Kapitel 1

Ich nahm die Batterie aus meinem Arm, steckte sie in das Aufladegerät und merkte erst zehn Sekunden später, daß ich es getan hatte, als sich nämlich meine Finger nicht mehr bewegten.

Sehr seltsam, dachte ich. Das Wiederaufladen der Batterie und die damit verbundenen Handgriffe waren mir derart in Fleisch und Blut übergegangen, daß ich das alles schon ganz automatisch und ohne Einschaltung meines Willens erledigte, etwa so, wie man sich die Zähne putzt. Mir wurde zum ersten Mal bewußt, daß sich mein Unterbewußtsein — jedenfalls wenn ich wach war — endlich mit der Tatsache abgefunden hatte, daß meine linke Hand nicht mehr aus Muskeln, Knochen und Blut bestand, sondern aus Metall und Plastik.

Ich nahm den Schlips ab und warf ihn achtlos auf mein Jackett, das über der Armlehne des Ledersofas hing, streckte mich, seufzte erleichtert, weil ich endlich wieder zu Hause war, lauschte der vertrauten Stille meiner Wohnung und verspürte einmal mehr, wie der mich umfangende Friede all die kräftezehrenden Anspannungen der Außenwelt löste. Meine Wohnung war in meinen Augen eher so etwas wie ein Ort der Zuflucht als ein richtiges Zuhause. Komfortabel, gewiß — aber nicht mit Ruhe, Zeit und Liebe eingerichtet. Das hatte ich an einem Nachmittag und in nur einem Geschäft getan, energisch und sachlich:»Ich nehme das… das… das… und das… Liefern Sie die

Sachen bitte so schnell wie möglich. «Das Mobiliar war mehr oder weniger ansprechend, aber ich besaß nun nichts mehr, dessen Verlust mich hätte schmerzen können, und wenn dies meinem Bedürfnis nach Selbstschutz entsprungen sein sollte, so war mir das wenigstens bewußt.

Ich wanderte zufrieden in Hemd und Socken umher, knipste die warmen Lichtkreise der Tischlampen an, sprach dem Fernseher mit einem geübten Faustschlag Mut zu, schenkte mir einen beruhigenden Scotch ein und beschloß, den Abwasch des Vortages stehenzulassen. Ein Steak lag im Kühlschrank und Geld auf der Bank, was brauchte man noch mehr im Leben?

Seit neuestem tat ich die meisten Dinge nur noch mit einer Hand, weil es einfach schneller ging. Meine so geniale Kunsthand, in der Magnetspulen die aus dem Rest meines Unterarmes kommenden elektrischen Impulse in Bewegung übersetzten, ließ sich zwar — wie ein Schraubstock — fest schließen und auch wieder öffnen, dies aber nur mit einer ihr eigenen Geschwindigkeit. Gleichwohl sah diese Hand ganz wie eine echte aus, so sehr, daß Leute manchmal überhaupt nicht merkten, wie wenig sie es war. Sie hatte richtige Fingernägel und Erhebungen, die Sehnen und Knochen darstellten, und bläuliche Linien als Adern. Wenn ich allein war, benutzte ich sie immer seltener, wobei ich es aber immer noch angenehmer fand, wenn ich sie aufgesteckt hatte.

Ich gedachte, diesen Abend so zu verbringen wie viele andere zuvor, saß mit angezogenen Knien auf dem Sofa, ein klobiges Glas in der Hand und glücklich, mit Hilfe des kleinen Bildschirms ein Ersatzleben führen zu können. Ich war deshalb ein wenig irritiert, als es mitten in eine einigermaßen unterhaltsame Komödie hinein an der Wohnungstür klingelte.

Mehr zögernd als neugierig erhob ich mich, stellte das

Glas ab, suchte in meinen Jackentaschen nach der Ersatzbatterie, die ich dort hineingesteckt hatte, und drückte sie in den Sockel meiner Kunsthand. Dann ging ich, während ich die Manschette über das Plastikgelenk schob und zuknöpfte, hinaus in den kleinen Flur und spähte durch den Spion in der Wohnungstür.

Davor erwartete mich keine Unannehmlichkeit, es sei denn, diese hätte die Gestalt einer Dame mittleren Alters mit blauem Kopftuch angenommen. Ich öffnete und sagte höflich:»Guten Abend, Sie wünschen bitte?«

«Darf ich hereinkommen, Sid?«fragte sie.

Ich sah sie an. Meines Wissens kannte ich sie nicht. Aber andererseits gab es einen Haufen Leute, die ich nicht kannte und die mich trotzdem Sid nannten, was ich immer als Kompliment aufgefaßt hatte.

Unter dem Kopftuch schauten dichte, dunkle Locken hervor, getönte Brillengläser verbargen die Augen, und leuchtend roter Lippenstift lenkte alle Aufmerksamkeit auf ihren Mund. In ihrem Verhalten drückte sich Verlegenheit aus, und sie schien in ihrem weitgeschnittenen, braunen Regenmantel zu frösteln. Ich gewann den Eindruck, als erwarte sie noch immer, daß ich sie wiedererkennen würde, aber das tat ich erst, als sie sich ängstlich umschaute und mir dabei ihr Profil zeigte.

Selbst da war ich noch nicht ganz sicher und fragte vorsichtig:»Rosemary?«

«Hören Sie«, sagte sie und schob sich an mir vorbei, als ich die Tür ein wenig weiter öffnete,»ich muß unbedingt mit Ihnen reden.«

«Nun ja… dann kommen Sie halt herein.«

Während ich die Tür wieder schloß, blieb sie vor dem kleinen Spiegel stehen, der im Flur hing, und begann am Knoten des Kopftuchs zu nesteln.

«Du lieber Himmel, wie sehe ich bloß aus!«

Ich bemerkte, daß ihre Finger viel zu heftig zitterten, um ihn lösen zu können, und sie griff schließlich mit frustriertem Aufstöhnen nach hinten, packte den Zipfel des Tuches und zog es ruckartig nach vorne. Zusammen mit dem Kopftuch kam auch die ganze schwarze Lockenpracht herunter, und die sehr viel vertrautere kastanienbraune Haarfülle von Rosemary Caspar, die mich schon seit fünfzehn Jahren Sid nannte, zum Vorschein.

«Du lieber Himmel!«sagte sie noch einmal, steckte die Sonnenbrille in ihre Handtasche und zog ein Papiertaschentuch daraus hervor, um sich zunächst einmal das allerschlimmste Rot von den Lippen abzuwischen.»Ich mußte Sie unbedingt sprechen, ich mußte!«

Ich sah das Zittern ihrer Hände, hörte das Schwanken ihrer Stimme und dachte bei mir, daß ich eigentlich schon einer ganzen Menge Menschen in ebendiesem Zustand begegnet war, seit ich es mir zur Aufgabe gemacht hatte, mich mit den Problemen und Verhängnissen anderer zu befassen.

«Kommen Sie herein und trinken Sie was«, sagte ich, wohl wissend, daß sie dies ebenso brauchte wie erwartete, und beklagte dabei im stillen den ruinierten ruhigen Abend.»Whisky oder Gin?«

«Gin… Tonic… irgendwas.«

Ohne den Regenmantel abzulegen, folgte sie mir ins Wohnzimmer und ließ sich abrupt aufs Sofa fallen, als hätten ganz plötzlich ihre Beine unter ihr nachgegeben. Ich sah ihr kurz in die unruhigen Augen, stellte das Gelächter im Fernseher ab und schenkte ihr ein beruhigendes Quantum Seelentröster ein.

«Hier, bitte«, sagte ich und reichte ihr das Glas.»Was gibt’s denn für Probleme?«

«Probleme!«sagte sie mit einem Anflug von Entrüstung.

«Wenn das alles wäre!«

Ich holte mir mein eigenes Glas und setzte mich ihr gegenüber in einen Sessel.

«Ich habe Sie heute beim Rennen gesehen, von weitem«, sagte ich.»War das Problem da schon vorhanden?«

Sie nahm einen großen Schluck.»Ja, das kann man wohl sagen! Warum, glauben Sie, sollte ich sonst mit dieser schäbigen Perücke auf dem Kopf durch die Nacht schleichen und Ihre verdammte Wohnung suchen, wenn ich schon beim Rennen geradewegs auf Sie hätte zugehen können?«

«Nun. warum?«

«Weil der letzte Mensch, mit dem man mich auf einem Rennplatz oder sonstwo sprechen sehen darf, Sid Halley heißt.«

Vor langer Zeit war ich auch ein paarmal für ihren Mann geritten. In den Tagen, als ich noch Jockey gewesen war. Als ich noch leicht genug für Flachrennen gewesen war und mich noch nicht der Steeplechase zugewandt hatte. In den Tagen vor dem Erfolg und dem Ruhm, den Stürzen und der zerschmetterten Hand… und was nicht noch allem. Mit dem Ex-Jockey Sid Halley hätte sie an jedem Ort und zu jeder Zeit sprechen können. Aber zu dem Sid Halley, der sich vor kurzem zu einer Art Allzweck-Detektiv gewandelt hatte, war sie bei Dunkelheit und voller Furcht gekommen.

So um die Fünfundvierzig, vermutete ich — und es wurde mir jetzt erst bewußt, daß ich mir, obwohl ich sie schon seit Jahren mehr oder weniger gut kannte, ihr Gesicht noch nie lange oder genau genug angesehen und seine einzelnen Züge registriert hatte. Da war immer nur der allgemeine Eindruck schlanker Eleganz gewesen. Die fallenden Linien der Augenbrauen und Lider jedoch, die kleine Narbe am Kinn und der leichte, kaum sichtbare Flaum auf ihren Wangen — das alles war Neuland für mich.

Sie hob plötzlich die Augen und unterzog mich der gleichen prüfenden Betrachtung, als habe auch sie mich noch nie wirklich wahrgenommen — und ich nahm an, daß ihre Neueinschätzung weitaus radikaler ausfiel als die meine. Ich war nicht mehr der junge Bursche, dem sie damals in recht barschem Ton taktische Anweisungen zum Rennen gegeben hatte, sondern ich war ein Mann, zu dem sie gekommen war, weil sie Schwierigkeiten hatte. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt, daß dieses Bild von meiner Person an die Stelle älterer und unbeschwerterer Beziehungen getreten war, und wenn ich das auch oftmals bedauerte, gab es doch ganz offensichtlich kein Zurück mehr.

«Alle sagen…«, fing sie zweifelnd an,»ich meine… seit einem Jahr schon höre ich andauernd…«Sie räusperte sich.»Es heißt, daß Sie gut sind. sehr gut sogar. was Sachen dieser Art angeht. Aber ich weiß nicht… jetzt, wo ich hier bin… scheint es doch nicht… ich meine… Sie sind doch Jockey.«

«War«, sagte ich lakonisch.

Sie warf einen schnellen Blick auf meinen linken Arm, sagte aber nichts dazu. Sie wußte Bescheid. Auch in der Welt des Pferdesports wurde getratscht, und es war die Neuigkeit des vergangenen Jahres gewesen.

«Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was Sie von mir wünschen?«fragte ich.»Sollte ich Ihnen nicht behilflich sein können, werde ich es Ihnen sagen.«

Die Vorstellung, daß ich ihr vielleicht gar nicht würde helfen können, ließ ihre alten Befürchtungen zurückkehren und sie wieder in ihrem Regenmantel zittern.

«Es gibt niemanden sonst«, sagte sie.»Ich kann mich an keinen anderen wenden. Ich muß mich darauf verlassen… ich muß… daß Sie all das auch können… was Sie angeblich können sollen.«

«Ich bin nicht Superman«, wandte ich ein.»Ich schnüffle nur ein bißchen rum.«

«Nun ja… o Gott…«Das Glas schlug klirrend gegen ihre Zähne, als sie es bis zum letzten Tropfen leerte.»Ich hoffe zu Gott…«

«Ziehen Sie erst mal den Mantel aus«, redete ich ihr zu.»Nehmen Sie noch einen Gin, setzen Sie sich bequem hin und erzählen Sie der Reihe nach, von Anfang an.«

Sie erhob sich wie benommen, knöpfte den Mantel auf, warf ihn neben sich und nahm wieder Platz.

«Es gibt keinen Anfang.«

Sie nahm das wieder gefüllte Glas und drückte es an ihre Brust. Die jetzt sichtbare Garderobe bestand aus einer cremefarbenen Seidenbluse unter einem nach Kaschmir aussehenden, rostroten Pullover, einer schweren Goldkette und einem gut sitzenden, schwarzen Rock — all dies der alltägliche Ausdruck materieller Sorgenfreiheit.

«George ist bei einem Abendessen«, sagte sie.»Wir bleiben über Nacht hier in London… Er denkt, daß ich im Kino bin.«

Ihr Mann George gehörte zu den drei Spitzentrainern Großbritanniens und international wahrscheinlich zu den zehn besten. Er wurde auf den Rennplätzen zwischen Hongkong und Kentucky als einer der Großen seiner Zunft verehrt. In Newmarket aber, wo er lebte, war er der absolute König. Wenn seine Pferde das Derby, das Arc de Tri-omphe oder das Washington International gewannen, überraschte das niemanden. Jahr für Jahr gelangte ein Großteil vom Besten, was die Vollblutzucht zu bieten hat-te, in seinen Stall, und es genügte schon, ein Pferd bei ihm stehen zu haben, um dem Besitzer ein gewisses Ansehen zu verleihen. George Caspar konnte es sich leisten, jedes Pferd und jeden Besitzer abzuweisen. Gerüchte wollten wissen, daß er Frauen dagegen nur selten zurückwies — und wenn das Rosemarys Problem war, so würde ich ihr ganz bestimmt nicht helfen können.

«Er darf’s nicht erfahren«, sagte sie nervös.»Sie müssen mir versprechen, ihm nicht zu erzählen, daß ich hier war.«

«Ich verspreche es unter Vorbehalt«, sagte ich.

«Das ist mir nicht genug.«

«Das muß es aber sein.«

«Sie werden ja sehen«, sagte sie.»Sie werden sehen, warum…«Sie nahm einen Schluck.»Er gibt es vielleicht nicht zu, aber er macht sich entsetzliche Sorgen.«

«Wer. George?«

«Natürlich George, wer denn sonst? Stellen Sie sich doch nicht so dämlich an. Für wen sonst würde ich es wohl auf mich nehmen, in dieser blödsinnigen Verkleidung hierher zu kommen?«

Der Zornesausbruch ließ ihre Stimme schrill werden, was sie zu überraschen schien. Ich konnte sehen, wie sie ein paarmal tief Luft holte, bevor sie weitersprach:»Was halten Sie von >Gleaner

«Hm«, sagte ich.»Eine Enttäuschung.«

«Die reinste Katastrophe«, sagte sie,»das wissen Sie ganz genau.«

«So etwas ist immer mal drin«, entgegnete ich.

«Nein, so etwas ist ganz und gar nicht drin. Einer der besten Zweijährigen, die George je hatte. Hat die drei großen Rennen für Zweijährige alle brillant gewonnen. Galt dann den ganzen Winter über als der Favorit für die 2000 Guineas und das Derby. Alle waren sich einig, daß er ganz groß rauskommen, ein Spitzenpferd werden würde.«

«Ja«, sagte ich,»ich erinnere mich.«

«Und was war dann? Im vergangenen Frühjahr lief er bei den Guineas und war eine große Pleite. Totaler Flop. Und kam fürs Derby auch nicht annähernd in Frage.«

«So etwas kommt vor«, sagte ich.

Sie sah mich ungeduldig an, preßte die Lippen zusammen.

«Und >Zingaloo

«Schon ein bißchen rätselhaft«, räumte ich ohne große Überzeugung ein. Pferde, die den in sie gesetzten Erwartungen nicht entsprachen, waren so normal wie verregnete Sonntage.

«Und schließlich >Bethesda<, im Jahr davor!«Sie starrte mich aufgebracht an.»Beste zweijährige Stute, monatelang Favorit für die 1000 Guineas und die Oaks. Bei den Guineas ging sie an den Start, als wäre sie eine Million Dollar wert, und wurde Zehnte. Zehnte, ich bitte Sie!«

«George hat die Pferde doch sicherlich alle untersuchen lassen«, sagte ich begütigend.

«Selbstverständlich. Wochenlang krochen die verdammten Viehdoktoren bei uns rum. Dopingkontrollen, alles. Alle Tests negativ. Drei großartige Pferde und alle drei zu nichts nütze. Und keine Erklärung dafür… Nichts!«

Ich seufzte leise. Das klang in meinen Ohren eher nach dem Schicksal der meisten Trainer als nach dem Anlaß zu melodramatischen Besuchen im Schutze von Perücke und Sonnenbrille.

«Und jetzt«, sagte sie und ließ die Bombe ganz beiläufig platzen,»haben wir da auch noch >Tri-Nitro<.«

Ganz gegen meine Absicht stieß ich die Luft hörbar aus, so daß es fast wie ein Aufstöhnen klang.»Tri-Nitro «füllte gerade die Sportseiten der Zeitungen, wurde als der beste Hengst des ganzen Jahrzehnts gepriesen. Im vergangenen Herbst hatte er als Zweijähriger alle Kontrahenten in den Schatten gestellt, und was seine Vormachtstellung im herannahenden Sommer anging, so wurde sie kaum in Frage gestellt. Ich hatte ihn im September die Middle Park Stakes in Newmarket in Rekordzeit gewinnen sehen, und mir war der weitausholende Schritt, der dieses Pferd in unglaublicher Schnelligkeit über den Turf jagen ließ, noch in lebhafter Erinnerung.

«Bis zu den 2000 Guineas sind es nur noch zwei Wochen«, sagte Rosemary.»Ja, genau noch vierzehn Tage. Stellen Sie sich mal vor, es passiert was… stellen Sie sich vor, es wird wieder genauso schlimm. und er versagt wie die anderen…?«

Sie zitterte wieder, aber als ich den Mund öffnete, um ihr zu antworten, fuhr sie schnell und mit erhobener Stimme fort:»Heute abend war die einzige Möglichkeit. ich konnte nur heute abend herkommen. und George würde fuchsteufelswild werden. Er meint, dem Pferd könne nichts passieren, niemand komme an es heran, sie hätten alles für seine Sicherheit getan. Aber er hat Angst, das weiß ich. Ist nervlich äußerst angespannt, fix und fertig. Ich habe ihm vorgeschlagen, Sie zu bitten, die Bewachung des Pferdes zu übernehmen, aber da ist er fast durchgedreht. Ich weiß nicht, warum. Ich habe ihn noch nie so wütend gesehen.«

«Rosemary«, setzte ich an und schüttelte den Kopf.

«Hören Sie«, schnitt sie mir das Wort ab,»ich möchte Sie bitten, dafür Sorge zu tragen, daß >Tri-Nitro< vor den 2000 Guineas nichts zustößt, das ist alles.«

«Alles…«

«Es wäre nicht sehr sinnvoll, sich hinterher zu wünschen… wenn da irgend jemand was versuchen würde… daß man Sie doch um Hilfe gebeten hätte. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen. Deshalb mußte ich herkommen. Ich konnte nicht anders. Sagen Sie schon ja. Sagen Sie mir, wieviel Sie dafür haben wollen, und ich zahl’s Ihnen.«

«Es geht mir nicht ums Geld«, sagte ich.»Sehen Sie… es ist doch ganz unmöglich, >Tri-Nitro< ohne Wissen und Zustimmung von George zu bewachen. Das geht einfach nicht.«

«Sie schaffen das schon, da bin ich sicher. Sie haben doch schon öfter Dinge getan, von denen die Leute meinten, sie seien nicht machbar. Ich mußte kommen, ich halte das alles nicht mehr aus. George auch nicht… nicht drei Jahre hintereinander. >Tri-Nitro< muß gewinnen. Sie müssen dafür sorgen, daß nichts dazwischenkommt. Sie müssen.«

Sie zitterte plötzlich noch heftiger als zuvor und sah ganz so aus, als würde sie im nächsten Augenblick einen hysterischen Anfall bekommen. Weniger aus dem Gefühl heraus, zur Lösung der mir zugedachten Aufgabe in der Lage zu sein, sondern eher in dem Bemühen, sie zu beruhigen, sagte ich:»Also gut, Rosemary. Ich will es versuchen.«

«Er muß gewinnen«, sagte sie.

Ich erwiderte besänftigend:»Warum sollte er auch nicht.«

Ihrem unfehlbaren Gespür entging der Unterton nicht, der sich ganz gegen meinen Willen in meine Worte eingeschlichen hatte: die Skepsis und eine selbstgefällige Neigung, ihr Drängen als Ergebnis der Hirngespinste einer nur allzu leicht erregbaren Frau abzutun. Ich konnte diese Nuancen selbst hören, hörte sie voller Unbehagen mit ihren Ohren.

«Du liebe Güte, ich verschwende nur meine Zeit, nicht wahr?«sagte sie bitter und stand auf.»Sie sind wie alle Männer. Sie glauben, mir sind die Wechseljahre aufs Gehirn geschlagen, und das erklärt dann alles.«

«Das stimmt nicht. Ich habe doch gesagt, daß ich’s versuchen will.«

«Ja. «Ihre ganze Verachtung lag in diesem einen Wort. Sie war dabei, ihren eigenen Zorn anzufachen, brauchte wohl eine Explosion. Genau genommen reichte sie mir ihr leeres Glas nicht, sondern warf es nach mir. Ich konnte es nicht auffangen, und es fiel auf die Kante des Couchtisches, wo es zerbrach.

Sie blickte auf die glitzernden Glassplitter hinab und rang um Beherrschung.

«Tut mir leid«, sagte sie kurz.

«Ist schon gut.«

«Schreiben Sie’s meiner Überanstrengung zu.«

«Ja.«

«Ich muß los und mir diesen Film ansehen. George wird danach fragen. «Sie schlüpfte in ihren Regenmantel und ging mit unsicheren Schritten zur Tür, da ihr ganzer Körper noch vor Anspannung zitterte.»Ich hätte nicht herkommen sollen. Aber ich dachte.«

Ich sagte mit Entschiedenheit:»Ich habe zugesagt, daß ich’s versuchen will, Rosemary, und mein Wort gilt.«

«Niemand weiß, wie das ist, was ich durchmache.«

Ich folgte ihr in den Flur hinaus und hatte fast das Gefühl, als versetze ihre schrille Verzweiflung die Luft regelrecht in Schwingungen. Sie nahm die schwarze Perücke von dem kleinen Garderobentischchen und setzte sie sich auf den Kopf, wobei sie ihr eigenes braunes Haar mit wilden, unwilligen Bewegungen darunterstopfte, voll Haß auf sich selbst, auf ihre Verkleidung und auf mich — sie haßte diesen Besuch, die Lügen, die sie George auftischen mußte, die miese Heimlichkeit ihres Tuns. Sie schminkte ihre Lippen wieder dunkelrot — mit unnötigem Kraftaufwand, als attak-kiere sie sich selbst. Dann zog sie mit heftigem Ruck den Knoten des Kopftuches fest und wühlte in ihrer Handtasche nach der Brille mit den dunkel getönten Gläsern.

«Vorhin habe ich mich auf der Toilette in der U-Bahn-Station umgezogen«, sagte sie.»Das Ganze ist widerlich. Aber ich möchte nicht, daß mich jemand von hier fortgehen sieht. Da ist was im Gange, ich weiß es. Und George hat Angst.«

Sie blieb vor der Wohnungstür stehen und wartete darauf, daß ich ihr öffnete — eine schmächtige, elegante Frau, die unbedingt häßlich aussehen wollte. Es wurde mir bewußt, daß sich wohl keine Frau ohne zwingende Gründe so verhielt — Gründe, die wichtiger waren als alle Selbstachtung. Ich hatte nichts getan, um ihre Sorgen zu verringern, und das lag wohl daran, daß ich sie viel zu lange in einer ganz anderen Rolle gekannt hatte. Sie hatte immer ganz selbstverständlich das Sagen gehabt, und ich war seit meinem 16. Lebensjahr respektvoll ihren Wünschen nachgekommen. Es ging mir durch den Kopf, daß ich ihr an diesem Abend wahrscheinlich mehr gedient hätte, wenn ich sie zum Weinen gebracht, ihr Wärme, menschliche Nähe, vielleicht sogar einen Kuß gegeben hätte. Aber die Sperre war da und ließ sich so leicht nicht lösen.

«Ich hätte nicht herkommen sollen«, wiederholte sie.»Das ist mir jetzt klar.«

«Möchten Sie denn nun eigentlich… daß ich was unternehme?«

Ein Zucken verzog ihr Gesicht.»Ach Gott… Ja, doch, das möchte ich schon. Aber es war dumm von mir, und ich hab mir was vorgemacht. Schließlich und endlich sind Sie ja nur ein Jockey.«

Ich öffnete die Tür.

«Ich wünschte«, sagte ich leichthin,»ich wär’s.«

Sie sah mich an, ohne mich wahrzunehmen, war in Gedanken schon auf der Rückfahrt, bei ihrem Film, bei dem, was sie George darüber berichten würde.

«Ich bin nicht verrückt«, sagte sie.

Sie drehte sich abrupt um und schritt davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich beobachtete, wie sie zur Treppe ging und ohne sich aufzuhalten aus meinem Blickfeld verschwand. Mit dem anhaltenden Gefühl, ihr nicht gerecht geworden zu sein, schloß ich die Tür und kehrte ins Wohnzimmer zurück — und es schien mir, als ob auch dort die Luft von ihrer intensiven Ausstrahlung in Unruhe wäre.

Ich bückte mich und hob die größeren Glasscherben auf, aber es lagen zu viele kleine Splitter herum, um es dabei bewenden lassen zu können, weshalb ich Kehrbesen und Schaufel aus der Küche holte.

Die Kehrschaufel konnte ich gut mit der linken Hand halten. Wenn ich einfach versuchte, die echte Hand, die nicht mehr da war, nach hinten zu biegen, dann lösten sich die künstlichen Finger vom Daumen und öffneten sich. Wenn ich nun wie gewohnt die Botschaft an die Hand schickte, sie solle sich nach innen biegen, so schlossen sich die Finger wieder. Zwischen dem mentalen Befehl und der elektrischen Reaktion gab es stets ein Intervall von ungefähr zwei Sekunden, und es war für mich am schwersten gewesen, mich an diese Verzögerung zu gewöhnen.

Natürlich konnten die Finger nicht spüren, ob ihr Griff fest genug war oder nicht. Die Leute, die mir die Hand angepaßt hatten, hatten mir gesagt, daß der Gradmesser des Erfolges das Aufheben von Eiern sei, und ich hatte anfangs bei den entsprechenden Übungen wohl ein Dutzend und mehr zerdrückt.

Geistesabwesenheit hatte implodierende Glühbirnen und flachgequetschte Zigarettenschachteln zur Folge gehabt, was erklärte, warum ich dieses Wunderwerk der Technik weit weniger oft benutzte, als es möglich gewesen wäre.

Ich leerte die Glasscherben in den Mülleimer und schaltete den Fernseher wieder ein. Aber die Komödie war schon vorbei, und den nun laufenden Krimi störten Gedanken an Rosemary. Mit einem Seufzer schaltete ich den Apparat ab, briet mir das Steak und ging, nachdem ich es verzehrt hatte, zum Telefon, um Bobby Unwin anzurufen, der beim Daily Planet arbeitete.

«Informationen gibt’s aber nicht umsonst«, sagte er sofort, als er mitbekommen hatte, wer der Anrufer war.

«Was willst du haben?«

«Eine kleine Gegenleistung.«

«Geht in Ordnung«, sagte ich.

«Was suchst du denn?«

«Hm«, sagte ich.»Du hast mal vor ein paar Monaten für eure Wochenendbeilage einen langen Artikel über George Caspar geschrieben. Geradezu endlos.«

«Stimmt, ein Special Feature. Analyse seines Erfolges. Der Planet bringt einmal im Monat eine Serie über Er-folgsmenschen. Unternehmer, Popstars und was weiß ich. Legen sie unters Klischeemikroskop und kommen dann mit einer großen, gähnend langweiligen Enthüllungsstory raus, die nichts als heiße Luft ist.«

«Bist du in der Horizontalen?«

Es trat kurz Stille ein, der ein unterdrücktes Mädchengekicher folgte.

«Verkrümel dich mit deinen Eingebungen doch nach Sibirien«, sagte Bobby.»Wie kommst du darauf?«

«Wahrscheinlich der blanke Neid. «Ich hatte aber eigentlich nur herausbekommen wollen, ob er allein war, ohne daß es allzu wichtig klang.»Bist du morgen in Kempton?«

«Ich denke schon.«

«Könntest du mir ein Exemplar dieser Beilage mitbringen? Ich kauf dir dafür auch eine Flasche deiner Wahl.«

«Junge, Junge. Abgemacht.«

Sein Hörer wanderte ohne weitere Umschweife zurück auf die Gabel, und ich verbrachte den Rest des Abends damit, mich an Hand der Formbücher der vergangenen Jahre über die Entwicklung von >Bethesda<, >Gleaner<, >Zingaloo< und >Tri-Nitro< zu informieren, was mir aber zu keinerlei neuen Erkenntnissen verhalf.

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