Kapitel 19

Am folgenden Tag fuhren Charles und ich in seinem Rolls-Royce nach London — ich immer noch in ziemlich ermattetem Zustand und Charles der Ansicht, daß wir alles auf Montag verschieben sollten.

«Nein«, sagte ich.

«Aber selbst für dich ist das beängstigend… und dir graut doch davor.«

Wenn mir vor etwas graute, dachte ich, dann war es Trevor Deansgate, der bestimmt nicht stillhalten würde, bloß weil ich auch noch andere Probleme hatte. Was den Zweck dieser Fahrt anbetraf, war» Grauen «ein zu starkes Wort — und» Widerwille «ein zu schwaches. Vielleicht war» Abscheu «angemessen.

«Wir bringen das lieber heute hinter uns«, sagte ich.

Er erhob keine weiteren Einwände. Er wußte, daß ich recht hatte, sonst hätte ich ihn auch gar nicht dazu überreden können, mich zu fahren.

Er setzte mich am Portman Square am Eingang zum Jockey Club ab, fuhr dann zum Parkplatz, um den Wagen dort abzustellen, und kam zu Fuß nach. Ich wartete in der Eingangshalle auf ihn, und dann fuhren wir zusammen im Lift nach oben, er in seinem der City vorbehaltenen Anzug, ich nur in Hemd und Hose, das heißt ohne Jackett und Krawatte. Es war immer noch sehr heiß. Dieses Wetter dauerte nun schon eine Woche an, und es sah ganz so aus,als seien alle Menschen braungebrannt und gesund, nur ich nicht.

Im Lift war ein großer Spiegel angebracht. Aus dem starrte mich mein Gesicht an, grau und hohlwangig, über der Stirn, etwa in Höhe des Haaransatzes, der rote Streifen eines verheilenden Schnitts und seitlich am Unterkiefer ein schwärzlicher Bluterguß. Abgesehen davon sah ich aber doch ruhiger, weniger ramponiert und normaler aus, als ich mich fühlte, was mich sehr erleichterte. Wenn ich mich zusammennahm, müßte ich eigentlich in der Lage sein, den schönen Schein aufrechtzuerhalten. Wir gingen auf direktem Wege in das Büro von Sir Thomas Ullaston, der uns bereits erwartete. Begrüßung, Händeschütteln, das Übliche.

Dann sagte Sir Thomas zu mir:»Ihr Schwiegervater hat mir gestern am Telefon gesagt, daß Sie mir etwas sehr Beunruhigendes mitzuteilen hätten. Er wollte mir nicht verraten, worum es sich handelt.«

«Nein, nicht am Telefon«, bestätigte ich.

«Na, dann setzen Sie sich mal. Charles… Sid. «Er bot uns Stühle an und hockte sich selbst auf die Kante seines riesigen Schreibtisches.»Sehr wichtige Angelegenheit, hat Charles gesagt, und da bin ich und höre. Schießen Sie los.«

«Es geht um die Syndikate«, sagte ich. Ich fing an, ihm zu erzählen, was ich bereits Charles erzählt hatte, aber er unterbrach mich nach wenigen Minuten.

«Moment, Sid«, sagte er,»das ist doch wohl keine Geschichte, die nur uns hier etwas angeht, oder? Ich denke, wir sollten ein paar von den anderen dazubitten, damit auch sie sich anhören können, was Sie zu sagen haben.«

Ich hätte es vorgezogen, wenn er das nicht getan hätte, aber er zitierte die gesamte Schar der Großkopfeten herbei— den Bürochef, den Verwaltungschef, den Sekretär der Stewards, den Chef der Lizenzabteilung, der für die Registrierung der Besitzer zuständig war, und den Chef der Kontrollabteilung, in dessen Bereich alle Disziplinarfragen fielen. Sie kamen ins Zimmer, besetzten die bereitstehenden Stühle und wandten mir zum zweiten Mal innerhalb von vier Tagen ihre ernsten und höflichen Gesichter zu, um sich Resultate meiner Ermittlungstätigkeit anzuhören.

Ich verdankte es wohl dem Dienstag, ging mir durch den Kopf, daß sie bereit waren, mich nochmals anzuhören. Trevor Deansgate hatte mir zu einer Autorität verholfen, die ich ohne ihn nie gehabt hätte, jedenfalls nicht in diesem Raum und in diesem Kreis.

Ich sagte:»Lord Friarly, für den ich früher geritten bin, hat mich vor einiger Zeit gebeten, mir vier Syndikate genauer anzusehen, bei denen er als Repräsentant fungiert. Die Pferde liefen unter seinen Farben, und er war nicht sehr glücklich über ihre Leistungen. Das war nicht verwunderlich, denn die Quoten tanzten rauf und runter wie ein Jo-Jo, und die Rennergebnisse entsprachen dem. Lord Friarly gewann den Eindruck, daß er nur als Fassade benutzt wurde, hinter der recht üble Dinge vor sich gingen, und das gefiel ihm nicht.«

Ich schwieg einen Augenblick. Mir war sehr bewußt, daß das Bisherige nur eine leichte Plauderei war im Vergleich zu dem, was meine Zuhörer nun erwartete.

«Am gleichen Tag, es war draußen in Kempton, ersuchte mich Commander Wainwright, genau die gleichen vier Syndikate unter die Lupe zu nehmen, die, wie ich sagen muß, in einem Maße manipuliert worden sind, daß eigentlich schon längst ein öffentlicher Skandal fällig gewesen wäre.«

Auf den glatten Gesichtern zeichnete sich Überraschung ab. Sid Halley — das war doch nun wirklich nicht der

Mann, um von Commander Wainwright mit der Überprüfung von Syndikaten beauftragt zu werden. Normalerweise war das ja wohl die Aufgabe des Sicherheitsdienstes.

«Lucas Wainwright sagte mir, daß alle vier Syndikate von Eddy Keith genauestens überprüft und dann zugelassen worden seien, und er bat mich herauszufinden, ob das irgendeine unerfreuliche Bedeutung haben könnte.«

Wie sehr ich mich auch bemüht hatte, meinen Vortrag von jeder Dramatisierung freizuhalten, so war der Reaktion der Versammelten doch zu entnehmen, daß das Ganze als ziemlicher Schock kam. Man mußte beim Rennsport schon damit rechnen, daß er Schurken und Ganoven anzog, das hatte er immer getan — aber Korruption im Hauptquartier selbst? Niemals!

«Ich kam hierher zum Portman Square«, fuhr ich fort,»um mich anhand der Unterlagen von Eddy Keith, der davon nichts wußte, über die Syndikate zu informieren und mir ein paar Notizen zu machen. Ich erledigte das im Arbeitszimmer von Lucas, der mir bei dieser Gelegenheit gestand, daß er vor sechs Monaten einem Mann namens Mason bereits den gleichen Auftrag wie mir erteilt hätte. Dieser Mason sei in den Straßen von Tunbridge Wells überfallen und mit fürchterlichen, durch Tritte verursachten Kopfverletzungen dort liegengelassen worden. Er vegetiere heute nur noch so dahin und sei blind. Lucas erzählte mir ferner, daß der Mann, der die Syndikate zusammengebracht habe und auf dessen Kappe die Manipulationen gingen, ein gewisser Peter Rammileese aus Tunbridge Wells sei.«

Auf den Gesichtern erschienen tiefe Falten.

«Danach war ich… äh… eine Woche nicht da und verlor leider auch die Notizen, die ich mir gemacht hatte, so daß ich noch mal herkommen mußte. Bei dieser Gelegenheit entdeckte Eddy Keith, daß ich Einsicht in seine Unterlagen genommen hatte, worüber er sich bei Ihnen, Sir Thomas… Sie erinnern sich daran?… beschwerte.«

«Ja, das stimmt. Ich habe ihm gesagt, er solle deswegen nicht so ein Theater machen.«

Ein paar der Anwesenden lächelten, und die Anspannung ließ ganz allgemein ein bißchen nach. Ich verspürte große Müdigkeit in mir.

«Fahren Sie fort, Sid«, sagte Sir Thomas.

Fortfahren, dachte ich. Ich wünschte mir, ich würde mich weniger schwach, weniger zittrig und weniger zerschlagen fühlen. Ich mußte aber weitermachen, da ich nun mal angefangen hatte. Los, mach weiter, fahr fort!

Ich sagte:»Nun ja, Chico Barnes, der am Dienstag mit mir zusammen hier gewesen ist…«Alle nickten.»Also, Chico und ich fuhren nach Tunbridge Wells, um dort Peter Rammileese aufzusuchen. Er war zufällig nicht zu Hause. Seine Frau und sein Sohn waren da, aber seine Frau war vom Pferd gefallen, und Chico begleitete sie und den Sohn ins Krankenhaus, so daß nur noch ich dort übrigblieb… und ein unverschlossenes Haus. Da habe ich. äh. mich mal ein bißchen umgeschaut.«

Die Gesichter sagten zwar» Aber, aber«, nicht jedoch die Münder.

«Ich suchte nach Hinweisen auf eine direkte Verbindung zu Eddy Keith, aber das ganze Haus war geradezu anormal sauber aufgeräumt und sah verdächtig danach aus, als sei es gezielt für einen Besuch der Steuerfahndung hergerichtet worden.«

Die Gesichter deuteten ein Lächeln an.

«Lucas hatte mich gleich zu Anfang darauf hingewiesen, daß er mir, da der Auftrag inoffiziell sei, keine Bezahlung anbieten könne, mir statt dessen aber im Bedarfsfall Hilfestellung geben würde. Ich bat ihn deshalb, mir in der Angelegenheit Trevor Deansgate zu helfen, und das hat er auch getan.«

«Und wie, Sid?«

«Ich bat ihn, einen Brief an Henry Thrace zu schreiben, in dem er diesen aufforderte, den Jockey Club sofort zu verständigen, wenn >Gleaner< oder >Zingaloo< eingehen sollten. Wenn das geschähe, wollte Lucas mir Bescheid geben, damit ich eine gründliche Untersuchung durchführen und eine Obduktion veranlassen könnte.«

Alle nickten, erinnerten sich.

«Und dann«, berichtete ich weiter,»entdeckte ich, daß mir Peter Rammileese im Nacken saß, er und zwei sehr große Burschen, die ganz so aussahen, als brächten sie es fertig, Leuten den Schädel einzutreten und sie blind in den Straßen von Tunbridge Wells liegenzulassen.«

Kein Lächeln.

«Diesmal konnte ich ihnen entwischen und verbrachte die folgende Woche damit, in möglichst unvorhersehbarer Weise in England herumzufahren, damit niemand wußte, wo ich zu finden sei. In diesen Tagen, in denen ich vor allem eine ganze Menge über >Gleaner< und über Herzklappen erfuhr, wurde mir auch zugetragen, daß die beiden Riesen in Diensten von Peter Rammileese für irgendeinen speziellen, seine Syndikate betreffenden Job eigens aus Schottland importiert worden seien. Und ich hörte Gerüchte, daß es ganz oben im Sicherheitsdienst jemanden geben solle, der angeblich gegen angemessene Bezahlung krumme Dinge wieder geradebiege.«

Sie waren erneut schockiert.

«Wer hat Ihnen das gesagt, Sid?«wollte Sir Thomas wissen.

«Jemand, auf den Verlaß ist«, sagte ich nur und dachte mir, daß sie einen gesperrten Jockey wie Jacksy vielleicht weit weniger verläßlich finden würden als ich.

«Fahren Sie fort.«

«Eigentlich kam ich bei den Syndikaten nicht so recht voran, aber Peter Rammileese glaubte anscheinend das Gegenteil, denn er und seine zwei Muskelmänner stellten Chico und mir eine Falle. Das war vorgestern.«

Sir Thomas überlegte kurz und sagte dann:»Ich dachte, Sie wollten vorgestern mit Lucas nach Newmarket zu den Caspars fahren. Also einen Tag, nachdem Sie uns hier von Trevor Deansgate berichtet hatten.«

«Ja, wir sind auch in Newmarket gewesen. Und ich beging den Fehler, mein Auto den ganzen Tag über und für jedermann sichtbar hier ganz in der Nähe stehenzulassen. Da warteten dann die beiden Burschen auf uns, als wir zurückkamen. Und… äh… sie entführten Chico und mich, und wir landeten auf dem Hof von Peter Rammileese in Tunbridge Wells.«

Sir Thomas runzelte die Stirn. Die anderen hörten meinem sachlichen Bericht weiterhin ruhig zu, denn obwohl ihnen klar sein mußte, daß es da nicht ohne Gewaltanwendung abgegangen sein konnte, waren sie sich doch stillschweigend darin einig, daß so etwas nun einmal vorkam.

Es hatte wohl selten eine stillere, aufmerksamere Zuhörerschaft gegeben, dachte ich.

«Sie setzten Chico und mir ziemlich arg zu«, sagte ich.»Aber wir kamen schließlich doch wieder raus, und zwar dank des kleinen Sohns von Rammileese, der uns zufällig die Tür aufmachte. So endeten wir nicht auf den Straßen von Tunbridge Wells, sondern im Haus meines Schwiegervaters in der Nähe von Oxford.«

Alle sahen auf Charles, der nickte.

Ich holte tief Luft.»Ungefähr zu diesem Zeitpunkt«, sagte ich,»fing ich an, alles andersherum zu sehen.«

«Wie meinen Sie das, Sid?«

«Bis dahin hatte ich geglaubt, die beiden Schotten sollten uns daran hindern, bei den Syndikaten das zu finden, was wir suchten.«

Alle nickten. Natürlich.

«Aber angenommen, das Gegenteil wäre der Fall. Angenommen, ich wäre auf die Syndikate angesetzt worden, um in die Falle gelockt werden zu können. Angenommen, die Falle wäre Sinn und Zweck des ganzen Unternehmens gewesen.«

Schweigen.

Ich war beim schwierigsten, härtesten Teil meines Berichts angelangt und brauchte die Reserven an Durchstehvermögen und Willenskraft, die ich nicht hatte. Ich spürte nur, wie Charles, der völlig unbeweglich neben mir saß, versuchte, mir etwas von seiner Stärke abzugeben.

Und ich spürte, wie ich zitterte. Trotzdem bemühte ich mich, in sachlichem, kaltem Ton weiterzusprechen und die Dinge zu sagen, die ich nicht sagen mochte, die aber gesagt werden mußten.

«Man zeigte mir einen Feind, nämlich Peter Rammi-leese. Man lieferte mir einen Grund dafür, daß ich zusammengeschlagen wurde, nämlich die Syndikate. Man bereitete mich darauf vor, daß so etwas geschehen würde, nämlich durch Mason und sein Schicksal. Man lieferte mir den Hintergrund zu dem, was geschah — und zwar einen Hintergrund, den ich akzeptieren würde.«

Vollkommene Stille und leere, verständnislose Gesichter.

«Wenn jemand«, fuhr ich fort,»aus heiterem Himmel so über mich hergefallen wäre, hätte ich keine Ruhe gegeben, bis ich herausgefunden hätte, wer das gewesen war und warum er es getan hatte. Deshalb dachte ich jetzt: Mal angenommen, jemand wollte mich attackieren, aber unbedingt so, daß ich nicht dahinterkommen würde, wer’s gewesen war und aus welchem Grund er’s getan hatte. Dann würde ich, wenn man mir einen falschen Wer und ein falsches Warum lieferte, damit zufrieden sein und der Sache nicht weiter nachgehen.«

Ein oder zwei Köpfe nickten ganz leicht.

«Und ich habe auch eine Weile an diesen Wer und dieses Warum geglaubt«, sagte ich.»Aber als der Angriff dann erfolgte, war er so unverhältnismäßig. und aus dem, was einer der Angreifer sagte, konnte ich schließen, daß es gar nicht Peter Rammileese war, der sie bezahlte, sondern jemand anderes.«

Stille.

«Als wir uns schließlich ins Haus des Admirals gerettet hatten, fing ich an nachzudenken. Und ich dachte: Wenn der Angriff das Entscheidende war, Peter Rammileese ihn aber nicht veranlaßt hatte, wer war es dann gewesen? Als ich die Sache erst einmal so herum sah, konnte es eigentlich nur einen Wer geben: die Person, die die Fährte gelegt hatte, der ich folgen sollte.«

Die Gesichter erstarrten.

Ich sagte:»Es war Lucas selbst, der uns in den Hinterhalt gelockt hat.«

Alle brachen in lautstarken, wirren, einhelligen Protest aus, rutschten verlegen auf ihren Stühlen herum und mieden meinen Blick, da sie einen, der so schieflag, der so verblendet und so beklagenswert lächerlich war, nicht anschauen mochten.

«Nein, Sid, also wirklich«, sagte Sir Thomas.»Wir haben den größten Respekt vor Ihnen«- die anderen schau-ten drein, als gehöre der größte Respekt jetzt der Vergangenheit an —»aber so etwas können Sie nicht sagen.«

«Ich hätte es wirklich«, entgegnete ich langsam,»vorgezogen, wenn ich nicht hier hätte erscheinen und es sagen müssen. Und ich werde auch nichts mehr sagen, wenn Sie nichts mehr hören wollen. «Ich rieb mir erschöpft die Stirn, und Charles setzte zu einer Bewegung an, als wolle er mich stützen, unterließ es dann aber.

Sir Thomas blickte erst Charles und dann mich an — und was immer er in unseren Gesichtern sah, reichte aus, seine entschiedene Ungläubigkeit in Verwirrung zu verkehren.

«In Ordnung«, sagte er ernst.»Wir hören.«

Die anderen sahen alle so aus, als wollten sie eben das nicht tun, aber wenn der Senior Steward dazu bereit war, dann genügte das.

Ich sagte müde und ohne jede Befriedigung:»Um das Warum verstehen zu können, ist es erforderlich, sich die Ereignisse der vergangenen Monate anzusehen, den Zeitraum, in dem Chico und ich… nun ja, äh… trieben, was wir halt treiben. Und dies, wie Sie selbst gesagt haben, Sir Thomas, mit einigem Erfolg. Wir hatten Glück… hatten zumeist mit leichteren Problemen zu tun… äh… von denen wir den größten Teil lösen konnten. Unser Erfolg war so groß, daß ein paar Gangster versucht haben, uns zu stoppen, sobald wir nur auf der Bildfläche erschienen sind.«

Die Ungläubigkeit der Anwesenden war noch nicht geschwunden, aber sie schienen zumindest zu verstehen, daß zuviel Erfolg Gegenmaßnahmen provozieren konnte. Das unbehagliche Herumrutschen auf den Stühlen hörte langsam auf.

«Wir waren darauf vorbereitet, mehr oder weniger jedenfalls«, sagte ich.»In einigen Fällen erwies es sich sogar als hilfreich, da es uns anzeigte, daß wir uns dem wunden Punkt näherten. Normalerweise ist es so, daß man uns ein paar angeheuerte Schläger mit oder ohne komische Verkleidung auf den Hals schicke, die uns zur Warnung Hiebe verpassen und uns zu verstehen geben, daß wir die Finger von der Sache lassen sollen. Einen Rat«, fügte ich trocken hinzu,»den wir noch nie befolgt haben.«

Sie sahen mich wieder an — und sei es nur von der Seite.

«Nun denn, so allmählich hört man auf, in mir den Jok-key zu sehen, und begreift, daß das, was Chico und ich machen, wohl doch kein Witz ist. Und dann kriegen wir auch noch verliehen, was man als Gütesiegel des Jockey Clubs bezeichnen könnte — und plötzlich sind wir in den Augen der wirklich großen Schurken eine permanente Bedrohung.«

«Haben Sie Beweise dafür, Sid?«fragte Sir Thomas.

Beweise… wenn Trevor Deansgate nicht hier erschien und seine Drohungen vor Zeugen wiederholte, hatte ich keine Beweise. Ich sagte:»Ich bin nur bedroht worden… bisher gab’s nur Drohungen.«

Pause. Keiner sagte etwas, deshalb sprach ich weiter.

«Ich weiß aus verläßlicher Quelle«, sagte ich leicht amüsiert,»daß man sich nicht traut, die Sache zu lösen, indem man Chico und mich beseitigt, weil man fürchtet, daß Leute, die früher durch meine Siege Geld gewonnen haben, in Wut geraten und die Mörder verpfeifen könnten.«

Hier und da ein vorsichtiges Lächeln inmitten der allgemeinen Ablehnung einer derartigen Melodramatik.

«Wie dem auch sei, ein solcher Mord würde wohl genau die Ermittlungen zur Folge haben, die er eigentlich verhindern sollte.«

Das gefiel ihnen schon besser.

«Das nächstbeste nach Mord ist die dauerhaft wirkende Abschreckung. Eine Maßnahme also, die Chico und mir die Arbeit so vergällt, daß wir künftig lieber Bürsten verkaufen. Etwas, was uns davon abhält, uns jemals wieder als Ermittler zu betätigen.«

Ganz plötzlich schien es so, als verstünden sie, was ich sagte. Die anfangs vorhandene, ernste Aufmerksamkeit war wieder da. Ich hielt es für sicher, den Namen Lucas Wainwright wieder ins Spiel zu bringen, und als ich es tat, blieben die heftigen Reaktionen aus.

«Wenn Sie sich einmal für einen Moment vorstellen könnten, daß es im Sicherheitsdienst tatsächlich jemanden gibt, der bestechlich ist, und daß es sich dabei um seinen Direktor handelt, dann möchte ich Sie bitten, sich in die Lage von Lucas zu versetzen und mir zu sagen, ob Sie sehr angetan davon wären, wenn ein unabhängiger Ermittler Erfolge in einem Bereich erzielt, der bislang ausschließlich der Ihre gewesen ist. Würde es Sie, wenn Sie er wären, freuen, Sid Halley hier im Jockey Club zu sehen und zu erleben, wie der Senior Steward ihm gratuliert und ihm unbeschränkte Vollmacht gibt, in sämtlichen Bereichen des Rennsports zu operieren?«

Jetzt starrten mich alle an.

«Würden Sie nicht vielleicht auch fürchten, daß dieser Sid Halley eines Tages über etwas stolpern, etwas herausfinden könnte, was er unter gar keinen Umständen herausfinden darf? Und würden Sie in diesem Augenblick nicht vielleicht auch zu der Ansicht gelangen, daß diese Gefahr ein für allemal beseitigt werden muß? Wie man Unkrautvernichter auf Brennesseln sprüht, bevor sie einen stechen.«

Charles räusperte sich.»Ein Präventivschlag«, sagte er ruhig,»könnte für einen pensionierten Commander durchaus etwas Verlockendes haben.«

Allen fiel ein, daß Charles Admiral gewesen war, und sie blickten nachdenklich drein.

«Lucas ist auch nur ein Mensch«, sagte ich.»Der Titel eines Direktors des Sicherheitsdienstes klingt zwar großartig, aber so groß ist der Sicherheitsdienst nun auch wieder nicht. Ihm gehören doch landesweit nur ganze dreißig hauptamtliche Mitarbeiter an, oder irre ich mich da?«

Alle schüttelten den Kopf.

«Und ich nehme nicht an, daß er ein Vermögen verdient. Es hat auch schon Polizisten gegeben, die Bestechungsgelder angenommen haben. Nun ja, und Lucas kommt dauernd mit Leuten in Berührung, die vielleicht sagen, na, wie wär's mit einem kleinen Tausender bar auf die Hand, Commander, und Sie helfen uns, daß dieses kleine Pro-blemchen da aus der Welt kommt?«

Die Gesichter zeigten wieder Schockiertheit.

«Das kommt nun mal vor«, sagte ich sanft.»Bestechung ist ein blühendes Gewerbe. Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie etwas dagegen haben, daß der Chef des Sicherheitsdienstes die Augen vor Betrügereien verschließt, aber es handelt sich dabei doch wohl eher um einen Vertrauensbruch als um etwas hundsgemein Böses.«

Was er Chico und mir angetan hatte, war sehr wohl etwas hundsgemein Böses, aber darum ging es mir hier nicht.

«Was ich damit sagen möchte«, fuhr ich fort,»ist, daß im größeren Zusammenhang der allgemein auf dieser Welt herrschenden Unmoral die Unredlichkeit von Lucas nicht besonders ins Gewicht fällt.«

Ihre Gesichter verrieten Zweifel, aber das war besser als ablehnendes Kopf schütteln. Wenn man sie dazu bringen konnte, in Lucas einen kleineren Sünder zu sehen, würden sie eher glauben, was er getan hatte.

«Wenn man vom Gedanken der Abschreckung ausgeht«, sagte ich,»sieht man alles mit den Augen der anderen Seite. «Meine Müdigkeit ließ mich verstummen. Ich würde gern ein paar Wochen lang nur schlafen, dachte ich.

«Sprechen Sie weiter, Sid.«

«Nun ja. «Ich seufzte.»Lucas mußte das kleine Risiko eingehen, mich auf etwas anzusetzen, bei dem er selbst beteiligt war, weil es für ihn ja darauf ankam, die Fäden in der Hand zu behalten. Er muß einen fürchterlichen Schrecken bekommen haben, als Lord Friarly ihm berichtete, daß er, Friarly, mich gebeten hatte, diese vier Syndikate zu überprüfen. Wenn er zu diesem Zeitpunkt schon mit dem Gedanken gespielt haben sollte, sich meiner zu entledigen, dann wurde ihm wohl in diesem Augenblick klar, wie das bewerkstelligt werden könnte.«

Ein paar Köpfe nickten heftig, sahen den Zusammenhang.

«Lucas muß sicher gewesen sein, daß ich, wenn ich ein bißchen an der Oberfläche herumkratzte, ihm nicht sehr nahe kommen würde, was ja in der Tat auch der Fall war. Aber er verringerte das Risiko noch dadurch, daß er meine Aufmerksamkeit auf Eddy Keith lenkte. Es war ungefährlich, mich auf Eddys Beteiligung an den fragwürdigen Machenschaften der Syndikate anzusetzen, da es eine solche Beteiligung natürlich gar nicht gab. Da konnte ich ewig suchen und würde nichts finden. «Ich machte eine kleine Pause.»Ich glaube allerdings, daß mir überhaupt nicht die Zeit gelassen werden sollte, irgend etwas herauszufinden. Ich glaube, daß es nur viel länger dauerte, bis man uns zu fassen bekam, als nach dem ursprünglichen Plan vorgesehen war.«

Uns zu fassen… mich zu fassen. Sie hatten es nur auf mich abgesehen, aber wir beide… das war noch besser für sie. und schlimmer für mich.

«Es dauerte länger als vorgesehen? Wie meinen Sie das?«fragte Sir Thomas.

Nimm dich zusammen, dachte ich. Los, weiter.

«Von Lucas’ Standpunkt aus gesehen, war ich sehr langsam«, sagte ich.»Ich beschäftigte mich mit dieser >Glea-ner<-Geschichte und hatte in der Syndikatsangelegenheit eine Woche, nachdem er mir den Auftrag erteilt hatte, noch gar nichts unternommen. Dann wurde ich direkt über Peter Rammileese und Mason informiert, und er hätte erwarten dürfen, daß ich sofort nach Tunbridge Wells fuhr. Ich fuhr aber ganz woanders hin, war eine weitere Woche weg. In dieser Woche hat Lucas Chico viermal angerufen, um zu fragen, wo ich denn stecke.«

Schweigen und wieder gespannte Aufmerksamkeit.

«Als ich zurückkehrte, hatte ich, wie gesagt, meine Notizen verloren und mußte noch einmal zu Lucas ins Büro. Ich erzählte ihm bei dieser Gelegenheit, daß Chico und ich am folgenden Tag, am Samstag, nach Tunbridge Wells zu Peter Rammileese fahren wollten. Ich nehme an, daß es, wenn wir tatsächlich Samstag gefahren wären, da schon zur… äh… Abschreckung gekommen wäre. Wir fuhren jedoch noch am gleichen Nachmittag, also am Freitag, hinaus, und da war Peter Rammileese nicht zu Hause.«

Hatte denn gar keiner Durst? fragte ich mich. Wo blieb denn der Kaffee? Mein Mund war ganz trocken, und alle Knochen taten mir weh.

«An ebendiesem Freitagmorgen bat ich Lucas, den Brief an Henry Thrace zu schreiben. Ich bat ihn außerdem, ja, flehte ihn geradezu an, meinen Namen im Zusammenhang mit der >Gleaner<-Sache nicht zu erwähnen, da mich dies das Leben kosten könne.«

In Falten gelegte Stirnen forderten eine genauere Erklärung.

«Ja… also, Trevor Deansgate hatte mich mit einer in diese Richtung gehenden Warnung aufgefordert, sämtliche Ermittlungen bezüglich dieser Pferde einzustellen.«

Es gelang Sir Thomas, die Augenbrauen zu heben und gleichzeitig ein Stirnrunzeln anzudeuten.

«Sind das die Drohungen, von denen Sie vorhin gesprochen haben?«erkundigte er sich.

«Ja, und er hat sie noch einmal wiederholt, als Sie uns… nun ja… als Sie uns in der Loge in Chester miteinander bekannt gemacht haben.«

«Großer Gott!«

«Mir lag sehr daran, daß im Falle von >Gleaner< der Jok-key Club die Untersuchungen durchführte, damit Trevor Deansgate nicht erfuhr, daß ich etwas damit zu tun hatte.«

«Sie haben also seine Drohungen ernst genommen«, sagte Sir Thomas nachdenklich.

Ich schluckte.»Sie waren… auch ernst gemeint.«

«Ich verstehe«, sagte Sir Thomas, obwohl er das nicht konnte.

«Fahren Sie fort.«

«Ich habe Lucas von diesen Drohungen nichts gesagt«, setzte ich meinen Bericht fort,»sondern ihn nur gebeten, mich nicht mit >Gleaner< in Zusammenhang zu bringen. Aber es dauerte gar nicht lange, da hatte er Henry Thrace schon mitgeteilt, daß es eigentlich ich und nicht der Jockey Club sei, der im Falle von >Gleaners< Tod verständigt werden wolle. Ich dachte zunächst, daß er vielleicht nicht aufgepaßt oder es einfach vergessen hatte, aber inzwischen bin ich der Auffassung, daß es mit voller Absicht geschehen ist. Alles, was zu meinem Tode führen konnte, war ihm willkommen, selbst wenn er nicht wußte, wie das erreicht werden würde.«

Die Gesichter verrieten Zweifel. Zweifel waren möglich.

«Nun, Peter Rammileese — oder Lucas — spürte mich bei meinem Schwiegervater auf, und am Montag folgten mir Peter Rammileese und seine beiden Schotten zu der Reitveranstaltung in Tunbridge Wells. Dort versuchten sie eine Entführung, aber die Sache klappte nicht. Danach blieb ich acht Tage unsichtbar für sie, was sie ungeheuer frustriert haben muß.«

Die Gesichter erwarteten voller Spannung das Weitere.

«In diesen acht Tagen erfuhr ich, daß Peter Rammileese nicht vier Syndikate manipulierte, sondern eher so an die zwanzig, und daß er unterschiedslos Trainer und Jockeys bestach. Zu dieser Zeit hörte ich auch von dem bestechlichen Spitzenmann des Sicherheitsdienstes, der sich all dem gegenüber blind stellte, und ich bedaure zutiefst, sagen zu müssen, daß ich glaubte, es müsse sich dabei um Eddy Keith handeln.«

«Das ist ja wohl verständlich«, sagte Sir Thomas.

«Nun, jedenfalls kamen dann Chico und ich am Dienstag hierher, und Lucas wußte nun endlich, wo ich war. Er schlug vor, am Mittwoch mit nach Newmarket zu fahren, und brachte uns höchstpersönlich in seinem superteuren, klimatisierten Vier-Liter-Mercedes hin. Und obwohl ihm sonst immer so viel daran liegt, keine Zeit zu vertrödeln und Dinge zügig zu erledigen, verbrachte er in Newmarket viele Stunden untätig, in denen er, wie ich jetzt glaube, auf die Aufstellung der Falle wartete, bei der nichts übereilt werden sollte, damit diesmal wirklich nichts schiefging. Und dann fuhr er uns dahin, wo die beiden Schotten schon auf uns warteten, und wir liefen geradewegs in den Hinterhalt hinein. Die Schotten erledigten den Spezialjob, für den sie angeheuert worden waren, nämlich Chico und mich abzuschrecken, und ich hörte dabei, wie einer von ihnen zu Peter Rammileese sagte, daß sie nun, wo sie ihren Auftrag ausgeführt hätten, auf schnellstem Wege in den Norden zurückkehren würden, da sie sich schon viel zu lange im Süden aufhielten.«

Sir Thomas machte einen leicht mitgenommenen Eindruck.

«Ist das alles, Sid?«

«Nein, da ist noch Mason.«

Neben mir bewegte sich Charles, zog erst die Füße unter den Stuhl, schob sie dann wieder nach vorn und schlug endlich die Beine übereinander.

«Ich habe meinen Schwiegervater gestern gebeten, nach Tunbridge Wells zu fahren und sich nach Mason zu erkundigen.«

Charles sagte mit dem eindrucksvollsten Näseln, dessen er fähig war:»Sid bat mich festzustellen, ob dieser Mason überhaupt existiert. Ich sprach in Tunbridge Wells mit der Polizei. Sehr hilfsbereit, alle. Sie haben niemals jemanden namens Mason oder sonstwen halb totgetreten und blind auf ihren Straßen gefunden.«

«Lucas hatte mir das Schicksal von Mason sehr detailliert geschildert«, sagte ich.»Das klang alles sehr überzeugend, und natürlich glaubte ich ihm die Geschichte. Aber hat von Ihnen schon mal jemand von einem für den Sicherheitsdienst tätigen Mason gehört, der so schwer verletzt wurde?«

Sie schüttelten wortlos und finster die Köpfe, und ich verschwieg ihnen, daß mir die Zweifel an der Existenz Masons gekommen waren, als ich in dem Aktenschrank mit der Aufschrift» Personal «keine Unterlagen über ihn gefunden hatte. Selbst wenn es im Dienste der guten Sache geschehen war, würde unser Einbruch in die Räume des Jockey Club wohl kaum ihre Zustimmung finden.

Eine gewisse Düsternis hatte sich auf die Gesichter herabgesenkt, aber es gab immer noch offene Fragen, und es war Sir Thomas, der sie in Worte faßte.

«Ihre umgekehrte Betrachtung der Dinge hat offenbar aber doch eine Schwäche, Sid, nämlich die, daß diese Abschreckung… Sie nicht abgeschreckt hat.«

Nach kurzem Schweigen sagte ich:»Da bin ich nicht ganz so sicher. Denn weder Chico noch ich würden weitermachen können, wenn das bedeutete… wenn wir glaubten… etwas Derartiges könne sich wiederholen.«

«Was genau könne sich wiederholen, Sid?«

Ich antwortete nicht. Ich merkte, wie Charles mich mit seinem ausdruckslosesten Blick von der Seite ansah. Dann erhob er sich ruhig, durchquerte den Raum und gab Sir Thomas den Umschlag, in dem die Aufnahmen von Chico steckten.

«Es war eine Kette«, kommentierte ich in sachlichem Ton. Die Fotos wurden herumgereicht, niemand sagte etwas. Ich mühte mich nicht zu erraten, was sie dachten, sondern hoffte nur, daß sie die Aufforderung nicht aussprechen würden, die, da war ich mir leider sicher, kommen mußte — und Sir Thomas sagte auch prompt:»Hat man Ihnen das auch angetan?«

Ich nickte zögernd.

«Würden Sie bitte mal Ihr Hemd ausziehen, Sid?«

«Hören Sie«, sagte ich,»was bringt das denn? Ich stelle keine Strafanzeige wegen tätlichen Angriffs auf uns oder wegen schwerer Körperverletzung oder wegen sonst etwas dieser Art. Es wird keine Polizei geben, kein Gerichtsverfahren, nichts. Ich habe das alles, wie Sie wohl wissen, schon einmal durchgemacht und will es nicht, absolut nicht noch einmal erleben. Diesmal wird kein Lärm gemacht. Es ist lediglich erforderlich, Lucas davon zu unterrichten, daß ich weiß, was passiert ist, und ihn, wenn Sie das für richtig halten, aufzufordern, von seinem Posten zurückzutreten. Mit weiteren Schritten ist doch nichts zu gewinnen. Sie wollen doch wohl keinen öffentlichen Skandal, der dem gesamten Rennsport nur schaden kann.«

«Ja, aber…«

«Da ist noch dieser Peter Rammileese«, sagte ich.»Vielleicht kann ja Eddy Keith jetzt endlich Ordnung in die Syndikatsgeschichte bringen. Und dann würde es Peter Rammileese nur noch tiefer reinreiten, wenn er damit prahlte, daß er Lucas gekauft hat, weshalb ich glaube, daß er das lassen wird. Und ich bezweifle auch, daß er ein Wort über Chico und mich verlieren wird.«

Ausgenommen vielleicht, dachte ich mit einem gewissen Sarkasmus, daß er sich über die Schläge beschwert, die ich ihm verpaßt habe.

«Und was ist mit den beiden Burschen aus Glasgow?«fragte Sir Thomas.»Sollen die etwa ungeschoren davonkommen?«

«Das wäre mir lieber, als noch einmal als Opfer vor Gericht erscheinen zu müssen«, erwiderte ich. Ich lächelte matt:»Man könnte wohl sagen, daß mich die Sache mit meiner Hand für den Rest meines Lebens von Prozeduren dieser Art abgeschreckt hat.«

Ein gewisses Maß an beherrschter Erleichterung stahl sich auf die Gesichter und in die Atmosphäre unserer Verhandlung.

«Trotzdem«, sagte Sir Thomas.»Der Rücktritt eines Direktors der Sicherheitsabteilung ist keine ganz so einfache Sache. Wir alle müssen entscheiden, ob das, was Sie vorgetragen haben, ausreicht oder nicht. Die Fotos von Mr. Barnes allein tun’s nicht. Also bitte… ziehen Sie Ihr Hemd aus.«

Hol’s der Geier, dachte ich. Ich mochte nicht — und der Widerwille auf ihren Gesichtern verriet mir, daß sie es auch gar nicht sehen wollten. Mir war das Ganze zutiefst verhaßt. Mir war verhaßt, was uns da passiert war, ich empfand nur Abscheu. Ich wünschte, ich wäre nie hergekommen.

«Sid«, sagte Sir Thomas ernst,»Sie müssen.«

Ich knöpfte mein Hemd auf, erhob mich und zog es aus. Das einzige noch vorhandene rosa Stück an mir war der Plastikarm, der Rest bestand aus dunklen Flecken, die von roten Striemen durchzogen waren. Jetzt, wo sich die Blutergüsse erst so richtig verfärbten, sah alles sehr viel schlimmer aus, als es sich anfühlte. Ich wußte wohl, daß der Anblick ziemlich abstoßend war, an diesem Tage mehr denn je. Deshalb hatte ich auch darauf bestanden, zu diesem Zeitpunkt im Portman Square zu erscheinen. Ich hatte ihnen meine Verletzungen nicht zeigen wollen, aber auch gewußt, daß sie darauf bestehen würden und daß ich mich dem nicht würde entziehen können — und wenn das schon so war, dann würde es an diesem Tage am überzeugendsten wirken. Der menschliche Geist war von tückischer Ambivalenz, wenn es darum ging, Feinde zu besiegen.

In einer Woche oder so würden die meisten Flecken und Striemen wieder verschwunden sein, und ich bezweifelte, daß auch nur eine einzige Narbe zurückbleiben würde. Es war ja gerade darauf angekommen, die empfindlichen Nerven unter der Haut zu traktieren, aber nur vorübergehend und ohne Spuren zu hinterlassen. Wenn keine Verletzungen mehr zu sehen waren, konnten die Schotten, sollten sie denn vor Gericht gestellt werden, sicher sein, daß sie ziemlich glimpflich davonkommen würden. Bei der Hand, die nicht zu übersehen gewesen war, hatte das Urteil auf vier Jahre gelautet. Da lag der augenblickliche Kurswert von ein paar durch Schmerzen unbehaglich ge-machten Tagen wahrscheinlich bei etwa drei Monaten. Wenn es bei Raub in Verbindung mit Gewalt zu höheren Gefängnisstrafen kam, dann war es immer der Raub, der die Haftzeit verlängerte, nicht die Gewalt.

«Drehen Sie sich bitte um«, sagte Sir Thomas.

Ich drehte mich um und nach einer Weile wieder zurück. Keiner sagte ein Wort. Charles blickte so gelassen drein, wie es ihm nur möglich war. Sir Thomas erhob sich, trat zu mir und besah sich alles noch etwas eingehender. Dann nahm er mein Hemd vom Stuhl auf und hielt es mir hin, damit ich es wieder anzöge.

Ich sagte:»Danke«, fuhr hinein und knöpfte es zu. Steckte es nicht sehr ordentlich in meine Hose. Setzte mich.

Es schien sehr viel Zeit zu vergehen, bis Sir Thomas auf den Knopf der Sprechanlage drückte und zu seiner Sekretärin sagte:»Seien Sie doch so gut und bitten Sie Commander Wainwright, zu mir zu kommen.«

Wenn die versammelten Administratoren des Jockey Club noch irgendwelche Zweifel gehabt haben sollten, dann zerstreute sie Lucas selbst. Er betrat mit schwungvollem Schritt und völlig ahnungslos den mit Schweigen gefüllten Raum, und als er auch mich dort sitzen sah, blieb er ganz unvermittelt stehen, als sei die Verbindung zwischen seinem Gehirn und seinem Bewegungsapparat schlagartig unterbrochen worden.

Das Blut wich aus seinem Gesicht, und seine graubraunen Augen starrten aus einer verödeten Landschaft zu mir herüber. Mir ging durch den Kopf, daß ich in Trevor Deansgates Augen so ausgesehen haben mußte, als wir uns in der Loge der Stewards in Chester begegnet waren. Ich dachte, daß Lucas mit größter Wahrscheinlichkeit in diesem Augenblick seine Füße auf dem Teppich nicht spürte.

«Lucas«, sagte Sir Thomas.»Setzen Sie sich.«

Lucas tastete sich zu einem freien Stuhl, den Blick nach wie vor fest auf mich gerichtet, als könne er nicht glauben, daß ich wirklich da war, oder als könne er mich durch sein unverwandtes Starren zum Verschwinden bringen.

Sir Thomas räusperte sich.»Lucas, Sid Halley hier hat uns einige Dinge berichtet, die wohl einer Erklärung bedürfen.«

Lucas hörte kaum zu. Lucas sagte zu mir:»Sie können nicht hier sein.«

«Und warum nicht?«fragte ich zurück.

Alle warteten darauf, daß Lucas antwortete, aber er tat es nicht.

Sir Thomas sagte schließlich:»Sid hat schwere Anschuldigungen gegen Sie erhoben. Ich werde sie Ihnen vortragen, Lucas, und dann können Sie in der Ihnen geeignet erscheinenden Weise dazu Stellung nehmen.«

Er wiederholte mehr oder weniger das, was ich den Versammelten berichtet hatte — ohne Emphase und fehlerfrei. Die unparteiische Instanz, dachte ich, die den Dingen die Hitze nimmt, das Leidenschaftliche auf das Einleuchtende reduziert. Lucas schien zuzuhören, blickte aber die ganze Zeit immer nur mich an.

«Sie werden verstehen«, sagte Sir Thomas am Ende seines Vortrages,»wie sehr wir daran interessiert sein müssen, daß Sie Stellung nehmen und das Gesagte entweder bestätigen oder widerlegen.«

Jetzt wandte Lucas den Blick von mir ab und sah sich ziellos im Raum um.

«Das ist natürlich alles reiner Quatsch«, sagte er.

«Weiter«, sagte Sir Thomas.

«Das hat er sich doch nur ausgedacht. «Sein Verstand arbeitete wieder, und er arbeitete schnell. In gewissem Maße war auch die alte Forschheit wieder da.»Ich habe ihm mit Sicherheit nicht den Auftrag erteilt, irgendwelche Syndikate zu überprüfen. Ich habe ihm mit Sicherheit nicht gesagt, daß ich irgendwelche Zweifel an Eddys Zuverlässigkeit hätte. Ich habe nie mit ihm über diesen Phan-tasie-Mason gesprochen. Er hat das alles erfunden.«

«Und wozu?«fragte ich.

«Wie soll ich das wissen?«

«Ich habe nicht erfunden, daß ich zweimal hier gewesen bin, um mich über die vier Syndikate zu informieren und mir Notizen zu machen«, sagte ich.»Ich habe nicht erfunden, daß Eddy sich beschwert hat, weil ich ohne sein Wissen Einsicht in die Unterlagen genommen habe. Ich habe nicht erfunden, daß Sie meinen Mitarbeiter Chico viermal in meiner Wohnung angerufen haben. Ich habe nicht erfunden, daß Sie uns nach der Rückkehr aus Newmarket auf dem Parkplatz hier in der Nähe abgesetzt haben. Ich habe auch Peter Rammileese nicht erfunden, der vielleicht dazu… äh… zu einer Aussage bewegt werden könnte. Ich wäre im übrigen wohl auch in der Lage, diese beiden Schotten auf zutreiben, wenn ich es versuchte.«

«Wie das?«wollte er wissen.

Ich würde den kleinen Mark fragen, dachte ich. Er würde im Laufe der Zeit eine ganze Menge über die Freunde erfahren haben, der kleine Mark mit seinen scharfen Ohren.

Laut aber sagte ich:»Glauben Sie nicht, daß ich diese Schotten erfunden habe?«

Er sah mich unbewegt an.

«Ich könnte auch anfangen«, sagte ich langsam,»nach den wahren Gründen für das alles zu suchen. Die Korruptionsgerüchte bis zu ihren Wurzeln zurückverfolgen. Herausfinden, wer Ihnen außer Peter Rammileese noch ermöglicht, Mercedes zu fahren.«

Lucas Wainwright schwieg. Ich wußte nicht, ob ich wirklich all das zuwege bringen würde, was ich eben angedroht hatte, aber er würde sich in diesem Punkt wohl kaum auf eine Wette einlassen wollen. Wenn er mich nicht für fähig gehalten hätte, hätte er ja nicht versucht, mich loszuwerden. Ich berief mich auf sein Urteil, nicht auf meins.

«Wären Sie damit einverstanden, Lucas?«fragte Sir Thomas. Lucas blickte weiter in meine Richtung und schwieg.

«Andererseits«, sagte ich,»meine ich, daß die Sache erledigt wäre, wenn Sie zurückträten.«

Er starrte nun statt meiner Sir Thomas an. Dieser nickte mit dem Kopf.»Das wäre alles, Lucas. Nur Ihre Rücktrittserklärung, jetzt gleich und schriftlich. Wenn wir die bekommen, sehe ich keinen Grund, warum wir noch weitere Schritte unternehmen sollten.«

So ungeschoren war wohl noch nie jemand davongekommen, aber Lucas mußte es in diesem Moment schlimm genug vorkommen. Sein Gesicht war angespannt und blaß, um seinen Mund zuckte es.

Sir Thomas zog einen Bogen Papier aus einer Schublade seines Schreibtisches und einen vergoldeten Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts.

«Setzen Sie sich hierher, Lucas.«

Er stand auf und bedeutete Lucas, er solle sich an den Schreibtisch setzen.

Commander Wainwright ging mit steifen Beinen zum Schreibtisch und ließ sich zitternd auf dem ihm zugewiesenen Platz nieder. Dann schrieb er ein paar Worte, die ich danach zu lesen bekam: Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Posten des Direktors des Sicherheitsdienstes beim Jockey Club. Lucas Wainwright.

Er blickte in die ernsten Gesichter um sich herum, sah die Leute, die ihn gekannt, die ihm vertraut, die tagtäglich mit ihm zusammengearbeitet hatten. Seit seinem Eintritt in Sir Thomas’ Arbeitszimmer hatte er kein Wort zu seiner Verteidigung gesagt, keinerlei Einspruch erhoben. Ich dachte: Wie merkwürdig muß es für alle sein, sich mit der Notwendigkeit einer so tiefgreifenden Neuorientierung konfrontiert zu sehen.

Er stand auf, der Salz-und-Pfeffer-Mann, und ging zur Tür.

Als er an mir vorbeikam, blieb er kurz stehen und sah mich mit leerem, verständnislosem Blick an.

«Was braucht es«, sagte er,»um Sie zu stoppen?«

Ich antwortete nicht.

Was es brauchte, lag entspannt auf meinem Knie: vier kräftige Finger und einen Daumen — und Unabhängigkeit.

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