Kapitel 6

Das wär’s dann wohl«, sagte Chico, als wir bei Bier und Shepherd’s Pie im» White Hart Hotel «saßen.»Fall abgeschlossen. Mrs. Caspar hat eine winzigkleine Meise, und niemand ist an George Caspars Tierchen rangekommen außer Caspar selbst.«

«Das wird sie gar nicht gern hören«, sagte ich.

«Sagst du’s ihr?«

«Auf der Stelle. Wenn ich sie überzeugen kann, beruhigt sie sich vielleicht wieder.«

Ich rief also bei den Caspars an und fragte nach Rosemary, wobei ich mich als Mr. Barnes ausgab. Sie kam an den Apparat und sagte in jenem fragenden Tonfall» Hallo«, mit dem man unbekannte Anrufer zu begrüßen pflegt.

«Mr. Barnes?«

«Sid Halley hier.«

Sie war augenblicklich beunruhigt.»Ich kann jetzt nicht mit Ihnen sprechen.«

«Können wir uns irgendwo treffen?«

«Natürlich nicht. Ich habe keinerlei Anlaß, nach London zu fahren.«

«Ich bin hier in der Stadt bei Ihnen um die Ecke«, sagte ich.»Ich habe Ihnen einiges zu erzählen. Und ich glaube ehrlich gesagt nicht, daß es diesmal irgendwelcher Verkleidungen oder so bedarf.«

«Man darf mich nicht mit Ihnen zusammen in Newmarket sehen.«

Sie war dann aber doch bereit, mit ihrem Auto loszufahren, unterwegs Chico aufzulesen und sich von ihm den Weg zeigen zu lassen. Dann suchten Chico und ich uns auf der Karte einen Ort aus, der auf Paranoiker eigentlich beruhigend wirken müßte — den Friedhof von Barton Mills, acht Meilen in Richtung Norwich gelegen.

Wir parkten die Wagen nebeneinander vor dem Friedhofstor, und Rosemary und ich spazierten zwischen den Gräbern auf und ab. Sie trug wieder ihren rehbraunen Regenmantel und ein Kopftuch, darunter aber keine Perücke. Der Wind blies ihr Strähnen ihres kastanienbraunen Haars ins Gesicht, und sie strich sie ungeduldig zurück — nicht ganz so angespannt wie an dem Abend, als sie in meine Wohnung gekommen war, aber doch mit größerer Heftigkeit, als nötig gewesen wäre.

Ich berichtete ihr, daß ich Tom Garvey und Henry Thrace aufgesucht hatte. Ich erzählte auch von meinem Gespräch mit Brothersmith. Sie hörte mir zu und schüttelte schließlich den Kopf.

«Die Pferde sind mit Drogen müde gemacht worden«, sagte sie stur.»Da bin ich mir sicher.«

«Und wie?«

«Das weiß ich nicht. «Ihre Stimme hob sich, wurde scharf, und die Erregung ließ die Muskeln um ihren Mund zucken.»Ich hab’s Ihnen doch gesagt. Ich hab Ihnen gesagt, daß sie sich an >Tri-Nitro< ranmachen werden. Noch eine Woche bis zu den Guineas. Sie müssen ihn in dieser einen Woche schützen.«

Wir gingen einen Weg zwischen stillen Grabstellen und verwitterten Steinen entlang. Das Gras war gemäht, aber nirgends waren Blumen oder trauernde Angehörige zu se-hen. Die Toten hier waren schon lange dahin und vergessen, der frische Schmerz und die Tränen dem neuen Städtischen Friedhof vor den Toren der Stadt vorbehalten — braune Erdhaufen, leuchtend bunte Gebinde und Trauer in ordentlichen Reihen.

«Aber George hat die Sicherheitsmaßnahmen für >Tri-Nitro< verdoppelt«, sagte ich.

«Das weiß ich. Kommen Sie mir doch nicht damit.«

Ich meinte zögernd:»Normalerweise wird er >Tri-Nitro< vor dem Rennen doch noch mal ordentlich rannehmen. Wahrscheinlich am Samstagmorgen.«

«Ja, wahrscheinlich. Wieso? Warum fragen Sie?«

«Na ja. «Ich hielt inne, fragte mich, ob es klug war, eine abenteuerliche Theorie zu äußern, die man nicht überprüft hatte, und kam zu dem Schluß, daß es so oder so keine Möglichkeit gab, sie zu überprüfen.

«Reden Sie weiter«, sagte sie scharf.»Was wollten Sie eben sagen?«

«Sie könnten vielleicht… äh… dafür sorgen, daß er zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen trifft, wenn das Pferd seine letzten Trainingsrunden absolviert. «Ich machte eine Pause und fuhr dann fort:»Den Sattel genau untersuchen… solche Sachen.«

Rosemary sagte heftig:»Was meinen Sie damit? Um Himmels willen, reden Sie schon und schleichen Sie nicht wie die Katze um den heißen Brei.«

«Viele Rennen sind schon verlorengegangen, weil das Abschlußtraining zu hart und zu kurz vor dem Rennen war.«

«Ja doch«, sagte sie ungeduldig.»Das weiß jeder. Aber so etwas würde George nie machen.«

«Und wenn der Sattel mit Blei vollgepackt wäre? Und ein Dreijähriger dann zu schärfstem Galopp angetrieben würde und dabei fünfzig Pfund totes Gewicht mitschleppen müßte? Und kurz darauf unter größtem Druck bei den Guineas starten und sein Herz überanstrengen würde?«

«Großer Gott«, sagte sie. Und dann noch einmal:»Großer Gott!«

«Ich will damit nicht behaupten, daß so etwas bei >Glea-ner< oder >Zingaloo< passiert wäre, nur, daß die entfernte Möglichkeit besteht. Und wenn es etwas Derartiges wäre… dann müßte jemand vom Stall die Finger im Spiel haben.«

Sie zitterte jetzt wieder.

«Sie müssen unbedingt weitermachen«, sagte sie.»Bleiben Sie dran. Ich habe Ihnen auch Geld mitgebracht. «Sie steckte die Hand in die Tasche ihres Regenmantels und zog ein kleines, braunes Kuvert daraus hervor.»Es ist in bar. Ich kann Ihnen leider keinen Scheck geben.«

«Ich habe mir das doch noch gar nicht verdient«, sagte ich.

«Doch, doch, nehmen Sie’s nur. «Sie ließ nicht locker, und so nahm ich den Umschlag an mich und steckte ihn ungeöffnet ein.

«Lassen Sie mich doch mal mit George reden«, sagte ich.

«Nein, bloß nicht, er würde rasend werden. Ich werde das machen… ich meine, ich werde ihn warnen, was das Abschlußtraining betrifft. Er glaubt, ich spinne, aber wenn ich ihm lange genug damit in den Ohren liege, wird er es schon beachten. «Sie blickte auf die Uhr, und ihre Erregung wurde noch stärker.»Ich muß zurück. Ich habe gesagt, ich wollte einen Spaziergang machen. Das tue ich sonst nie. Ich muß nach Hause, sonst fangen sie noch an, sich über meine Abwesenheit zu wundern.«»Wer wundert sich?«

«George natürlich.«

«Weiß er immer genau, wo Sie gerade stecken?«

Wir lenkten unsere Schritte mit erhöhter Geschwindigkeit zum Tor zurück. Rosemary sah ganz so aus, als wolle sie jeden Augenblick zu laufen anfangen.

«Wir unterhalten uns viel miteinander, und er erkundigt sich immer, wo ich gewesen bin… Er ist keineswegs mißtrauisch… nein, das ist nur so eine alte Angewohnheit. Wir sind eben immer zusammen. Sie wissen ja selbst, wie es im Hause eines Rennpferdtrainers zugeht. Die Besitzer tauchen meist zu den unmöglichsten Zeiten auf, und deshalb ist es George lieb, wenn ich da bin.«

Wir erreichten unsere Autos. Sie verabschiedete sich unsicher und fuhr in großer Eile davon. Chico, der im Scimitar gewartet hatte, meinte:»Sehr still hier. Muß sogar den Geistern langweilig werden.«

Ich stieg ein und warf ihm Rosemarys Umschlag in den Schoß.

«Zähl das«, sagte ich und ließ den Motor an.»Sieh nach, wie unsere Geschäfte stehen.«

Er riß das Kuvert auf, zog ein säuberliches Bündel von Banknoten höheren Nennwerts heraus und befeuchtete sich die Finger.

«Mann!«sagte er, als er fertig war.»Sie muß durchgedreht sein.«

«Sie will, daß wir weitermachen.«

«Dann weißt du ja wohl auch, was das hier ist, Sid«, sagte er und wedelte mit dem Bündel Scheine.»Ein Köder, damit du Schuldgefühle kriegst und bei der Stange bleibst, wenn du hinschmeißen willst.«

«Jedenfalls funktioniert^.«:

Wir investierten ein wenig von Rosemarys Motivationshilfe in eine Übernachtung und einen Kneipenbummel durch Newmarket — Chico zog durch die Pubs, in denen die Stallburschen verkehrten, und ich durch die, die von den Trainern bevorzugt wurden. Es war Dienstagabend, und so ging es überall recht ruhig zu. Ich erfuhr nichts sonderlich Interessantes und trank mehr als genug Whisky — und Chico kam mit nicht viel mehr als einem Schluckauf zurück.

«Schon mal was von Inky Poole gehört?«fragte er.

«Ist das ein Schlager?«

«Nein, ein Arbeitsjockey. Und was ist ein Arbeitsjok-key? Ein Arbeitsjockey, Chico, mein Sohn, ist ein Jockey, der mit einem Pferd auf der Trainingsbahn arbeitet.«

«Du hast einen sitzen«, bemerkte ich.

«Ach was. Was ist ein Arbeitsjockey?«

«Das hast du gerade erklärt. Taugt zwar nicht für Rennen, ist aber daheim im Stall der beste Reiter.«

«Inky Poole«, sagte er,»ist Arbeitsjockey bei George Caspar. Inky Poole dreht auf der heimischen Bahn die scharfen Trainingsrunden mit >Tri-Nitro<. Hast du nicht gesagt, ich soll rausfinden, unter wem >Tri-Nitro< seine Trainingsarbeit absolviert?«

«Ja, das habe ich«, sagte ich.»Und du hast doch einen in der Krone.«

«Inky Poole, Inky Poole«, sagte er fröhlich.

«Hast du mit ihm gesprochen?«

«Nee, kenn ihn nich’. Paar von den Stallburschen ham’s mir erzählt. George Caspars Arbeitsjockey. Inky Poole.«

Ein Fernglas um den Hals gehängt, begab ich mich am nächsten Morgen um sieben Uhr dreißig nach Warren Hill, um mir dort die Lots bei der Morgenarbeit anzuse-hen. Es kam mir vor, als sei es schon lange her, daß ich selbst eine dieser auf dem Pferderücken kauernden Gestalten in Pullover und Kappe gewesen war — mit drei Pferden zum Ausmisten und Versorgen und einem Bett in der Gemeinschaftsunterkunft, wo in der Küche ewig regennasse Breeches auf einem Trockenständer hingen. Erfrorene Finger und zu selten ein Bad, die Ohren voller obszöner Worte und nie eine Möglichkeit, auch mal allein zu sein.

Als ich sechzehn war, hatte mir das alles ziemlichen Spaß gemacht, vor allem wegen der Pferde. Wunderschöne, herrliche Geschöpfe, deren Reaktionen und Instinkte sich von denen des Menschen unterschieden wie Öl von Wasser und sich auch dann nicht mit ihnen verbanden, wenn die beiden in Berührung kamen. Der Einblick in ihre Wahrnehmung und ihr Wesen war für mich wie der Blick durch eine sich öffnende Tür gewesen, wie eine kaum verstandene und nur halb gelernte Fremdsprache, deren vollkommene Beherrschung immer wieder auf entnervende Weise dadurch verhindert wurde, daß man nicht den richtigen Gehör- oder Geruchssinn, keine ausreichenden telepathischen Fähigkeiten hatte.

Das Gefühl des Einsseins mit dem Pferd, das ich manchmal in der Hitze eines Rennens verspürt hatte, war ihr Geschenk an ein unterlegenes Geschöpf und mein leidenschaftlicher Siegeswille vielleicht mein Geschenk an sie gewesen. Der Drang nach vorn, an die Spitze, war ihnen eingeboren — sie brauchten nichts anderes, als daß man ihnen zeigte, wohin und wann sie loslaufen mußten. Es ließe sich wohl mit einigem Recht sagen, daß ich — wie die meisten Jockeys, die Hindernisrennen reiten — den Pferden jenseits der Grenzen des menschlichen Verstandes geholfen, sie in ihrem ureigensten Wollen unterstützt hatte.

Ihr Geruch und ihr Anblick waren für mich das, was der Seewind für den Matrosen ist. Ich füllte meine Lungen und Augen und verspürte große Zufriedenheit.

Jedes Lot wurde bei der Morgenarbeit von seinem aufmerksamen Trainer begleitet und überwacht. Einige von ihnen kamen mit dem Auto, ein paar zu Pferd und einige auch zu Fuß. Ich sammelte eine ganze Menge Gutenmorgengrüße ein, und nicht wenige der lächelnden Gesichter schienen aufrichtig erfreut, mich zu sehen. Ein paar von den Trainern, die es nicht ganz so eilig hatten, blieben sogar kurz stehen, um ein paar Worte mit mir zu wechseln.

«Sid!«rief einer aus, für den ich Flachrennen geritten hatte, bevor sich mein Gewicht meiner Größe anpaßte.»Wir kriegen dich in letzter Zeit ja wirklich nur noch selten hier oben zu sehen, Sid.«

«Mein Schaden«, sagte ich lächelnd.

«Warum kommst du nicht her und reitest für mich raus? Wenn du das nächste Mal in der Gegend bist, dann ruf mich doch an, und wir vereinbaren was.«

«Ist das dein Ernst?«

«Selbstverständlich. Das heißt, wenn du willst.«

«Wahnsinnig gern.«

«Großartig! Also, nicht vergessen. «Er schlenderte winkend davon und schnauzte einen Burschen an, der sich seinen Unmut dadurch zugezogen hatte, daß er im Sattel hing wie eine aus der Fa9on geratene Qualle.»Wie, zum Teufel, soll dein Pferd bei der Sache bleiben, wenn du es nicht bist?«Der Junge saß ganze zwanzig Sekunden lang einigermaßen ordentlich im Sattel. Er würde wohl noch weit kommen — vom Bahnhof aus.

Am Mittwochmorgen wurde gemeinhin das volle Trainingsprogramm geritten, weshalb sich auch die übliche

Schar interessierter Zuschauer eingefunden hatte — Besitzer, Presseleute und etliche für Buchmacher tätige» Spione«. Ferngläser sprossen auf Gesichtern wie Zusatzaugen, Notizen wurden in persönlicher Kurzschrift aufs Papier geworfen. Mochte der Morgen auch kühl sein, die Saison lief langsam warm. Allerorten geschäftiges Treiben und der Eindruck von Zielstrebigkeit. Eine Industrie ließ ihre Muskeln spielen. Der bewährte Kreislauf von Geld, Gewinn und Steuereinnahmen unter dem weiten Himmel von Suffolk. Auch ich war noch Teil davon, wenn auch nicht mehr in der gleichen Funktion wie früher. Und Jenny hatte völlig recht — in einem Büro würde ich sofort eingehen.

«Morgen, Sid.«

Ich blickte mich um. Es war George Caspar, hoch zu Roß, die Augen auf ein Lot Pferde in der Ferne gerichtet, das aus seinem Stall in der Bury Road kam und nun am Rande der Grasflache dahintrottete.

«Morgen, George.«

«Sind Sie länger hier?«

«Nur ein oder zwei Nächte.«

«Sie hätten uns Bescheid sagen sollen. Bei uns ist immer ein Bett frei. Rufen Sie Rosemary an. «Seine Augen ruhten auf seinen Pferden — die Einladung war eine höfliche Geste und nicht dazu gedacht, angenommen zu werden. Rosemary, dachte ich, wäre in Ohnmacht gefallen, wenn sie das mitbekommen hätte.

«Ist >Tri-Nitro< bei dem Lot dort dabei?«erkundigte ich mich.

«Ja. Sechstes Pferd von vorn. «Er sah zu den interessierten Zuschauern hinüber.»Haben Sie Trevor Deansgate irgendwo gesehen? Er hat mir gesagt, er wollte heute morgen von London raufkommen. Wollte früh losfahren.«

Ich schüttelte den Kopf.»Hab ihn nirgends gesehen.«

«Zwei von dem Lot sind seine. Er wollte ihnen bei der Arbeit zusehen. «Er zuckte mit den Schultern.»Wenn er nicht bald da ist, verpaßt er’s eben.«

Ich mußte im stillen grinsen. Manche Trainer schoben die Trainingsarbeit so lange auf, bis der Besitzer eingetroffen war — nicht so George. Bei ihm standen die Besitzer an, um seiner Gunst und seiner Kommentare teilhaftig zu werden, und Trevor Deansgate war trotz all seiner Macht nur einer von vielen. Ich hob das Fernglas an die Augen und beobachtete, wie das Lot, vierzig Pferde stark, herankam und sich dann im Kreis bewegte, bis die Reihe an ihm war, auf die bergauf führende Bahn zu gehen. Die Pferde des Stalles, der vor George dran war, waren fast durch.

Der Jockey, der >Tri-Nitro< ritt, trug einen roten Schal im Halsausschnitt seiner olivgrünen, wattierten Jacke. Ich nahm das Glas herunter, sah ihm zu, wie er im Kreise ritt, und betrachtete sein Pferd so neugierig wie alle anderen auch. Ein vorzüglich aussehender Brauner, gut gebaut, mit kräftigen Schultern und viel Brustraum — aber andererseits war nichts an ihm, was einen mit der Nase darauf gestoßen hätte, daß man hier den hoch gewetteten Winterfavoriten für die Guineas und das Derby vor sich hatte. Wenn man es nicht gewußt hätte, hätte man’s nicht wissen können, wie es so schön heißt.

«Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein paar Fotos mache, George?«fragte ich.

«Aber ganz und gar nicht, Sid.«

«Danke.«

Ich ging neuerdings nur noch selten ohne Kamera in der Tasche irgendwohin: 16 Millimeter, automatische Belichtungsmessung, ein sündhaft teures Objektiv. Ich zog sie heraus, zeigte sie ihm, und er nickte.»Nur zu.«

Er setzte sein geduldiges Pferd in Bewegung und ritt davon, hinüber zu seinem Lot, um mit der Morgenarbeit zu beginnen. Der Jockey, der ein Pferd vom Stall hier heraus ritt, war nicht unbedingt auch der, der dann die Galopparbeit übernahm, und wie immer kam es zu einer ganzen Reihe von Pferdewechseln, bis endlich die besten Reiter auf den Pferden saßen, auf die es ankam. Der Junge mit dem roten Schal sprang aus dem Sattel von >Tri-Nitro< und hielt den Hengst, bis ein sehr viel älterer Jockey aufgesessen war.

Ich ging näher an das Lot heran und machte drei oder vier Fotos von dem Wunderpferd und ein paar Nahaufnahmen von seinem Reiter.

«Inky Poole?«fragte ich, als er dicht an mir vorbeigeritten kam.

«Ja. Vorsicht, Hintermann. Sie stehen im Weg.«

Ein unübersehbarer Anflug von Bärbeißigkeit. Wenn er mich vorhin nicht mit George hätte sprechen sehen, hätte er sich meine Anwesenheit wahrscheinlich gleich ganz verbeten. Ich fragte mich, ob sein Groll auf die ganze Welt die Ursache oder die Folge des Umstandes war, daß er in seiner Jockey karri ere nicht weiterkam, und empfand im Grunde Mitleid mit ihm.

George fing an, das Lot in kleinere Gruppen aufzuteilen, die dann nacheinander auf die Strecke gehen sollten, und ich zog mich wieder auf meinen Beobachtungsposten am Rande des Geschehens zurück.

Ein Auto kam mit hoher Geschwindigkeit angefahren und hielt mit einem plötzlichen Ruck, was einige der Pferde in Unruhe versetzte und kurz scheuen ließ, während sich die Stimmen der Reiter zu lauten Warnungen und Protesten erhoben.

Trevor Deansgate entstieg seinem Jaguar und knallte, um das Maß voll zu machen, den Wagenschlag zu. Er war im

Straßenanzug, hob sich deutlich von allen anderen ab und sah eher so aus, als sei er auf dem Wege zu einer Vorstandssitzung. Schwarzes, streng zurückgekämmtes Haar, glattrasiertes Kinn, blitzblank geputzte Schuhe. Nicht der Typ von Mann, dessen Freundschaft ich gesucht hätte, schon weil ich es nicht sonderlich schätzte, den Mächtigen zu Füßen zu sitzen und mit nervösem Lachen die Brosamen ihrer Gunst aufzusammeln. Aber er war nun mal, was den Rennsport anbetraf, eine Macht, mit der man rechnen mußte.

Die großen Buchmacher konnten einen sehr positiven Einfluß ausüben und taten das oft auch — eine Haltung, dachte ich zynisch, die sie gezwungenermaßen einnahmen, um ihr Überleben gegen eine Lobby zu sichern, die wußte, daß ein Totomonopol (und ein weniger rauhes Steuerklima) dem Rennsport zurückgäbe, was die Buchmacher herausholten. Trevor Deansgate verkörperte den neuen Typ: urban und ein Mann von Welt, suchte er die Gesellschaft der Großen, wurde der City allmählich ein Begriff und war der Grafen ergebenster Diener.

«Hallo«, rief er, als er mich sah.»Wir haben uns doch in Kempton kennengelernt… Wissen Sie zufällig, wo die Pferde von George sind?«

«Da, genau vor Ihnen«, sagte ich und zeigte auf sie.»Sie kommen gerade noch rechtzeitig.«

«Verdammter Verkehr.«

Er schritt, ein Fernglas am Handgelenk, über das Gras zu George hinüber, der ihn kurz begrüßte und ihm offensichtlich empfahl, sich mit mir zusammen den Trainingsgalopp anzusehen, denn Trevor kehrte unverzüglich zurück, um sich gewichtig und voller Selbstvertrauen neben mir aufzubauen.

«George sagt, meine seien beide in der ersten Gruppe. Er meinte, Sie würden mir sagen, wie sie sich schlagen, der unverschämte Kerl. Hab ich etwa keine Augen im Kopf? Er reitet ein Stück weiter rauf.«

Ich nickte. Trainer stellten sich gern auf halber Strecke auf, weil sie dort einen besseren Eindruck von der Leistung ihrer vorbeigaloppierenden Pferde gewinnen konnten.

Vor uns schwenkten vier Pferde langsam in die Startposition ein. Trevor Deansgate hob das Glas vor die Augen und stellte es scharf. Marineblaues Tuch mit feinem rotem Nadelstreifen. Gepflegte Hände, goldene Manschettenknöpfe, Onyxring, alles wie gehabt.

«Welches sind Ihre?«fragte ich.

«Die beiden Füchse. Der weißbestrumpfte ist >Pinafore<. Der andere ist eine Lusche.«

«Die Lusche «hatte kurze, kräftige Gliedmaßen und einen rundlichen Rumpf. Könnte mal ein brauchbares Jagdpferd abgeben, dachte ich. Mir gefiel sein Anblick jedenfalls sehr viel besser als der von >Pinafore<, der eher wie ein Whippet aussah. Auf ein Zeichen von George hin starteten die vier Pferde und zeigten bis hinauf ins Ziel, daß sie Sprinterblut in den Adern hatten. >Pinafore< gewann mit Leichtigkeit, und die Lusche wurde dem Urteil ihres Besitzers gerecht. Trevor Deansgate ließ mit einem Seufzer das Glas sinken.

«Das wär’s denn wohl. Kommen Sie auch zum Frühstück zu George?«

«Nein, heute nicht.«

Er hob das Glas erneut vor die Augen und richtete es nun auf das weitaus nähere, sich im Kreise bewegende Lot. Nach dem Winkel zu urteilen, besah er sich nicht die Pferde, sondern die Reiter. Die Suche endete bei Inky Poole — dann nahm er das Glas herunter und folgte >Tri-Nitro< mit bloßem Auge.

«Heute in einer Woche«, sagte ich.

«Ein Prachtkerl.«

Ich nahm an, daß er — wie alle Buchmacher — nur zu glücklich sein würde, wenn der heiße Favorit der Guineas verlöre, aber in seiner Stimme lag nichts als die Bewunderung für ein großes Pferd. >Tri-Nitro< trottete jetzt zum Start, und als George das Zeichen gab, stob er zusammen mit zwei Begleitpferden in beeindruckendem Tempo davon. Ich stellte mit Interesse fest, daß Inky so ruhig wie die Geduld selbst im Sattel saß und mit einer Könnerschaft ritt, die zehnmal mehr wert war als das, was er aller Wahrscheinlichkeit nach bezahlt bekam. Gute Arbeitsjockeys wurden stets unter Wert entlohnt — und das, obwohl schlechte ein Pferd im Maul verderben, sein Temperament und seine gesamte Karriere ruinieren konnten. Es war schon verständlich, daß sich George bei dem, was er im Stall stehen hatte, nur die besten holte.

Das Entscheidende war nicht der scharfe Galopp in vollem Tempo, der am kommenden Samstagmorgen auf einer langen, ebenen Fläche wie etwa den Limekilns geritten werden würde. Ein schneller Kanter die Steigung des Warren Hill hinauf reichte als Test völlig aus. >Tri-Nitro< bewältigte die Strecke ohne die geringsten Anzeichen von Anstrengung und erreichte die Kuppe, als könne er noch sechsmal hinaufgehen, ohne es zu merken.

Sehr eindrucksvoll, dachte ich. Die Presseleute waren ganz eindeutig der gleichen Meinung und kritzelten ihre Notizblöcke voll. Trevor Deansgate blickte mit einiger Berechtigung nachdenklich drein, während George Caspar, der den Hügel herabgeritten kam und neben uns stehenblieb, fast schon unverschämt zufrieden aussah. Man gewann den Eindruck, daß die Guineas für ihn schon gelaufen war.

Die Pferde kehrten nach getaner Arbeit vom Hügel zu dem noch immer im Kreis bewegten Lot zurück, wo die Arbeitsjockeys auf frische Tiere aufsaßen, um auch mit ihnen den Trainingslauf zu absolvieren. >Tri-Nitro< bekam den Jungen mit der olivgrünen Jacke und dem roten Halstuch wieder, und schließlich kehrten alle zum Stall zurück.

«Das wär’s für heute«, sagte George.»Alles klar, Trevor? Frühstück?«

Sie nickten mir zum Abschied zu und machten sich auf den Weg, der eine im Auto und der andere zu Pferd. Ich dagegen hatte nur Augen für Inky Poole, der die Trainingsstrecke viermal geritten war und nun mürrisch zu seinem geparkten Wagen strebte. Ich ging ihm nach und sagte:»Also der Ritt mit >Tri-Nitro<… ganz hervorragend, Inky.«

Er blickte mich säuerlich an:»Ich hab Ihnen nichts zu sagen.«

«Ich bin nicht von der Presse.«

«Ich weiß, wer Sie sind. Hab Sie bei Rennen gesehen. Ließ sich ja auch kaum vermeiden. «Das war in unfreundlichem, fast höhnischem Ton gesagt.»Was wollen Sie?«

«Wie ist >Tri-Nitro<, wenn Sie ihn mit >Gleaner< vor einem Jahr vergleichen?«

Er angelte die Autoschlüssel aus der mit einem Reißverschluß versehenen Brusttasche seines Anoraks und steckte einen ins Türschloß. Was ich von seinem Gesicht sehen konnte, ließ keine Bereitschaft zur Kooperation erkennen.

«Hat Ihnen >Gleaner< eine Woche vor den Guineas einen vergleichbaren Eindruck vermittelt?«fragte ich erneut.

«Mit Ihnen rede ich nicht.«

«Und was ist mit >ZingalooBethesda

Er öffnete die Autotür und schob sich auf den Fahrersitz, wobei er sich die Zeit ließ, mir einen feindseligen Blick zuzuwerfen.

«Verpiß dich!«knurrte er, knallte die Wagentür zu, stieß den Zündschlüssel ins Schloß und brauste davon.

Chico war zum Frühstück aufgestanden, saß jedoch im Speisezimmer des Pubs und hielt sich den Kopf.

«Schau bloß nicht so verdammt gesund drein«, sagte er, als ich mich zu ihm setzte.

«Eier mit Speck«, sagte ich.»Das nehm ich. Oder vielleicht auch Kipper. Und Erdbeermarmelade.«

Er stöhnte.

«Ich muß nach London zurück«, erklärte ich dann.»Würde es dir was ausmachen, noch hier zu bleiben?«Ich zog die Kamera aus der Tasche.»Nimm den Film raus und laß ihn entwickeln. Wenn’s irgend geht, bis morgen. Da sind ein paar Bilder mit >Tri-Nitro< und Inky Poole drauf. Die könnten vielleicht mal von Nutzen sein, man kann nie wissen.«

«Okay«, sagte er.»Aber du mußt meine Penne anrufen und Bescheid sagen, daß mein schwarzer Gürtel in der Reinigung ist.«

Ich lachte.»Bei George Caspars Lot waren heute morgen übrigens auch ein paar Mädchen dabei. Sieh mal zu, was sich da machen läßt.«

«Das gehört nicht zum Bereich meiner Pflichten«, wandte er ein, aber sein Blick schien plötzlich viel klarer geworden zu sein.

«Und wofür interessiere ich mich?«

«Zum Beispiel, wer >Tri-Nitro< für die Trainingsarbeit aufsattelt und was für ein Programm von heute bis nächsten Mittwoch vorgesehen ist und ob sich sonst irgendwas Übles tut.«

«Was ist mit dir?«

«Ich bin am Freitagabend wieder da«, antwortete ich.»Rechtzeitig zum Abschlußtraining am Sonnabend. Sie nehmen da bestimmt auch >Tri-Nitro< noch mal ordentlich ran, um ihn in Topform zu bringen.«

«Glaubst du wirklich, daß da ein krummes Ding läuft?«wollte er wissen.

«Wirf ’ne Münze. Ich weiß es nicht. Ich rufe besser mal Rosemary an.«

Ich gab mich wieder als Mr. Barnes aus, und Rosemary kam an den Apparat, erregt wie immer.

«Ich kann jetzt nicht sprechen. Wir haben Leute zum Frühstück da.«

«Hören Sie, nur ganz kurz«, sagte ich.»Versuchen Sie, George dazu zu überreden, das Programm für das Abschlußtraining von >Tri-Nitro< am Samstag abzuändern. Beispielsweise einen anderen Jockey zu nehmen. Nicht Inky Poole.«

«Sie glauben doch nicht…«Ihre Stimme kippte über und brach ab.

«Ich glaube gar nichts«, sagte ich.»Aber wenn George das gewohnte Schema ändert, verringert das die Wahrscheinlichkeit, daß manipuliert wird. Routine ist der Busenfreund des Gangsters.«

«Was? Ach so. Also gut, ich werd’s versuchen. Und was machen Sie?«

«Ich werde zum Abschlußtraining da sein. Und dann bleibe ich in der Nähe, bis die 2000 Guineas gelaufen ist. Aber ich wollte, Sie ließen mich mal mit George reden.«

«Nein. Er würde fuchsteufelswild werden. Ich muß

Schluß machen. «Der Hörer wurde mit einem klappernden Geräusch aufgelegt, das auf nach wie vor zitternde Hände schließen ließ, und ich fürchtete, George könnte doch recht damit haben, daß seine Frau neurotisch sei.

Charles und ich trafen uns am nächsten Tag wie gewohnt im» Cavendish Hotel «und saßen in der Bar im ersten Stock.

«So glücklich«, sagte er,»habe ich dich nicht mehr gesehen, seit…«Er deutete mit dem Glas auf meinen Arm.»Du wirkst irgendwie befreiter. Nicht so stoisch verschlossen wie früher.«

«Ich war in Newmarket«, sagte ich.»Habe mir gestern die Morgenarbeit angesehen.«

«Ich hätte gedacht. «Er verstummte.

«Daß mich die Eifersucht verzehrt?«sagte ich.»Schon möglich, aber ich hab’s trotzdem genossen.«

«Gut.«

«Ich fahre morgen abend wieder rauf und bleibe bis nach den Guineas am nächsten Mittwoch.«

«Und unser Lunch am Donnerstag?«

Ich lächelte und holte ihm einen großen Pink Gin.»Bis dahin bin ich zurück.«

Wir aßen dann Muscheln mit Wein-Käse-Sauce, und er berichtete mir das Neueste von Jenny.

«Oliver Quayle hat mir die Adresse geschickt, um die du gebeten hast. Die von der Wachsfirma. «Er zog einen Zettel aus seiner Brusttasche und reichte ihn mir.»Oliver macht sich Sorgen. Er sagt, die Polizei setze ihre Ermittlungen fort, und Jenny könne so gut wie sicher mit einer Anklage rechnen.«

«Wann?«»Das weiß ich nicht. Oliver auch nicht. Manchmal brauchen diese Dinge Wochen, manchmal aber auch nicht. Und wenn Klage erhoben würde, sagt Oliver, würde sie vor einem Magistratsgericht erscheinen müssen, das den Fall dann mit Sicherheit an den Crown Court abgeben werde, weil es um so hohe Beträge geht. Aber sie würden sie natürlich gegen Kaution auf freien Fuß setzen.«

«Kaution!«

«Oliver meint, daß sie leider mit einer Verurteilung rechnen müsse; aber wenn die Tatsache hervorgehoben würde, daß sie unter dem Einfluß von Nicholas Ashe so gehandelt habe, wie es nun mal der Fall war, werde der Richter ihr wahrscheinlich sein Mitgefühl nicht versagen und die Strafe zur Bewährung aussetzen.«

«Selbst wenn Ashe nicht gefunden wird?«

«Ja. Natürlich würde Jenny mit etwas Glück der Strafe ganz entgehen, wenn er gefunden, vor Gericht gestellt und verurteilt würde.«

Ich holte so tief Luft, daß es wie ein Seufzer klang.

«Dann müssen wir ihn eben finden, nicht wahr?«sagte ich.

«Aber wie?«

«Tja… ich habe fast den ganzen Montag und den heutigen Vormittag damit zugebracht, einen großen Karton voller Briefe durchzusehen. Von Leuten, die Geld geschickt und Wachs bestellt haben. Achtzehnhundert Stück, so in etwa.«

«Und inwiefern hilft uns das?«

«Ich habe angefangen, sie alphabetisch zu ordnen und eine Liste zu machen. «Er runzelte skeptisch die Stirn, aber ich fuhr fort:»Das Interessante daran ist, daß alle Namen mit L, M, N und O anfangen. Keiner von A bis K oder von P bis Z dabei.«»Ich verstehe nicht ganz…«

«Sie könnten Teil einer Adressenliste sein«, sagte ich.»Zum Beispiel von einer Versandfirma. Oder sogar von einer wohltätigen Vereinigung. Es muß Tausende von Adressenlisten geben, aber die hier hatte zweifellos den gewünschten Erfolg, das heißt, es war beispielsweise keine Liste von Leuten, die wegen schuldig gebliebener Hundesteuer gemahnt werden sollten.«

«Klingt plausibel«, sagte er trocken.

«Ich dachte mir, ich ordne die Briefe mal und stelle dann fest, ob vielleicht jemand wie Christie’s oder Sotheby’s — es geht schließlich um Politur für antikes Mobiliar — eine Adressenliste hat, die mit meiner übereinstimmt. Nur eine vage Vermutung, ich weiß, aber es könnte ja sein.«

«Ich könnte dir dabei helfen«, sagte er.

«Ist aber ein sehr langweiliger Job.«

«Sie ist meine Tochter.«

«Also gut, mir wär's schon recht.«

Ich aß meine Muscheln auf, lehnte mich im Stuhl zurück und trank einen Schluck von Charles’ hervorragendem, kaltem Weißwein.

Er sagte, er wolle in seinem Club übernachten und dann morgen in meine Wohnung kommen, um mir beim Sortieren der Briefe zu helfen, und ich gab ihm meinen Ersatzschlüssel, damit er hineinkonnte, falls ich gerade eine Zeitung oder Zigaretten holen war. Er zündete sich eine Zigarre an und betrachtete mich durch den Rauch.»Was hat Jenny gesagt, als sie dir am Sonntag nach dem Essen nach oben gefolgt ist?«

Ich sah ihn kurz an.»Nichts von Bedeutung.«

«Sie war danach den ganzen Tag schlechter Laune. Hat sogar Toby angefaucht. «Er lächelte.»Toby beschwerte sich, und da hat sie gesagt: >Sid hat wenigstens nicht ge-winselt.<«Er machte eine Pause. Dann sagte er:»Ich hatte so den Eindruck, daß sie dir besonders hart zugesetzt hatte und sich dann schuldig fühlte.«

«Das waren bestimmt keine Schuldgefühle. Wenn’s hoch kommt, waren es Bedenken wegen Ashe.«

«Und die wären ihr nicht gerade verfrüht gekommen.«

Vom» Cavendish «begab ich mich zur Hauptgeschäftsstelle des Jockey Club am Portman Square, um mich dort, wie am Morgen telefonisch vereinbart, mit Lucas Wainwright zu treffen. Sein Auftrag für mich mochte zwar inoffiziell sein, war aber immerhin so offiziell, daß er mich in sein Büro bitten konnte. Es stellte sich dann aber heraus, daß Ex-Superintendent Eddy Keith wegen eines positiven Dopingtests nach Yorkshire gefahren und sonst niemand im Hause war, der sich vielleicht über meinen Besuch gewundert hätte.

«Ich habe alle Unterlagen, die Sie benötigen«, sagte Lucas Wainwright.»Eddys Berichte über die Syndikate und ein paar Informationen über die Ganoven, denen er grünes Licht gegeben hat.«

«Dann will ich mich mal gleich dransetzen«, sagte ich.»Kann ich die Sachen mitnehmen, oder wäre es Ihnen lieber, wenn ich sie mir hier ansähe?«

«Mir wär's lieber, wenn Sie’s hier täten«, gestand er.»Ich möchte die Sachen nicht aus dem Haus geben oder fotokopieren lassen und so die Aufmerksamkeit meiner Sekretärin darauf lenken, denn sie arbeitet auch für Eddy, und ich weiß, daß sie ihn anhimmelt. Sie würde es ihm erzählen. Notieren Sie sich lieber hier, was Sie für wichtig halten.«

«In Ordnung«, sagte ich.

Ich bekam einen Tisch an der Seitenwand seines Büros, einen bequemen Stuhl und eine helle Lampe und verbrachte etwa eine Stunde mit Lesen und Notizenmachen. Er kramte derweil an seinem Schreibtisch ziellos in Akten herum, schob Stifte hin und her und raschelte mit Papier, konnte am Ende aber doch nicht verbergen, daß seine ganze Geschäftigkeit nur vorgetäuscht war. Er wartete nicht so sehr darauf, daß ich endlich fertig würde, sondern fühlte sich anscheinend ganz allgemein unwohl in seiner Haut. Ich blickte von meinen Papieren auf und fragte:»Was ist denn los?«

«Was… wie los?«

«Irgendwas beunruhigt Sie.«

Er zögerte.»Haben Sie alles geschafft, was Sie schaffen wollten?«Er nickte in Richtung meiner Arbeit.

«Knapp die Hälfte«, sagte ich.»Können Sie mir noch eine Stunde geben?«

«Ja, schon… hören Sie, ich will Ihnen gegenüber offen sein. Es gibt da etwas, das Sie wissen sollten.«

«Und das wäre?«

Lucas, der es normalerweise auch dann nicht an Gewandtheit fehlen ließ, wenn er in Eile war, und dessen von der Marine geprägte Denkgewohnheiten mir dank meines Admiralsschwiegervaters einigermaßen vertraut waren, zeigte ganz eindeutig Anzeichen von Verlegenheit. Was aber Marineoffiziere in akute Verlegenheit stürzte, waren Vorkommnisse wie Kollisionen zwischen Kriegsschiffen und Kaimauern, Besuche von Damen in der Mannschaftsmesse, wenn die Mannschaft anwesend und in entspannter Freizeitstimmung war, und unehrenhaftes Verhalten eines Gentleman. Die beiden ersten schieden aus — hatte es demnach irgend etwas mit dem dritten zu tun?

«Ich habe Sie vielleicht nicht mit allen Tatsachen vertraut gemacht«, sagte er schließlich.

«Dann holen Sie es doch bitte nach.«

«Ich habe schon vor einiger Zeit jemand anders auf die Überprüfung von zweien dieser Syndikate angesetzt. Vor sechs Monaten. «Er spielte mit ein paar Büroklammern herum, sah nicht mehr in meine Richtung.»Noch bevor Eddy sie überprüft hat.«

«Und mit welchem Ergebnis?«

«Ah, ja. «Er räusperte sich.»Der Mann… sein Name ist Mason… wir haben seinen Bericht nie bekommen, weil er auf offener Straße angegriffen wurde, bevor er ihn schreiben konnte.«

Auf der Straße angegriffen.»Was für eine Art von Angriff war das denn?«fragte ich.»Und wer hat ihn angegriffen?«

Er schüttelte den Kopf.»Niemand weiß, wer es gewesen ist. Er wurde von einem Passanten auf dem Gehweg gefunden, und der hat die Polizei verständigt.«

«Hm… Haben Sie ihn befragt, diesen Mason?«Aber ich erriet schon wenn nicht die ganze, so doch einen Teil der Antwort.

«Er hat sich, äh, nie so richtig davon erholt«, sagte Lucas bekümmert.»Man hatte ihm allem Anschein nach mehrfach gegen den Kopf getreten. Und in den Leib. Er hat schwere Gehirnverletzungen davongetragen. Er liegt noch immer in einem Pflegeheim, wird da wohl auch bleiben müssen. Er vegetiert nur noch… und ist blind.«

Ich biß auf das Ende des Bleistifts, mit dem ich mir Notizen gemacht hatte.»Ist er beraubt worden?«fragte ich dann.

«Seine Brieftasche fehlte. Seine Uhr aber nicht.«

«Es könnte also ein einfacher Raubüberfall gewesen sein?«»Ja… nur daß die Polizei es als versuchten Mord ansieht. Weil er so oft und so gezielt getreten wurde.«

Er lehnte sich im Stuhl zurück, als sei er von einer schweren Last befreit. Ehrenhaftes Verhalten unter Gentlemen. der Ehre war Genüge getan.

«Na schön«, sagte ich.»Welche beiden Syndikate hat er überprüft?«

«Die ersten beiden, die Sie da vor sich liegen haben.«

«Glauben Sie denn, daß von den Mitgliedern, von den unerwünschten Personen, einige von der Sorte sind, die sich mit Fußtritten von Problemen befreit?«

«Das könnte schon sein«, antwortete er unglücklich.

«Und gehe ich nun«, fragte ich vorsichtig,»der möglichen Bestechlichkeit von Eddy Keith oder dem halben Mord an Mason nach?«

Nach einer kurzen Pause antwortete er:»Vielleicht bei-dem.«

Wir schwiegen lange. Schließlich sagte ich:»Es ist Ihnen doch klar, daß Sie dadurch, daß Sie mir beim Rennen Nachrichten zugeschickt, sich mit mir im Restaurant getroffen und mich nun hierher gebeten haben, kaum jemand im Zweifel darüber gelassen haben, daß ich für Sie arbeite?«

«Aber das könnte doch alles mögliche sein.«

Ich erwiderte düster:»Nicht mehr, wenn ich erst bei den Syndikaten vor der Tür stehe.«

«Ich hätte vollstes Verständnis dafür«, sagte er,»wenn Sie es angesichts dessen, was ich Ihnen gerade mitgeteilt habe, vorzögen… äh…«

Ich auch, dachte ich. Ich hätte Verständnis dafür, wenn mir nicht daran gelegen wäre, den Schädel eingetreten zu bekommen. Aber es stimmte ebenfalls, was ich zu Jenny gesagt hatte — man glaubte nicht, daß es einem selbst auch passieren könnte. Und das ist immer ein Irrtum, hatte sie geantwortet.

Ich seufzte.»Sie erzählen mir besser noch ein bißchen was von Mason. Wo er hinging und mit wem er sich traf. Alles, was Ihnen dazu einfällt.«

«Das ist praktisch gar nichts. Er ist ganz normal von hier weggegangen, und das nächste, was wir von ihm hörten, war, daß er überfallen worden war. Die Polizei konnte nicht ermitteln, wo er gewesen war, und die Leute von den Syndikaten schworen Stein und Bein, ihn nie gesehen zu haben. Der Fall ist natürlich noch nicht abgeschlossen, aber nach sechs Monaten hat er keinerlei Priorität mehr.«

Wir unterhielten uns noch eine Weile darüber, und dann verbrachte ich noch eine Stunde mit dem Aktenstudium. Ich verließ das Gebäude des Jockey Club um viertel vor sechs und wollte in meine Wohnung fahren — aber dort kam ich nie an.

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