, handelte es sich bei dem Werksgelände doch um ein wahres Labyrinth offensichtlich wahllos zusammengefügter gläserner Gänge, Labors und kleiner Gärten.

«Das alles hier ist halt gewachsen«, sagte er, als ich eine entsprechende Bemerkung machte.»Aber da sind wir schon. «Er führte mich in ein großes Labor, durch dessen gläserne Wände man auf der einen Seite einen weiteren Gang, auf der zweiten einen Garten und auf der dritten ein weiteres Labor sehen konnte.

«Das ist unsere Versuchsabteilung«, sagte er und wies mit ausladender Handbewegung auf die beiden Laborräume.»Die meisten unserer Laboratorien dienen der kommerziellen Herstellung von Impfstoffen, aber hier drin basteln wir an neuen herum.«

«Und lassen alte wieder auferstehen?«fragte ich.

Er sah mich scharf an.»Ich muß doch sehr bitten. Ich dachte, Sie seien gekommen, um Informationen einzuholen, und nicht, um uns der Fahrlässigkeit zu bezichtigen.«

«Tut mir leid«, sagte ich beschwichtigend.»Da haben Sie völlig recht.«

«Na gut, dann stellen Sie Ihre Fragen.«

«Äh, ja. Wie ist es gekommen, daß die Pferde, die hier in den vierziger Jahren zur Gewinnung von Serum benutzt wurden, an Schweinerotlauf erkrankt sind?«

«Hm«, sagte er.»Kurz, bündig, zur Sache. Wir haben darüber einen Artikel veröffentlicht, nicht wahr? Vor meiner Zeit, versteht sich. Aber ich habe davon erfahren. Ja. Nun, es ist möglich. Es ist möglich, ist geschehen. Hätte es aber nicht dürfen. Reine Unachtsamkeit, verstehen Sie? Ich hasse Unachtsamkeit. Hasse sie.«

Kein Fehler, schoß es mir durch den Kopf. Bei dieser Art von Geschäft konnte Unachtsamkeit ja schließlich tödliche Folgen haben.

«Wissen Sie irgend etwas darüber, wie die Herstellung des Rotlauf-Antiserums funktioniert?«erkundigte er sich.

«So gut wie nichts.«

«Aha«, sagte er.»Dann werde ich’s Ihnen erklären wie einem Kind. Recht so?«

«Sehr«, sagte ich.

Er warf mir erneut einen strengen Blick zu, in dem diesmal aber auch Amüsiertheit lag.

«Man injiziert einem Pferd lebende Krankheitserreger. Können Sie mir folgen? Ich spreche jetzt von der Vergangenheit, als man noch mit Pferden arbeitete. Wir benutzen schon seit den fünfziger Jahren keine Pferde mehr, wir nicht und auch nicht Burroughs Wellcome oder Bayer in Deutschland. Das gehört der Vergangenheit an, verstehen Sie?«

«Ja«, sagte ich.

«Das Blut des Pferdes entwickelt Antikörper, um den Erreger zu bekämpfen. Das Pferd erkrankt nicht, weil das eine Krankheit ist, die Schweine bekommen, Pferde jedoch nicht.«

«Das könnte wirklich auch ein Kind verstehen«, sagte ich.

«Sehr schön. Nun kommt es vor, daß die verwendeten Erreger an Wirksamkeit verlieren, und um sie wieder virulent zu machen, läßt man sie durch Tauben gehen.«

«Durch Tauben gehen?«sagte ich, um größte Höflichkeit bemüht.

Er hob die Augenbrauen.»Übliches Verfahren. Man läßt einen schwachen Stamm durch Tauben gehen, um ihm seine Virulenz wiederzugeben.«

«Aber natürlich«, sagte ich.

Der spöttische Unterton in meiner Stimme ließ ihn auffahren.

«Mr. Halley«, sagte er vorwurfsvoll,»liegt Ihnen nun daran, das alles zu erfahren, oder nicht?«»Doch, durchaus«, sagte ich demütig.

«Also bitte. Nun, der virulente Stamm wurde den Tauben wieder entnommen und in Glasschälchen getan, in denen sich ein Nährboden aus Blut befand. «Er unterbrach sich, bedachte das Ausmaß meiner Ignoranz.»Lassen Sie es mich so sagen. Die lebenden, virulenten Erreger wurden von den Tauben in kleine Glasschälchen mit Blut transferiert, wo sie sich dann vermehrten, bis die Menge groß genug war, um sie einem Pferd zu injizieren.«

«Alles klar«, sagte ich.»Das verstehe ich.«

«Schön. «Er nickte.»Nun handelte es sich bei dem Blut in den Schälchen um Rinderblut.«

«Aha«, sagte ich.

«Aber auf Grund einer dummen Unachtsamkeit eines Mitarbeiters wurden diese Schälchen eines Tages mit Pferdeblut gefüllt. Das führte dann zu einem mutierten Stamm des Krankheitserregers. «Er schwieg eine Weile.»Mutationen sind Veränderungen, die plötzlich und ohne erkennbaren Grund auftreten, überall in der Natur.«

«Aha«, sagte ich wieder.

«Niemandem war klar, was da passiert war«, fuhr er fort.»Bis der mutierte Stamm den Serumpferden injiziert wurde und sie alle an Schweinerotlauf erkrankten. Der mutierte Stamm erwies sich als bemerkenswert konstant. Die Inkubationszeit betrug immer vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden, und stets kam es zu Endocarditis… also zu einer Entzündung der Herzklappen.«

Ein jüngerer Mann in offenem, weißem Kittel betrat den Raum nebenan, und ich sah mit halber Aufmerksamkeit zu, wie er dort herumzuwerkeln begann.

«Was wurde aus diesem mutierten Stamm?«fragte ich.

Livingstons Lippen knabberten und knabberten, aber schließlich sagte er doch:»Wir haben wahrscheinlich einen Teil davon aufbewahrt, möchte ich annehmen, so quasi als Kuriosität. Aber natürlich ist er inzwischen stark geschwächt, und um die volle Virulenz wiederherzustellen, müßte man ihn.«

«Ja«, sagte ich.»Man müßte ihn durch Tauben gehen lassen.«

Er fand das keineswegs komisch.»Sehr richtig.«

«Und diese ganze Durch-Tauben-Schicker ei und Übertragerei auf Nährböden. welches Maß an Kenntnissen ist dazu erforderlich?«

Er sah mich erstaunt an.»Ich könnte das ohne weiteres machen.«

Ich nicht. Für alle Injektionen, die ich bisher machen mußte, hatten mir immer kleine, säuberlich in Schachteln verpackte Ampullen zur Verfügung gestanden.

Der Mann im Nebenraum öffnete Schranktüren, suchte ganz offensichtlich nach irgend etwas.

«Könnte es außer hier bei Ihnen sonst noch irgendwo auf der Welt etwas von diesem mutierten Stamm geben? Ich meine, hat die Firma mal was davon abgegeben?«erkundigte ich mich.

Die Lippen spitzten sich, die Augenbrauen gingen nach oben.

«Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Mr. Livingston. Er sah durch die Glasscheiben und winkte dem Mann nebenan zu.

«Da müßten Sie Barry Shummuck fragen. Der weiß das vielleicht. Mutierte Stämme sind sein Fach.«

Shummuck, Shummuck… den Namen kenne ich doch, dachte ich. Ich… großer Gott!

Der Schock traf mich wie ein Blitz und nahm mir fast den Atem. Ich kannte in der Tat jemanden nur allzu gut, dessen richtiger Name Shummuck war.

Ich schluckte und mich fröstelte.»Erzählen Sie mir mehr von Ihrem Mr. Shummuck«, sagte ich.

Livingston war der geborene Plauderer und sah auch nichts Verkehrtes darin. Er zuckte die Achseln.»Er hat sich hocharbeiten müssen. Die Ochsentour. Man hört ihm das auch noch an. War ziemlich verbiestert. Die Welt schuldete ihm etwas, so in der Art. Hinweise auf Studentendemos. Seit neuestem ist er ruhiger geworden. Und was seine Arbeit angeht, da ist er gut.«

«Sie mögen ihn nicht, wie?«fragte ich.

Er fuhr erschrocken hoch.»Das habe ich nicht gesagt.«

Wohl aber sein Gesicht und seine Stimme. Ich fragte aber nur:»Was hat er für einen Akzent?«

«Nördlich, würde ich sagen. Ich weiß es nicht genau. Wieso?«

Barry Shummuck sah niemandem ähnlich, den ich kannte. Ich fragte langsam:»Wissen Sie, ob er… einen Bruder hat?«

Livingstons Gesicht nahm einen überraschten Ausdruck an.

«Ja doch, hat er. Komische Geschichte, der ist Buchmacher. «Er dachte nach.»Sein Name… irgendwas wie Terry. Nein, nicht Terry… Trevor heißt er. Sie kommen manchmal zusammen her, die beiden. ein Herz und eine Seele.«

Barry Shummuck gab seine Suchaktion auf und wandte sich zur Tür.

«Würden Sie gern seine Bekanntschaft machen?«fragte Mr. Livingston.

Ich schüttelte — sprachlos — den Kopf. In einem Gebäude voller virulenter Krankheitserreger, mit denen er umzuge-hen verstand und ich nicht, dem Bruder von Trevor Deansgate vorgestellt zu werden, war das letzte, was ich wollte.

Shummuck trat durch die Tür hinaus auf den Korridor mit den gläsernen Wänden und wandte sich in unsere Richtung.

O nein! dachte ich.

Er kam zielstrebig den Gang entlang und stieß die Tür des Labors auf, in dem wir standen. Steckte Kopf und Schultern herein.

«Morgen, Mr. Livingston«, rief er.»Haben Sie irgendwo meine Schachtel mit den Dias gesehen?«

Der Grundton seiner Stimme war der gleiche — selbstbewußt und ein klein wenig abweisend. Der Akzent Manchester, aber viel stärker. Ich verbarg den linken Arm halb hinter dem Rücken und wünschte inständig, daß er wieder gehen möge.

«Nein«, sagte Mr. Livingston mit einem Anflug von Freude.

«Aber Barry, haben Sie gerade.«

Livingston und ich standen vor einem Arbeitstisch, auf dem sich eine Reihe Metallständer und etliche leere Glasgefäße befanden. Ich drehte mich nach links, den Arm noch hinter dem Rücken, und warf mit der Rechten ungeschickt einen der Ständer und zwei Gläser um.

Das Klirren klang schlimmer, als es war. Livingstons Lippen spitzten sich zu einem überrascht-verärgerten Knabbern, dann stellte er die umgefallenen Gläser wieder auf. Ich griff nach dem metallenen Ständer, der recht schwer war und genügen mußte.

Ich drehte mich wieder der Tür zu.

Sie schloß sich gerade, und Barry Shummuck schritt mit wehendem Kittel durch den Flur davon.

Ich atmete langsam und zittrig durch die Nase aus und stellte den Ständer behutsam ans Ende der Reihe zurück.

«Er ist weg«, sagte Mr. Livingston.»Wie schade.«

Ich fuhr nach Newmarket und ins Equine Research Establishment zu Ken Armadale zurück.

Ich fragte mich, wie lange der geschwätzige Mr. Livingston wohl brauchen würde, um Barry Shummuck von dem Besuch eines Herrn namens Halley zu erzählen, der sich für Schweinerotlauf bei Pferden interessiert hatte.

Mir war ein bißchen übel — und das anhaltend.

«Er ist gegen alle gewöhnlichen Antibiotika resistent gemacht worden«, sagte Ken Armadale.»Saubere Arbeit.«

«Wie meinen Sie das?«

«Man kann doch nie sicher sein, daß das Pferd nicht sofort eine Spritze kriegt, wenn es erhöhte Temperatur hat, und wenn der Erreger dann von jedem x-beliebigen Antibiotikum abgetötet würde, könnte sich die Krankheit gar nicht erst entwickeln.«

Ich seufzte.»Und wie macht man ihn resistent?«

«Man verabreicht winzige Dosen von Antibiotika, bis er immun ist.«

«Das ist, technisch gesehen, recht schwierig, oder nicht?«

«Doch, ziemlich.«

«Haben Sie schon mal etwas von Barry Shummuck gehört?«

Er zog die Stirn in Falten.»Nein, ich glaube nicht.«

Die angstgepeinigte innere Stimme riet mir dringend, den Mund zu halten, abzuhauen, mich in Sicherheit zu bringen und wegzufliegen… nach Australien… in eine ferne Wüste.

«Gibt’s hier einen Kassettenrecorder?«fragte ich ihn.

«Ja. Ich benutze ihn, um meine Berichte auf Band zu sprechen, während ich am Operieren bin. «Er ging hinaus, holte ihn, stellte ihn auf seinen Schreibtisch und legte eine neue Kassette ein.

«Sprechen Sie einfach«, sagte er.»Er hat ein eingebautes Mikrophon.«

«Bleiben Sie bitte und hören Sie zu«, sagte ich.»Ich möchte… einen Zeugen haben.«

Er sah mich nachdenklich an.»Sie sehen recht mitgenommen aus… Kein leichtes Spiel, was Sie da treiben, wie?«

«Nicht immer.«

Ich stellte den Recorder an und gab zunächst — als Einleitung — meinen Namen, den Ort der Aufnahme und das Datum an. Dann schaltete ich ihn wieder ab und sah auf die Finger hinab, die ich brauchte, um die entsprechenden Tasten zu drücken.

«Was ist los, Sid?«fragte Ken.

Ich sah ihn an und senkte den Blick wieder.»Nichts.«

Ich mußte es tun, dachte ich. Ich mußte es unbedingt tun. Ich würde niemals wieder ins Lot kommen, wenn ich es nicht tat.

Wenn ich zu wählen hätte — und es schien mir, daß ich nun zu wählen hatte —, würde ich mich für seelische Intaktheit entscheiden und mit dem Preis abfinden müssen. Vielleicht konnte ich mit körperlich empfundener Angst fertig werden. Vielleicht konnte ich mit allem fertig werden, was meinem Körper widerfuhr, selbst mit völliger Hilflosigkeit. Niemals aber — und das sah ich endlich mit absoluter Klarheit — konnte ich damit fertig werden, daß ich mich selbst verachtete.

Ich drückte gleichzeitig auf» Start «und» Aufnahme«-und brach unwiderruflich das Versprechen, das ich Trevor Deansgate gegeben hatte.

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