Kapitel 12

Sein Vetter Norris Abbot. Was der jetzt schon wieder angestellt habe, wollte er wissen, und ich fragte, was es denn zuvor alles gewesen sei.

«Eine Reihe ungedeckter Schecks, für die seine Mutter geradestehen mußte.«

Wo er denn wohne, fragte ich. Das wußte John Viking nicht. Er sehe Norris nur, wenn er gelegentlich mal bei ihm auftauche, zumeist pleite, um sich zum Essen einladen zu lassen.

«Ein Lacher pro Minute, ein oder zwei Tage lang, dann ist er wieder weg.«

«Und wo wohnt seine Mutter?«

«Sie ist tot. Er hat jetzt niemanden mehr. Keine Eltern oder Geschwister. Keine Verwandten außer mir. «Er sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an.»Wozu wollen Sie das denn alles wissen?«

«Eine Bekannte von mir sucht ihn. «Ich zuckte die Achseln.

«Nichts Wichtiges.«

Er verlor sofort das Interesse und ließ den Brenner wieder fauchen.»Wir brauchen hier oben doppelt soviel Gas wie in größerer Bodennähe«, erklärte er dann.»Deshalb hab ich auch soviel mit. Und deshalb konnte irgendein neugieriger Schnüffler Popsy auch verraten, daß ich weit rauf und durch die Luftstraße wollte.«

Nach meiner Schätzung konnte die Luftstraße nicht mehr sehr weit entfernt sein.

«Kriegen Sie da keine Schwierigkeiten?«fragte ich.

Das Wolfsgrinsen erschien und verschwand wieder.»Dazu müssen die uns erst mal finden. Wir sind ja auf dem Radarschirm nicht zu sehen. Zu klein für die Instrumente, die sie benutzen. Mit ein bißchen Glück kommen wir durch, ohne daß es jemand merkt.«

Ich hob die Karte vom Boden auf und studierte sie. In fünf zehntausend Fuß würden wir uns abgesehen von den letzten zweihundert Metern vom Erreichen des kontrollierten Luftraumes bis zur Landung durchweg in unerlaubten Bahnen bewegen. Die Untergrenze des Luftkorridors über Brighton lag bei tausend Fuß über Meereshöhe, und die Hügel im Norden der Stadt waren achthundert Fuß hoch. War John Viking dies alles bekannt? Ja, war es.

Als wir eine Stunde und fünfzig Minuten unterwegs gewesen waren, montierte er erneut die Brennstoffzuleitungen von leeren auf volle Flaschen um, und dabei passierte es, daß aus einem der Verbindungsstücke ein Strahl Flüssiggas herausgeschossen kam wie Wasser aus dem undichten Verbindungsstück eines Gartenschlauches. Der Strahl traf auf die freie Seitenwand des Korbes, ungefähr fünfzehn Zentimeter unterhalb des Randes.

John Viking rauchte natürlich wieder.

Das flüssige Gas begann in einem dünnen Rinnsal am Korbgeflecht nach unten zu rieseln. John Viking fluchte und kämpfte mit dem undichten Verbindungsstück, beugte sich dicht darüber — und seine brennende Zigarette entzündete das Gas.

Es kam nicht zu einem großen, alles beendenden Knall. Wie aus einer Düse zischte ein säuberlich gebündelter Feuerstrahl aus dem unteren Leitungsstück und traf auf das Korbgeflecht. John Viking warf die Zigarette über Bord, riß seine Segelmütze herunter und schlug mit weitausholenden Bewegungen auf die brennende Korbwand ein. Derweil gelang es mir, der Düse den Nachschub zu entziehen, indem ich den Hahn der Gasflasche zudrehte.

Als sich die Flammen und der Rauch und das Gefluche gelegt hatten, stellten wir ein großes Loch von fünfzehn Zentimeter Durchmesser in der Korbwand, sonst aber keine Beschädigungen fest.

«Körbe brennen nicht so leicht«, sagte er ruhig, als ob nichts gewesen wäre.»Hab noch keinen doller brennen sehen als den hier.«

Er untersuchte seine Mütze, in die schwarz geränderte Löcher gesengt waren, und schenkte mir einen vier Sekunden währenden, irren Blick seiner leuchtend blauen Augen.»Mit einem Sturzhelm kann man kein Feuer löschen«, sagte er.

Ich lachte ziemlich lange vor mich hin.

Es mußte die Höhe sein, dachte ich, die mich so haltlos kichern ließ.

«Ein Stück Schokolade?«fragte er.

In der Luft waren keine Schilder aufgestellt, die uns verraten hätten, wann wir die Grenzen der Luftstraße passierten. Wir sahen ein paar Flugzeuge in größerer Entfernung, keins in unserer Nähe. Niemand kam angesaust, um uns nach unten zu dirigieren. Wir segelten einfach so dahin, unbehelligt und schnell wie der Wind.

Um zehn nach fünf verkündete er, daß es Zeit zum Abstieg sei, denn wenn wir nicht genau um fünf Uhr dreißig am Boden wären, würden wir disqualifiziert werden — und das wollte er nicht. Er wollte gewinnen. Ums Gewinnen ging es ja schließlich bei der ganzen Sache.

«Wie läßt sich denn feststellen, wann genau wir gelandet sind?«erkundigte ich mich.

Er warf mir einen mitleidigen Blick zu und zeigte mit der Fußspitze auf einen kleinen Kasten, der in einer Ecke neben einer der Gasflaschen am Boden befestigt war.

«Da drin ist ein Barograph, vollgeklebt mit pompösen roten Siegeln. Das macht die Wettkampfleitung vor dem Start. Das Gerät zeigt jede Veränderung des Luftdrucks an. Ist höchst empfindlich. Unsere ganze Reise erscheint darauf wie eine lange Kette von Berggipfeln. Am Boden aber ist die Spur der Nadel ganz gleichmäßig und gerade. Sie sagt den Schiedsrichtern genau, wann man gestartet und wann gelandet ist. Alles klar?«

«Alles klar.«

«Okay, also runter mit uns.«

Er langte nach oben, löste eine am Rahmen des Brenners festgebundene rote Kordel und zog daran.»Man kann damit eine Klappe oben auf dem Ballon öffnen«, erklärte er.»Läßt die heiße Luft raus.«

Seine Vorstellung von einem Sinkflug war typisch für ihn. Die Nadel des Höhenmessers drehte sich rasend schnell, wie der Zeiger einer Uhr mit gebrochener Feder, und der Steiggeschwindigkeitsmesser zeigte tausend Fuß pro Minute — abwärts. Ihm schien das nichts anzuhaben, aber mir wurde leicht übel, und die Ohren taten mir weh. Schlucken machte die Sache ein bißchen erträglicher, aber eben nur ein bißchen. Um mich abzulenken, konzentrierte ich mich auf die Karte und versuchte festzustellen, wohin wir fuhren. Der Ärmelkanal lag wie ein großer, grauer Teppich zu unserer Rechten, und wenn es auch ganz unglaublich zu sein schien, so trieben wir doch, wie ich’s auch drehen und wenden mochte, direkt auf Beachy Head zu.

«Ja«, bestätigte John Viking beiläufig.»Müssen halt sehen, daß wir nicht vom Kliff gepustet werden. Vielleicht ist’s sogar besser, auf dem Strand ein Stück dahinter zu landen…«Er sah auf die Uhr.»Noch zehn Minuten. Wir sind noch immer tausend Fuß hoch… das ist schon in Ordnung. es könnte der Strand werden.«

«Nicht das Meer«, sagte ich beschwörend.

«Wieso nicht? Vielleicht müssen wir sogar.«

«Na ja«, sagte ich,»das hier…«Ich hob den linken Arm.»In diesem handförmigen Stück Plastik steckt eine Menge High-Tech. Eine starke Zange im Daumen und den beiden ersten Fingern. Eine Menge Präzisionsteile und Transistoren und Schaltkreise. Das ins Meer zu tauchen wäre so, als ließe man einen Radioapparat ins Wasser fallen. Die Hand wäre total hin. Und es würde mich zweitausend Pfund kosten, mir eine neue zu besorgen.«

Er war erstaunt.»Sie machen Witze!«

«Nein, keineswegs.«

«Dann lassen wir Sie wohl besser nicht naß werden. Und im übrigen glaube ich jetzt, wo wir so weit unten sind, nicht mehr, daß wir so weit nach Süden wie Beachy Head kommen. Wahrscheinlich weiter östlich davon. «Er hielt inne und sah zweifelnd auf meine linke Hand.»Es wird eine harte Landung werden. Das Flüssiggas ist wegen der großen Höhe sehr kalt. und der Brenner arbeitet dann nicht so gut. Es braucht Zeit, um genügend Luft für eine sanftere Landung warm zu machen.«

Eine sanftere Landung brauchte Zeit… zuviel Zeit,»Los, gewinnen Sie das Rennen«, sagte ich. Das reine Glück ließ sein Gesicht erstrahlen.»Wird gemacht«, sagte er entschieden.»Welcher Ort ist das da unmittelbar vor uns?«

Ich sah auf der Karte nach.»Eastbourne.«

Er blickte auf die Uhr.»Fünf Minuten. «Er sah auf den Höhenmesser, dann auf Eastbourne, auf das wir uns schnell hinabsenkten.»Zweitausend Fuß. Bißchen kitzlig, da auf den Dächern zu landen. Und hier unten ist nicht viel Wind… Aber wenn ich den Brenner noch mal laufen lasse, könnte es passieren, daß wir die Zeit überschreiten… Nein, kein Brenner.«

Tausend Fuß pro Minute, rechnete ich, das waren elf oder zwölf Meilen pro Stunde. Ich war jahrelang sehr oft mit doppelter Geschwindigkeit auf dem Boden aufgeschlagen… allerdings nicht in einem Korb und nicht auf einem Boden, der möglicherweise mit Ziegelsteinmauern verbaut war. Wir fuhren jetzt seitlich am Stadtzentrum vorbei, hatten überall Häuser unter uns. Wir verloren schnell an Höhe.»Noch drei Minuten«, sagte er.

Vor uns, unmittelbar am anderen Ende der Stadt, lag wieder das Meer, und einen Augenblick sah es ganz so aus, als würden wir am Ende doch darin landen. John Viking aber wußte es besser.

«Festhalten!«rief er.»Es ist soweit.«

Er zog kräftig an der roten, nach oben in den Korb hineinführenden Schnur. Irgendwo hoch über uns wurde die Öffnung, durch die die heiße Luft entwich, noch weiter aufgerissen, die Tragkraft des Ballons schwand, und der bebaute Teil von Eastbourne kam mit einem Ruck auf uns zu.

Wir schabten über die Giebel grauer Schieferdächer, schossen schräg über eine Straße und eine Rasenfläche hinab und krachten auf eine breite Betonpromenade, die sieben Meter von den Wellen entfernt am Strand entlanglief.

«Nicht aussteigen! Nicht aussteigen!«rief John Viking mir zu. Der Korb kippte zur Seite und fing an, über den

Beton zu schurren, gezogen von der noch immer halb aufgeblasenen Stoffmasse.

«Ohne unser Gewicht kann er immer noch wegfliegen.«

Da ich wieder zwischen den Gasflaschen eingeklemmt war, war seine Anweisung überflüssig. Der Korb ruckte und schlingerte noch ein paarmal hin und her, und ich mit ihm, und John Viking fluchte und zerrte an seiner roten Kordel — und hatte endlich soviel heiße Luft abgelassen, daß wir zum Stillstand kamen.

Er sah auf die Uhr, und seine blauen Augen leuchteten triumphierend.

«Wir haben’s geschafft. Fünf Uhr neunundzwanzig. Das war ein verdammt gutes Rennen. Das beste überhaupt. Was machen Sie am nächsten Samstag?«

Ich fuhr mit der Bahn nach Aynsford zurück, was eine Ewigkeit dauerte, und als mich Charles am Bahnhof von Oxford abholte, war es schon kurz vor Mitternacht.

«Du hast die Ballonwettfahrt mitgemacht?«wiederholte er ungläubig.»Und hat es Spaß gemacht?«

«Großen.«

«Dein Auto steht noch in Highalane Park?«

«Das kann bis morgen warten«, gähnte ich.»Übrigens hat Nicholas Ashe jetzt einen richtigen Namen. Er heißt Norris Abbot. Die gleichen Initialen, dieser Blödmann.«

«Willst du’s der Polizei mitteilen?«

«Wir sehen erst mal, ob wir ihn finden können.«

Er warf mir einen Seitenblick zu.»Jenny ist heute abend zurückgekommen. Nach deinem Anruf.«

«O nein!«

«Ich wußte wirklich nichts davon.«

Ich nahm an, daß ich ihm Glauben schenkte. Ich hoffte, sie würde vor unserer Ankunft zu Bett gegangen sein, aber dem war nicht so. Sie saß auf dem brokatenen Sofa im Wohnzimmer und sah streitsüchtig aus.

«Ich mag es ganz und gar nicht, daß du so oft herkommst«, sagte sie.

Ein Stich mitten ins Herz von meiner schönen Frau.

Charles sagte besänftigend:»Sid ist hier immer willkommen.«

«Abgelegte Ehemänner sollten soviel Stolz besitzen, nicht dauernd um ihre Schwiegerväter herumzuscharwenzeln, die sich das nur gefallen lassen, weil sie Mitleid mit ihnen haben.«

«Du bist ja eifersüchtig!«sagte ich überrascht.

Sie stand schnell auf, war so wütend, wie ich sie noch nie gesehen hatte.

«Wie kannst du es wagen!«schrie sie.»Er ergreift immer deine Partei. Er hält dich für so verdammt wunderbar. Weil er dich nicht so gut kennt wie ich, nicht weiß, wie stur du bist und gemein. und immer meinst, du wärst im Recht.«

«Ich gehe zu Bett«, sagte ich.

«Und ein Feigling bist du außerdem«, zischte sie erbost.

«Läufst schon vor ein paar schlichten Wahrheiten davon.«

«Gute Nacht, Charles«, sagte ich.»Gute Nacht, Jenny. Schlaf, gut, meine Liebe, und träum was Hübsches.«

«Du…«:, stieß sie hervor.»Du… ich hasse dich, Sid.«

Ich verließ das Wohnzimmer ohne ein weiteres Wort und ging nach oben in das Schlafzimmer, das ich als das meine ansah — das, in dem ich immer schlief, wenn ich jetzt nach Aynsford kam.

Du brauchst mich nicht zu hassen, Jenny, dachte ich unglücklich. Ich hasse mich schon selbst.

Charles fuhr mich am nächsten Morgen nach Wiltshire, wo ich mein Auto abholte, das noch auf dem gleichen Platz stand, auf dem ich es abgestellt hatte, nur jetzt inmitten einer riesigen, völlig leeren Rasenfläche. Kein Peter Rammi-leese war zu sehen, keine Schläger lauerten im Hinterhalt. Alles klar für eine ereignislose Rückkehr nach London.

Als ich die Autotür aufschloß, sagte Charles:»Hör nicht auf das, was Jenny von sich gibt, Sid.«

«Nein.«

«Komm nach Aynsford, wann immer du willst.«

Ich nickte.

«Ich meine das ernst, Sid.«

«Ja, ich weiß.«

«Vermaledeite Jenny!«brauste er auf.

«Ach nein. Sie ist nur unglücklich. Sie…«, ich machte eine Pause und fügte dann hinzu:»Ich glaube, sie braucht Trost. Eine Schulter, an der sie sich ausweinen kann, so was.«

«Mit Tränen kann ich gar nichts anfangen«, erwiderte er streng.

«Nein, ich weiß. «Ich seufzte, stieg ins Auto, winkte ihm einen Abschiedsgruß zu und fuhr über das holprige Gras zur Ausfahrt. Die Hilfe, die Jenny brauchte, würde sie von mir nie annehmen, und ihr Vater wußte nicht, wie er ihr helfen konnte. Noch so ein verdammter Schlamassel, noch so eine blödsinnige Ironie des Schicksals.

Ich fuhr in die Stadt und landete nach kurzer Parkplatzsuche in den Redaktionsräumen von Antiques for All, die sich als nur eine von mehreren Fachzeitschriften herausstellte, die ein Zeitungsverlag hier produzierte. Ich erklärte dem Redakteur von Antiques, einem blonden, ernsten jungen Mann mit dickrandiger Brille, die Situation und meine Wünsche.

«Unsere Versandliste?«sagte er zweifelnd.»Adressenlisten sind absolut vertraulich, wissen Sie.«

Ich erklärte ihm alles noch einmal, bauschte die Geschichte noch ein bißchen mehr auf. Mein treusorgendes Weib hinter Gittern, wenn ich den Betrüger nicht ausfindig machen könne — so in dieser Art.

«Na schön«, sagte er schließlich.»Aber wir haben sie im Computer gespeichert, und Sie müssen ein wenig warten, bis der Ausdruck fertig ist.«

Ich wartete geduldig und erhielt am Ende einen Stapel Papier mit 53000 Namen und Adressen, vielleicht abzüglich einiger verstorbener Bezüger.

«Wir wollen sie wiederhaben«, sagte er mahnend.»Ohne Kritzeleien drauf und vollständig.«

«Wie ist Norris Abbot da rangekommen?«fragte ich. Das wußte er nicht, und weder der Name noch die Beschreibung von Abbot/Ashe sagten ihm irgend etwas.

«Könnten Sie mir zusätzlich noch ein Freiexemplar Ihrer Zeitschrift zur Verfügung stellen?«

Ich bekam auch das und machte mich schnell davon, bevor er seine Großzügigkeit bedauern konnte. Wieder im Auto, rief ich Chico an und bat ihn, in meine Wohnung zu kommen.»Warte unten vor dem Haus auf mich«, sagte ich.»Dann kannst du meine Tasche rauftragen und dir dein Gehalt verdienen.«

Er war da, als ich vor einer freien Parkuhr anhielt, und wir gingen zusammen nach oben. Die Wohnung war leer und still und sicher.

«Eine Menge Lauferei, mein Sohn«, sagte ich, holte die Adressenliste aus der Reisetasche, in die ich sie gepackt hatte, und legte sie auf den Tisch.»Das gehört alles dir.«

Er besah sie sich ohne Begeisterung.»Und was ist mit dir?«

«Rennen in Chester«, antwortete ich.»Eins von den Syndikatspferden läuft morgen dort. Wir treffen uns am Donnerstagmorgen um zehn wieder hier, okay?«

«Ja. «Er dachte nach.»Mal angenommen, unser guter Nicky ist noch nicht soweit und läßt seine Spendenaufrufe erst nächste Woche rausgehen, nachdem wir nichts als Nieten gezogen haben?«

«Hm, ja… Nimm besser ein paar Selbstklebeetiketten mit meiner Anschrift mit und bitte die Leute, uns die Briefe herzuschicken, falls sie welche bekommen.«

«Vielleicht haben wir ja Glück.«

«Man kann nie wissen. Niemand läßt sich gern übers Ohr hauen.«

«Na gut, dann will ich mal anfangen. «Er nahm die Adressenliste und das Freiexemplar der Zeitschrift an sich und wandte sich zum Gehen.

«Ach, Chico… bleib doch bitte noch, bis ich meine Tasche gepackt habe. Ich denke, ich mach mich gleich auf den Weg nach Norden. Warte noch, bis ich fertig bin.«

Er war verwirrt.»Wenn du meinst. Aber wieso?«

«Äh…«

«Na los, Sid, raus damit.«

«Peter Rammileese und zwei Typen waren gestern in Highalane Park hinter mir her. Deshalb wär's mir lieber, du bleibst noch, bis ich hier raus bin.«

«Was für Typen?«fragte er argwöhnisch.

Ich nickte.»Eben solche. Harter Blick und harte Stiefel.«»Typen, die in Tunbridge Wells Leute halb zu Tode treten?«

«Möglicherweise.«

«Du bist ihnen also entwischt, wie ich sehe.«

«In einem Heißluftballon. «Ich erzählte ihm von der Wettfahrt, während ich ein paar Sachen in meinen Koffer packte. Er lachte über die Geschichte, kam dann aber sehr ernst wieder zur Sache.

«Diese beiden Typen von dir, das klingt gar nicht nach den üblichen Mietganoven«, sagte er.»Laß mich mal das Jackett da zusammenlegen. Du trittst ja sonst total zerknittert in Chester auf.«

Er nahm mir das Packen ab, erledigte es schnell und gekonnt.

«Hast du die Ersatzbatterien? Im Bad liegt noch eine. «Ich holte sie.»Weißt du, Sid, diese Syndikate gefallen mir gar nicht. «Er machte die Schlösser zu und trug den Koffer in den Flur.»Laß uns Lucas Wainwright sagen, daß wir von dem Auftrag zurücktreten.«

«Und wer sagt Peter Rammileese Bescheid?«

«Wir. Wir rufen ihn an und sagen’s ihm.«

«Dann mach’s«, sagte ich.»Jetzt gleich.«

Wir standen im Flur und sahen uns an. Dann zuckte er die Achseln und nahm den Koffer auf.»Hast du alles?«fragte er.

«Regenmantel?«Wir gingen hinunter zum Auto und verstauten den Koffer im Gepäckraum,»Hör zu, Sid, paß auf dich auf, ja? Ich mag keine Krankenhausbesuche, das weißt du.«

«Und verschmeiß du mir ja die Adressenliste nicht«, sagte ich.

«Sonst wird der Redakteur von Antiques sehr, sehr böse.«

Ich quartierte mich unbehelligt in einem Motel ein und verbrachte den Abend vor dem Fernseher. Am Nachmittag des folgenden Tages gelangte ich dann problemlos zum Rennen nach Chester.

Die übliche Menschenmenge hatte sich versammelt, stand wie üblich herum und führte die üblichen Gespräche. Es war das erste Mal seit der trübseligen Woche in Paris, daß ich wieder auf eine Rennbahn kam, und es schien mir, als ich sie betrat, daß die Veränderung, die sich in mir vollzogen hatte, deutlich zu sehen sein müßte. Aber natürlich bemerkte niemand das brennende Gefühl der Scham, das mich erfüllte, als ich George Caspar vor der Waage stehen sah, und es gab auch niemanden, der mir anders als sonst begegnet wäre. Ich war es, ich allein, der wußte, daß ich das freundliche Lächeln und die Begrüßung der Menschen nicht verdiente. Ich war ein Betrüger. Ich wand mich innerlich, hatte nicht geahnt, daß ich mich so mies fühlen würde.

Der Trainer aus Newmarket, der mir angeboten hatte, mal wieder mit seinem Lot rauszureiten, war da und wiederholte seine Einladung.

«Also wie steht’s? Komm doch schon am Freitag zu uns, übernachte bei uns und reite dann am Samstag mit zur Morgenarbeit.«

Man hätte mir, so ging mir durch den Kopf, wirklich nichts Schöneres bieten können — außerdem würde es Peter Rammileese und seinen lustigen Gesellen nicht gerade leichtfallen, mich dort ausfindig zu machen.

«Gut, Martin… ja, ich komme sehr gern.«

«Großartig. «Er schien wirklich erfreut zu sein.»Komm am Freitagabend zum Rundgang durch die Ställe.«

Er verschwand in der Waage, und ich fragte mich, ob er mich wohl auch eingeladen hätte, wenn ihm bekannt gewesen wäre, wie ich den Tag der 2000 Guineas verbracht hatte.

Bobby Unwin nagelte mich mit fragendem Blick fest.»Wo hast du denn gesteckt? Ich habe dich gar nicht bei den Guineas gesehen.«

«Ich war nicht dort.«

«Ich dachte, du hättest gar nicht anders gekonnt, als dabei zu sein, wo du dich doch so lebhaft für >Tri-Nitro< interessiert hast.«

«Es ging auch ohne.«

«Ich glaube, du hast gerochen, daß da irgendwas im Busch war, Sid. Dieses ganze Interesse an den Caspars und an >Gleaner< und >Zingaloo<. Los, nun mal raus damit, was weißt du?«

«Nichts, Bobby.«

«Ich glaube dir kein Wort. «Er warf mir einen harten, unversöhnlichen Blick zu und richtete seine Hakennase dann auf erfolgversprechenderes Material in Gestalt eines Spitzentrainers, der gerade eine Pechsträhne hatte. Es würde wohl schwerfallen, dachte ich, ihn im Bedarfsfalle noch einmal dazu zu bewegen, mir behilflich zu sein.

Rosemary Caspar kam, mit einer Freundin plaudernd, daher und rannte fast in mich hinein, bevor noch der eine die Anwesenheit des anderen registriert hatte. Ihr Blick ließ den von Bobby Unwin geradezu liebevoll erscheinen.

«Verschwinden Sie«, sagte sie heftig.»Was haben Sie hier zu suchen?«

Die Freundin blickte einigermaßen überrascht drein. Ich trat schweigend beiseite, was sie noch mehr verwunderte. Rosemary zog sie ungeduldig weiter, und ich hörte die Freundin mit erhobener Stimme sagen:»Aber Rosemary, das war doch Sid Halley.«

Mein Gesicht fühlte sich völlig erstarrt an. Das ist wirklich ein bißchen viel, dachte ich. Ich hätte ihrem Pferd nie zum Sieg verhelfen können, auch dann nicht, wenn ich geblieben wäre. Es war unmöglich gewesen… aber vielleicht hätte ich es doch gekonnt. Ich würde immer glauben, daß ich es vielleicht doch geschafft hätte, wenn ich es nur versucht hätte. Wenn ich nicht eine so wahnsinnige Angst gehabt hätte.

«Hallo, Sid«, sagte eine Stimme neben mir.»Herrlicher Tag, was?«

«O ja, wunderschön.«

Philip Friarly sah lächelnd der sich entfernenden Rosemary nach.»Seit dem Desaster letzte Woche faucht sie jeden an. Arme Rosemary. Nimmt sich die Dinge immer so zu Herzen.«

«Das kann man ihr wohl kaum verübeln«, sagte ich.»Sie hat gesagt, daß es so kommen würde, aber niemand wollte ihr glauben.«

«Hat sie es Ihnen auch gesagt?«fragte er neugierig. Ich nickte.

«Ja, dann«, meinte er verständnisvoll,»sehr ärgerlich für Sie.«

Ich atmete tief durch und zwang mich, das Thema zu wechseln.»Ihr Pferd heute«, sagte ich.»Wollen Sie das mit dem Flachrennen hier nur ein bißchen auf Trab bringen?«

«Ja«, erwiderte er kurz.»Und falls Sie mich fragen wollen, wie es laufen wird, dann muß ich Ihnen sagen, daß das ganz davon abhängt, wer die Anweisungen erteilt und wer sie entgegennimmt.«

«Das ist zynisch.«

«Haben Sie schon irgendwas für mich herausfinden können?«

«Nicht sehr viel. Deshalb bin ich auch hier. «Ich machte eine Pause. Dann fragte ich:»Wissen Sie den Namen und die Adresse von demjenigen, der Ihre Syndikate gegründet hat?«

«Nein, nicht auswendig«, sagte er.»Ich hatte nie persönlich mit ihm zu tun, wissen Sie. Die Syndikate bestanden ja schon, als man mich bat, ihnen beizutreten. Die Pferde waren auch schon angeschafft und die meisten Anteile verkauft.«

«Man hat Sie benutzt«, sagte ich.»Ihren Namen. Als respektables Aushängeschild.«

Er nickte unglücklich.»Das fürchte ich auch.«

«Kennen Sie Peter Rammileese?«

«Wen?«Er schüttelte den Kopf.»Nie von ihm gehört.«

«Er kauft und verkauft Pferde«, klärte ich ihn auf.»Lucas Wainwright meint, daß er es ist, der Ihre Syndikate gegründet hat und der sie auch steuert. Und er ist ein rotes Tuch für den Jockey Club und darf die meisten Rennbahnen nicht betreten.«

«Du liebe Güte. «Er klang bestürzt.»Wenn sich Lucas schon damit befaßt… Was, meinen Sie, sollte ich tun, Sid?«

«Wenn ich’s von Ihrem Standpunkt aus betrachte«, sagte ich,»dann wäre es wohl das beste, denke ich, wenn Sie Ihre Anteile verkaufen oder die Syndikate ganz auflösen und dafür sorgen, daß Ihr Name da so schnell wie möglich rauskommt.«

«In Ordnung, das werde ich machen. Und, Sid… wenn ich mal wieder in Versuchung geführt werde, dann lasse ich erst mal alle Mitglieder des Syndikats von Ihnen überprüfen. Das hätte bei den bestehenden ja eigentlich die Sicherheitsabteilung tun sollen, aber man sieht ja, was dabei herauskommt.«»Wer reitet heute Ihr Pferd?«erkundigte ich mich.

«Larry Server.«

Er wartete auf einen Kommentar, aber ich sagte nichts. Larry Server war ein mittelmäßiger Reiter, mittelmäßig bezahlt, ritt zumeist Flach- und manchmal Hindernisrennen und war meiner Ansicht nach anfällig für krumme Touren.

«Wer sucht den Jockey aus?«fragte ich statt dessen.»Larry Server reitet doch eigentlich nicht sehr häufig für den Trainer Ihres Pferdes.«

«Ich weiß es nicht«, sagte er unsicher.»Natürlich überlasse ich das ganz dem Trainer.«

Ich verzog das Gesicht, nur ein ganz klein wenig.

«Finden Sie das falsch?«sagte er.

«Wenn Sie möchten«, sagte ich,»gebe ich Ihnen mal eine Liste von Jockeys für Ihre Springpferde, bei denen Sie sich darauf verlassen können, daß sie zumindest versuchen, ein Rennen zu gewinnen. Ob sie’s dann auch schaffen, kann ich nicht garantieren, aber man kann schließlich nicht alles haben.«

«Und wer ist jetzt zynisch?«Er lächelte und sagte mit offenkundigem, mir das Herz durchbohrendem Bedauern:»Ich wünschte, Sie ritten sie noch, Sid.«

«Ja. «Ich sagte es lächelnd, aber er hatte das Flackern in meinen Augen, das ich nicht hatte unterdrücken können, sehr wohl bemerkt.

Mit einem Mitgefühl, das mir ganz und gar nicht lieb war, sagte er:»Es tut mir wirklich leid.«

«Es war schön, solange es währte«, erwiderte ich leichthin.

«Und das ist schließlich das Wichtigste.«

Er schüttelte den Kopf, unglücklich über seine eigene Ungeschicklichkeit.

«Sehen Sie mal«, sagte ich,»wenn Sie froh wären, daß ich sie nicht mehr reite, dann würde ich mich doch erheblich unwohler fühlen.«

«Ach ja, das waren schon schöne Zeiten. Ganz außergewöhnlich schöne, nicht wahr?«

«Ja, ohne Frage.«

Zwischen Besitzer und Jockey konnte ein Einvernehmen entstehen, dachte ich, das äußerst eng war. In dem kleinen Bereich, wo sich ihre Daseinssphären berührten, wo Schnelligkeit und Sieg alles war, was zählte, konnte eine heimlich geteilte Freude entstehen, die so fest und dauerhaft verband wie ein gemeinsames Geheimnis. Ich hatte dieses Gefühl nicht oft und nicht bei vielen von den Leuten gehabt, für die ich geritten war, bei Philip Friarly aber so gut wie immer.

Ein Mann löste sich aus einer in unserer Nähe stehenden Gruppe und kam lächelnd auf uns zu.

«Philip, Sid. Nett, Sie beide zu sehen.«

Wir erwiderten seinen Gruß, und das mit echtem Vergnügen, denn Sir Thomas Ullaston, der amtierende Senior Steward, der Chef des Jockey Club und damit mehr oder weniger Herr der gesamten Rennindustrie, war ein vernünftiger Mann und ein sehr fairer, aufgeschlossener Chef. Manchmal ein bißchen hart, wie einige meinten, aber sein Job war nun mal nichts für Weichlinge. In der kurzen Zeit, die er das Amt innehatte, waren schon eine ganze Reihe guter Regelungen eingeführt und vorhandene Ungerechtigkeiten beseitigt worden, und er war so entschlußfreudig, wie sein Vorgänger schwach gewesen war.

«Na, wie geht’s, Sid?«erkundigte er sich.»Mal wieder ein paar nette Ganoven geschnappt in jüngster Zeit?«

«Nicht in jüngster Zeit«, sagte ich bedauernd. Er wandte sich lächelnd an Philip Friarly.»Wußten Sie, daß unser lieber Sid hier die Sicherheitsabteilung um ihre Arbeit bringt? Eddy Keith kam am Montag in mein Büro und beschwerte sich, daß wir Sid viel zu freie Hand ließen. Er verlangte, daß wir ihm die Tätigkeit auf dem Rennplatz untersagen.«

«Eddy Keith?«sagte ich.

«Nun schauen Sie doch nicht so entsetzt drein, Sid«, meinte Sir Thomas scherzhaft.»Ich habe ihm gesagt, daß der Rennsport Ihnen sehr viel zu verdanken habe, von der Rettung der Rennbahn in Seabury bis zu vielem anderem mehr, und daß sich der Jockey Club nie und nimmer in Ihre Arbeit einmischen würde, es sei denn, Sie täten etwas absolut Diabolisches, was ich Ihnen aber im Lichte unserer bisherigen Erfahrungen nicht zutraue.«

«Danke«, sagte ich matt.

«Und Sie dürfen davon ausgehen«, fuhr er mit Bestimmtheit fort,»daß das nicht nur meine persönliche, sondern die offizielle Auffassung des Jockey Club ist.«

«Warum«, fragte ich,»will Eddy Keith mich denn gestoppt sehen?«

Er zuckte die Achseln.»Irgendwas von wegen Zugang zu den Akten des Jockey Club. Sie haben da wohl welche eingesehen, und das war ihm nicht genehm. Ich hab ihm gesagt, daß er halt damit leben müsse, weil ich ganz und gar nicht bereit sei, jemandem Beschränkungen irgendwelcher Art aufzuerlegen, den ich als eine dem Rennsport förderliche Instanz ansähe.«

Ich war mir nur allzu schmerzlich bewußt, wie wenig ich dies alles verdient hatte, aber er ließ mir keine Zeit, Einwände zu erheben.

«Warum kommen Sie beide eigentlich nicht auf einen Drink und ein Sandwich mit nach oben? Kommen Sie, Sid, Philip.«

Er drehte sich um, winkte uns, ihm zu folgen, und ging uns voran.

Wir gingen die Treppe hinauf, an deren Fuß das Schild» Privat «angebracht war und die auf den meisten Rennbahnen den Zugang zu dem gepflegten Luxus der Stewardsloge mit ihrem weichen Teppichboden und der verglasten Frontseite bildete, von der aus man einen guten Ausblick auf die von den weißgestrichenen Rails eingefaßte Bahn hatte. Es standen dort schon ein paar Grüpp-chen zusammen, und ein Ober servierte auf einem Tablett verschiedene Getränke.

«Ich denke, Sie kennen die meisten«, sagte Sir Thomas, der es sich als Gastgeber angelegen sein ließ, uns vorzustellen.»Madelaine, meine Liebe«, sagte er, an seine Frau gewandt,»du kennst doch Lord Friarly und Sid Halley?«Sie reichte uns die Hand.

«Ach ja, Sid«, sagte er dann und berührte meinen Arm. Ich drehte mich um und stand einem weiteren seiner Gäste Auge in Auge gegenüber.

«Sie kennen Trevor Deansgate?«

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