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»Bitte die Sicherheitsgurte anschnallen.«

Auf geht's! dachte Dana ganz aufgeregt. Sie blickte zu Benn Albertson und Wally Newman hinüber. Ihr Produzent Benn Albertson, ein bärtiger, nervöser Mann um die Vierzig, hatte nicht nur Nachrichtenprogramme mit höchsten Einschaltquoten verantwortet, sondern er genoß auch allgemein große Hochachtung. Der Kameramann Wally Newman - er war Anfang Fünfzig - war voller Elan und fieberte seinem neuen Aufgabengebiet mit gespannter Ungeduld entgegen.

Dana war in Gedanken mit dem aufregenden Abenteuer beschäftigt, das vor ihr lag. Sie mußten in Paris für den Flug nach Zagreb umsteigen und von dort nach Sarajevo weiterfliegen.

Während ihrer letzten Woche in Washington war Dana von Shelley McGuire, der Leiterin der Auslandsredaktion, auf ihre neue Arbeit vorbereitet worden. »In Sarajevo werden Sie zur Übertragung Ihrer Berichte auf den Nachrichtensatelliten einen Sendewagen benötigen«, erklärte ihr McGuire. »Da wir dort über keinen eigenen verfügen, werden wir uns also bei der jugoslawischen Behörde, der der Nachrichtensatellit gehört, einen Sendewagen mieten müssen. Wenn alles gutläuft, schaffen wir uns später einen eigenen an. Was Ihre Arbeit betrifft, Dana, so werden Sie zweigleisig arbeiten. Einige Berichte werden Sie live bringen, die meisten jedoch auf Band spielen. Benn Albertson wird Ihnen mitteilen, was er gerade braucht. Dann werden Sie das filmische Material aufnehmen und den Soundtrack anschließend in einem einheimischen Fernsehstudio herstellen. Ich habe Ihnen den besten Produzenten und Kameramann der Branche mitgegeben. Probleme dürften für Sie eigentlich keine entstehen.«

Den letzten Satz sollte Dana sich später noch oft in Erinnerung rufen.

Matt Baker hatte am Tag vor der Abreise angerufen. »Kommen Sie zu mir ins Büro.« Er klang schroff.

»Bin schon unterwegs.« Dana legte mit einer dunklen Vorahnung auf. Er hat seine Meinung wegen meiner Versetzung geändert. Er will mich nicht ziehen lassen. Wie kann er mir nur so etwas antun? Na schön, sagte sie sich entschlossen, dann werde ich meinen Willen eben gegen ihn durchsetzen müssen.

»Ich weiß schon, was Sie mir sagen wollen«, hob Dana an, als sie zehn Minuten später in Matt Bakers Büro marschierte, »aber das können Sie sich schenken. Ich gehe trotzdem! Von dieser Arbeit habe ich schon immer geträumt. Außerdem glaube ich, daß ich dort unten Gutes bewirken kann. Sie müssen mir eine Chance geben. Ich muß es versuchen.« Sie holte tief Luft. »In Ordnung«, sagte sie trotzig. »Was wollten Sie mir mitteilen?«

Matt Baker schaute sie an und sagte freundlich: »Bon voya-ge

Dana war völlig überrascht. »Was?«

»Bon voyage bedeutet: Gute Reise.«

»Ich weiß, was bon voyage heißt. Ich - haben Sie mich denn nicht zu sich bestellt, um ...?«

»Ich habe Sie rufen lassen, weil ich mich mit einigen unserer Auslandskorrespondenten unterhalten habe und Ihnen ein paar gute Empfehlungen nennen möchte.«

Dieser schroffe Brummbär von einem Mann hatte sich die Zeit genommen und die Mühe gemacht, mit einer ganzen Reihe von Auslandskorrespondenten zu konferieren, um ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen zu können! »Ich ... ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen .«

»Dann lassen Sie's«, brummte er. »Sie begeben sich mitten in ein Gebiet, wo ein offener Krieg tobt. In solchen Situationen besteht keine Möglichkeit, daß man sich hundertprozentig schützt; den Kugeln ist es nämlich völlig egal, welchen Menschen sie töten. Es gibt da jedoch ein Phänomen, das Sie unbedingt beachten müssen. Wenn Sie sich inmitten von Kriegshandlungen befinden, schießt der Adrenalinspiegel in die Höhe, und die erhöhte Adrenalinzufuhr kann einen Menschen unvorsichtig machen, so daß er Dummheiten begeht, zu denen er sich normalerweise nie hinreißen lassen würde. Sie müssen also lernen, sich unter Kontrolle zu haben. Gehen Sie immer auf Nummer Sicher. Laufen Sie nicht allein auf den Straßen herum. Es gibt keine Nachricht und keinen Bericht, der es wert wäre, daß Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen. Und noch etwas .«

Der Vortrag hatte fast eine Stunde gedauert, bis Matt Baker schloß: »Also, das war's. Passen Sie auf sich auf. Falls Sie es dazu kommen lassen sollten, daß Ihnen etwas zustößt, würde ich verdammt böse werden.«

Dana beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

»Tun Sie das nie wieder!« fuhr er sie an und stand auf. »Dort unten auf dem Balkan wird es für Sie hart werden, Dana. Falls Sie sich's anders überlegen sollten, wenn Sie dort unten angekommen sind, und wieder heimkommen möchten, dann geben Sie mir Bescheid, und ich werd's regeln.«

»Ich werde es mir aber nicht anders überlegen«, erwiderte Dana im Brustton der Überzeugung.

Da irrte sie allerdings, wie sich noch herausstellen sollte.

Bis Paris verlief der Flug nach Plan. Als sie nach der Landung auf dem Flughafen Charles de Gaulle im Minibus zur Croatia Airlines gefahren wurden, erfuhren sie, daß der Anschlußflug drei Stunden Verspätung hatte.

Auf dem Butmir-Flughafen von Sarajevo kamen sie um zehn Uhr abends an. Die Passagiere wurden in einem Sicherheitstrakt zusammengepfercht, wo man sie nach der Paßkontrolle durch uniformierte Wachen weiterwinkte. Dana steuerte auf den Ausgang zu, als ihr ein auffällig unangenehmer Mann in Zivil in den Weg trat. »Ihren Paß.«

»Aber ich habe meinen Paß doch schon ...«

»Ich bin Oberst Gordan Divjak. Ihren Paß.«

Dana überreichte ihm ihren Paß mitsamt der Presseausweise.

Er blätterte den Paß durch. »Journalistin?« Er musterte sie mit einem stechenden Blick. »Auf wessen Seite stehen Sie?«

»Ich stehe auf niemandes Seite«, erwiderte Dana ruhig und kühl.

»Passen Sie auf, was Sie berichten«, warnte Oberst Divjak. »Spionage wird bei uns nicht als Kavaliersdelikt behandelt.«

Willkommen in Sarajevo.

Sie wurde von einem dunkelhäutigen Fahrer Anfang Zwanzig mit einem kugelsicheren Landrover am Flughafen abgeholt. »Ich bin Jovan Toli. Zu Ihrer Verfügung. Ich werde in Sarajevo Ihr Chauffeur sein.«

Jovan fuhr schnell. Er schnitt die Kurven und raste durch die verlassenen, menschenleeren Straßen, als ob ihnen Verfolger im Nacken säßen.

»Entschuldigung«, sagte Dana nervös, »aber gibt es einen Grund für diese Eile?«

»Ja, wenn Ihnen daran liegt, lebend anzukommen.«

»Aber .«

Aus der Ferne vernahm Dana ein Donnergrollen, das offensichtlich näher rückte. Was sie da hörte, war jedoch nicht Donner.

Dana machte in der Dunkelheit zerstörte Häuserfronten aus, Wohnblöcke ohne Dach, Geschäfte, die keine Schaufenster mehr besaßen. Ein Stück weiter vorn erspähte sie das Holiday Inn - das Hotel, in dem sie untergebracht war. Die Fassade des Hotels war übersät mit Einschüssen und in der Auffahrt gähnte ein tiefes Loch. Der Landrover ließ die Auffahrt rechts liegen und sauste weiter.

»Warten Sie! Das ist doch unser Hotel!« rief Dana. »Wo wollen Sie denn hin?«

»Die Benutzung des Haupteingangs ist viel zu gefährlich«, erklärte Jovan und jagte seitlich am Hotel vorbei, um dann in einen schmalen Nebenweg abzubiegen. »Hier benutzen alle nur den hinteren Eingang.«

»Ach so.« Dana bekam plötzlich einen trockenen Mund.

In der Hotellobby, wo die Menschen verloren herumlungerten oder in kleinen Gruppen beisammenstanden, kam ein junger Franzose auf Dana zu. »Ah - wir haben schon auf Sie gewartet. Sie sind doch Dana Evans, nicht wahr?«

»Ja.«

»Jean Paul Hubert, M6, Metropole Television.«

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Darf ich Sie mit meinen Kollegen Benn Albertson und Wally Newman bekanntmachen.« Man gab einander die Hand.

»Willkommen in der Stadt, von der täglich weniger übrigbleibt.«

Andere gesellten sich zu ihnen und stellten sich reihum vor.

»Stefan Mueller, Kabel Network.«

»Roderick Munn, BBC 2.«

»Marco Benelli, Italia I.«

»Juan Santos, Programm 6, Guadalajara.«

»Chun Qian, Shanghai Television.«

Dana hatte den Eindruck, daß alle Länder der Welt einen Journalisten nach Sarajevo entsandt hatten - das Vorstellen nahm kein Ende. Als letzter stellte sich ein stämmiger Russe mit blitzenden Goldzähnen vor. »Nikolai Petrowitsch, Gori-zont.«

»Wie viele Kriegsberichterstatter sind hier eigentlich tätig?« wollte Dana von Jean Paul wissen.

»Über zweihundertfünfzig. Es gibt schließlich nicht viele so farbenreiche Kriege wie in Bosnien-Herzegowina. Ist es Ihr erster Kriegseinsatz?«

Es klang fast so, als ob er von einem Tennisturnier spräche.

»Ja.«

»Lassen Sie es mich bitte wissen, falls ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann«, erklärte Jean Paul.

»Danke.« Sie zögerte, bevor sie die Frage aussprach. »Wer ist dieser Oberst Gordon Divjak?«

»Mit dem machen Sie besser gar nicht erst Bekanntschaft. Keiner weiß Genaues über ihn, wir sind jedoch einstimmig der Überzeugung, daß er dem serbischen Äquivalent der Gestapo angehört. Ich kann Ihnen nur den guten Rat geben, diesem Mann aus dem Weg zu gehen.«

»Ich werd's mir merken.«

Dana wollte sich gerade schlafen legen, als auf der gegenüberliegenden Straßenseite plötzlich eine heftige Detonation erfolgte, an die sich unmittelbar eine zweite Explosion anschloß. Das ganze Zimmer erbebte. Es war erschreckend und erhebend zugleich; es schien völlig irreal, wie eine Szene aus einem Film. Dana lag die ganze Nacht über wach und beobachtete die Zuckungen des Lichtscheins der Explosionen auf den schmutzigen Scheiben der Hotelfenster. Dana kam sich eigenartig vor, als sie am Morgen Jeans, Stiefel und eine kugelsichere Weste anzog; dann fiel ihr jedoch Matts Ratschlag wieder ein: »Gehen Sie auf Nummer Sicher ... Keine Nachricht, kein Bericht ist es wert, daß Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen.«

Beim Frühstück im vorderen Hotelrestaurant unterhielt sie sich mit Benn und Wally über Familie und Verwandtschaft.

»Ich hatte ganz vergessen, euch die schöne Neuigkeit zu erzählen«, sagte Wally. »Ich werde in einem Monat zum erstenmal Großvater.«

»Das ist ja phantastisch!« rief Dana und überlegte: Ob ich wohl selbst je einmal Kinder und Enkelkinder haben werde? Que serä serä?

»Ich hab eine Idee«, meinte Benn. »Wir sollten zuallererst einen allgemeinen Überblick zur hiesigen Lage und über die Auswirkungen auf das Leben der Menschen liefern. Ich mache mich mit Wally auf die Suche nach geeigneten Drehorten. Warum besorgen Sie uns inzwischen nicht Sendezeit beim Satelliten, Dana?«

»Okay.«

Jovan Toli wartete im Landrover auf der Zufahrt zum. hinteren Hoteleingang. »Dobro jutro. Guten Morgen.«

»Guten Morgen, Jovan. Fahren Sie mich bitte zu der Behörde, wo ich Satellitenzeit buchen kann.«

Auf dieser Fahrt konnte Dana sich erstmals ein Bild vom Zustand Sarajevos machen. Sie gewann den Eindruck, als ob kein einziges Gebäude unbeschädigt geblieben wäre, und der Lärm von Geschützfeuer hielt ununterbrochen an.

»Hören sie denn nie auf?« fragte Dana.

»Sie werden aufhören, wenn ihnen die Munition ausgeht«, antwortete Jovan verbittert, »und die Munition wird denen nie ausgehen.«

Bis auf einige wenige Fußgänger waren die Straßen verlassen. Sämtliche Cafes waren geschlossen. Die Bürgersteige waren übersät mit Einschußnarben.

»Das ist unsere Zeitung«, erklärte Jovan voller Stolz, als sie am Gebäude der Oslobodjenje vorbeifuhren. »Die Serben haben immer wieder versucht, sie zu zerstören, aber sie schaffen es nicht.«

Sie hatten die Büros der Satellitenbehörde wenige Minuten später erreicht. »Ich warte hier unten auf Sie«, erklärte Jovan.

Hinter dem Schreibtisch in der Eingangshalle saß ein Herr am Empfang, der offenbar weit über achtzig Jahre alt war.

»Sprechen Sie Englisch?« fragte Dana.

Er schaute sie teilnahmslos-gelangweilt an. »Ich spreche neun Sprachen, Madame. Was wünschen Sie?«

»Ich gehöre zur wte. Ich möchte Satellitenzeit buchen und zu einer Verabredung kommen wegen ...«

»Dritter Stock.«

Jugoslawien Satellitenabteilung lautete die Aufschrift des Türschilds. Der Warteraum war voll. Auf den Bänken, die sich an den Wänden entlangzogen, saßen Männer dichtgedrängt.

Dana stellte sich der jungen Frau an der Rezeption vor. »Ich bin Dana Evans von wte. Ich würde gerne Satellitenzeit buchen.«

»Setzen Sie sich bitte. Warten Sie, bis Sie an der Reihe sind.«

Dana blickte sich im Raum um. »Sind all diese Menschen etwa hergekommen, um Satellitenzeit zu buchen?«

Die Frau schaute sie erstaunt an und sagte: »Selbstverständlich.«

Fast zwei Stunden lang mußte Dana warten, bis sie in das Büro des Leiters eingelassen wurde - ein kleiner, rundlicher Mann mit einer Zigarre zwischen den Lippen, der sie an das alte Klischee eines Filmmoguls aus Hollywood erinnerte.

»Was kann ich für Sie tun?« Er sprach Englisch mit einem starken Akzent.

»Ich bin Dana Evans von wte. Ich würde bei Ihnen gern einen Sendewagen mieten und den Satelliten für eine halbe Stunde buchen. Ideal wäre achtzehn uhr Washingtoner Zeit -ich würde die gleiche Übertragungsperiode Tag um Tag auf unbegrenzte Zeit benötigen.« Sie registrierte den Ausdruck auf seinem Gesicht. »Probleme?«

»Nur ein einziges. Es steht keine Satellitenbuchungszeit zur freien Verfügung. Der Satellit ist voll ausgebucht. Ich werde Sie verständigen, wenn jemand anders seine Reservierung storniert.«

Sie schaute ihn bestürzt an. »Keine ...? Aber ich brauche Satellitenzeit für meine Arbeit«, wandte sie ein. »Ich bin .«

»Ihre Kollegen sind ebenso auf Satellitenzeit angewiesen wie Sie, Madame. Natürlich diejenigen ausgenommen, die über

einen eigenen Sendewagen verfügen.«

Der Warteraum war voll, als Dana hinausging. Dann muß ich eine andere Lösung finden, dachte sie.

»Fahren Sie mich bitte durch die Stadt«, sagte Dana zu Jo-van.

Er drehte sich um, als ob er etwas erwidern wollte, zuckte dann aber nur die Achseln. »Wie Sie wünschen.« Er ließ den Motor an und begann, in einem irren Tempo durch die Straßen zu jagen.

»Etwas langsamer, bitte, ich muß doch ein Gefühl von der Stadt bekommen.«

Sarajevo war eine Stadt im Belagerungszustand. Es gab hier weder Strom noch fließendes Wasser; und mit jeder Stunde gerieten weitere Häuser unter Beschuß. Der Luftalarm setzte so oft ein, daß die Menschen ihn schon gar nicht mehr beachteten. Die ganze Stadt schien wie unter einer Dunstglocke des Fatalismus zu liegen: Wenn die Kugel für dich bestimmt ist, gibt es kein Verstecken.

An fast jeder Straßenecke verkauften Männer, Frauen und Kinder das wenige, was sie noch an Habseligkeiten besaßen.

»Flüchtlinge aus Bosnien und Kroatien«, erklärte Jovan. »Sie versuchen, genug Geld zusammenzukriegen, damit sie sich etwas zum Essen kaufen können.«

Überall wüteten Brände. und nirgends waren Feuerwehrmänner in Sicht.

»Gibt es hier denn keine Feuerwehr?« fragte Dana.

Jovan zuckte die Achseln. »Doch, aber sie trauen sich nicht herauskommen. Sie würden den serbischen Heckenschützen eine viel zu gute Zielscheibe bieten.«

In den ersten Tagen hatte Dana dem Krieg ziemlich verständnislos gegenübergestanden; sie hatte nicht begriffen, welche Ziele die Kämpfenden verfolgten, was der Krieg für einen Sinn hatte. Nach einer Woche Aufenthalt in Sarajevo war ihr klar, daß dieser Krieg völlig unsinnig war. Für diesen Krieg wußte niemand einen Grund anzugeben. Irgend jemand gab ihr dann den Namen und die Adresse eines universitätsprofessors, eines bekannten Historikers, der nach einer Verwundung ans Haus gefesselt war. Dana beschloß, ihn für ein klärendes Gespräch aufzusuchen.

Jovan führte sie in das alte Stadtviertel, wo Professor Mladic Staka wohnte - ein alter Herr mit grauen Haaren, der fast schon ätherisch wirkte. Eine Kugel hatte ihm das Rückgrat zerschmettert. Er war gelähmt.

»Schön, daß Sie gekommen sind«, sagte er. »Ich bekomme nicht mehr viel Besuch. Sie wollten mich etwas fragen, haben Sie gesagt.«

»Ja. Ich soll über diesen Krieg berichten«, entgegnete Dana. »Ich habe aber - um die Wahrheit zu sagen - große Schwierigkeiten, ihn zu verstehen.«

»Das hat einen schlichten Grund, meine Liebe. Der Krieg in Bosnien und Herzegowina übersteigt den menschlichen Verstand. Serben, Kroaten, Bosnier und Muslime haben unter Tito jahrzehntelang in Frieden zusammengelebt, waren Freunde, Nachbarn, wuchsen zusammen auf, waren Kollegen, sind in die gleichen Schulen gegangen und haben untereinander geheiratet.« »und nun?«

»Es sind diese Freunde, Nachbarn und Verwandten, die gleichen, die einander jetzt foltern und ermorden und sich in ihrem Haß zu solch widerlichen Handlungen hinreißen lassen, daß ich es nicht in Worte zu fassen vermag.«

»Ein paar solcher Geschichten habe ich gehört«, sagte Dana. Es waren in der Tat unglaubliche Geschichten: von einem Brunnen, der mit menschlichen Hoden aufgefüllt worden war; von vergewaltigten und anschließend abgeschlachteten Babys; von unschuldigen Dorfbewohnern, die in Kirchen eingesperrt worden waren, die dann in Brand gesteckt wurden.

»und wer hat mit alldem angefangen?«

Er schüttelte den Kopf. »Das kommt ganz drauf an, wen sie fragen. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Serben, die an der Seite der Alliierten kämpften, zu Hundertausenden von den Kroaten umgebracht, die auf der Seite der Nazis standen. Jetzt nehmen die Serben mit der Geiselnahme des ganzen Landes und einem erbarmungslosen Vorgehen dafür blutige Rache. Allein Sarajevo ist mit über zweihunderttausend Granaten beschossen worden. Es gibt mindestens zehntausend Tote und über sechzigtausend Verwundete. Die Bosnier und die Muslime tragen selbst ein Gutteil der Verantwortung für das Foltern und Morden. Doch den Menschen, die den Krieg nicht wollen, wird er aufgezwungen. Keiner kann dem andern mehr trauen, nur Haß ist geblieben. Was wir jetzt haben, ist ein Brand, der sich selber nährt, und die Leichen der unschuldigen schüren das Feuer.«

Als Dana nachmittags zum Hotel zurückkehrte, wurde sie bereits von Benn Albertson erwartet, der darauf brannte, ihr eine Mitteilung weiterzugeben, die er inzwischen erhalten hatte: daß ihnen am nächsten Tag um achtzehn uhr ein Sendewagen und eine halbe Stunde zur Benutzung des Satelliten zur Verfügung stehen würden.

»und ich habe einen idealen Drehort für uns gefunden«, erklärte Wally Newman. »Es gibt hier in Sarajevo einen Platz, an dem eine katholische Kirche, eine Synagoge und eine protestantische Kirche stehen. Sie liegen nur eine Straßenlänge voneinander entfernt. Alle drei sind ausgebombt worden, Dana, Sie könnten einen Bericht über den Haß senden, der keine unterschiede kennt und alles gleichermaßen zerstört. Daran könnten Sie veranschaulichen, was der Haß den Einwohnern getan hat, die nichts mit dem Krieg zu tun haben und doch von ihm getroffen werden.«

Dana nickte. »Großartig. Wir treffen uns beim Abendessen wieder. Jetzt muß ich mich an die Arbeit machen.« Und sie verschwand auf ihr Zimmer.

Am nächsten Tag trafen Dana, Wally und Benn sich um achtzehn uhr an dem Platz mit den zwei Kirchen und der Synagoge. Wally hatte seine Kamera auf einem Stativ positioniert; Benn wartete auf Bestätigung aus Washington, daß das Signal für die Satellitenübertragung gekommen war. Aus unmittelbarer Nähe waren die Schüsse der Heckenschützen zu hören. Es gibt keinen Grund zur Angst, redete Dana sich ein. Sie schießen ja nicht auf uns. Sie schießen nur aufeinander. Sie brauchen uns doch, damit die Welt ihre Geschichte erfährt.

Dana sah Wally winken. Sie atmete einmal durch, schaute ins Kameraobjektiv und begann zu sprechen.

»Die völlig ausgebombten Kirchen, die Sie hinter mir sehen, symbolisieren, was in diesem Land vor sich geht. Hier gibt es keine Mauern mehr, hinter denen die Menschen sich verstekken können, keinen Ort, wo sie Schutz finden. In früheren Epochen haben die Menschen in ihren Kirchen Zuflucht gefunden. Hier aber sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander übergegangen und ...«

In eben diesem Moment hörte sie ein schrilles Pfeifen. Sie hob den Kopf und sah Wallys explodierenden Kopf - wie eine rote, aufplatzende Melone. Das ist eine lichtbedingte Täuschung, dachte Dana, mußte dann jedoch beobachten, wie Wallys Körper zusammensackte und auf den Bürgersteig fiel. Sie war entsetzt, versteinerte, verlor die Fassung. Ringsum erhob sich Geschrei.

Das Stakkato des Schnellfeuers eines Heckenschützen kam immer näher. Dana verlor die Beherrschung über ihren Körper; sie wurde von einem hemmungslosen Zittern ergriffen, von mehreren Händen gepackt und rasch ans Ende der Straße gebracht. Sie wehrte sich, wollte sich losreißen.

Nein! Wir müssen uns wieder an die Arbeit machen. Wir haben unsere zehn Minuten Sendezeit noch nicht ausgefüllt. Du darfst nicht verschwenden. Nicht Wally ... es ist nicht recht, Zeit zu verschwenden. »Iß deine Suppe auf, Liebling. In China müssen die Kinder hungern.« Du glaubst wohl, daß du ein Gott bist, du da oben, der du auf einer weißen Wolke thronst? Da will ich dir mal was sagen: Ein Schwindler bist du. Ein wahrer Gott hätte es nie zugelassen, daß Wally der Kopf abgeschossen wurde. Wally hat darauf gewartet, zum erstenmal Großvater zu werden, ein Enkelkind zu bekommen. Hörst du mir zu? Hörst du? Hörst du?

Sie stand unter Schock. Ihr war überhaupt nicht bewußt, daß sie durch eine Seitenstraße zum Wagen abgeführt wurde.

Als Dana die Augen öffnete, lag sie in ihrem Bett im Hotelzimmer, und Benn Albertson und Jean Paul Huber beugten sich über sie.

Dana schaute in ihre Gesichter: »Es ist wahr, ja?« Und kniff die Augen ganz fest wieder zu.

»Es tut mir so leid«, sagte Jean Paul. »Es ist furchtbar, so etwas mitzuerleben. Sie haben wirklich Glück gehabt, daß Sie nicht auch tot sind.«

Die Stille im Raum wurde durch das Läuten des Telefons erschüttert. Benn nahm den Hörer ab. »Hallo.« Er lauschte kurz. »Jawohl, Holden.« Er wandte sich an Dana. »Es ist Matt Baker. Sind Sie in der Lage, mit ihm zu sprechen?«

»Ja.« Dana setzte sich im Bett auf, wartete einen Augenblick und ging dann zum Telefon hinüber. »Hallo.« Ihre Kehle war trocken. Das Reden fiel ihr schwer.

Matts Stimme dröhnte in ihr Ohr. »Ich möchte, daß Sie nach Hause kommen, Dana.«

Ihre Stimme war ein Flüstern. »Ja. Ich möchte heim.«

»Ich werde dafür sorgen, daß Sie in der ersten Maschine, die Sarajevo verläßt, einen Platz bekommen.«

»Danke.« Der Hörer fiel ihr aus der Hand.

Jean Paul und Benn halfen ihr wieder zurück ins Bett.

»Entschuldigung«, sagte Jean Paul erneut. »Mann . da fehlen einem die Worte.«

Ihr liefen Tränen über die Wangen. »Warum haben sie Wally getötet? Er hat nie einem Menschen ein Leid getan. Was geht hier vor? Hier werden Menschen geschlachtet wie Tiere, und es kümmert keinen. Es kümmert niemand!«

»Dana«, sagte Benn, »es gibt nichts, was wir dagegen unternehmen könnten .«

»Aber es muß doch eine Möglichkeit geben, etwas dagegen zu tun!« Danas Stimme bebte vor Zorn. »Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, daß die Menschen in der Welt Anteil nehmen. Es geht doch in diesem Krieg nicht um zerbombte Kirchen, Gebäude oder Straßen. Es geht um das Leben unschuldiger Menschen, darum, daß ihnen der Kopf vom Leib geschossen wird. Darüber müssen wir berichten. Es ist die einzige Möglichkeit, damit die Welt begreift, daß hier wirklich Krieg herrscht.« Sie drehte sich zu Benn um, holte tief Luft und erklärte: »Ich bleibe, Benn. Ich lasse mich nicht von hier verjagen.«

Benn musterte sie besorgt. »Dana, sind Sie sicher, daß ...?«

»Absolut sicher. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Würden Sie bitte Matt anrufen und es ihm mitteilen?«

»Wenn das wirklich Ihr Wunsch ist«, sagte er widerstrebend. »Wenn Sie es unbedingt wollen.«

Dana nickte. »Genau das ist mein Wille.« Sie sah Benn hinterher, wie er aus dem Raum ging.

»Also«, meinte Jean Paul, »da sollte ich jetzt wohl gehen, damit Sie sich ...«

»Nein.« Vor ihrem inneren Auge sah sie Wallys platzenden Kopf, seinen zu Boden stürzenden Körper. Sie schaute Jean Paul an. »Bitte, bleiben Sie. Ich brauche Sie.«

Jean setzte sich zu ihr aufs Bett. Und Dana nahm ihn in die Arme und hielt ihn fest.

Am nächsten Morgen bat Dana Benn Albertson: »Könnten Sie mir einen Kameramann besorgen? Jean Paul hat mir von einem

Waisenhaus in Kosovo erzählt, das gerade bombardiert worden ist. Ich will hinfahren und darüber berichten.«

»Ich werde sicher jemanden auftreiben.«

»Danke, Benn. Ich fahre voraus. Wir treffen uns dort.«

»Seien Sie vorsichtig!«

»Keine Sorge.«

Jovan wartete in dem Seitenweg auf Dana.

»Wir fahren nach Kosovo«, sagte Dana.

Jovan schaute ihr in die Augen. »Das ist aber gefährlich, Madam. Die einzige Straße dorthin führt durch die Wälder und .«

»Wir haben unsere Portion Pech bereits abgekriegt, Jovan. Wir werden bestimmt keine Schwierigkeiten bekommen.«

»Wie Sie wünschen.«

Sie fuhren aus der Stadt hinaus, und eine Viertelstunde später kamen sie bereits in eine dicht bewaldete Gegend.

»Wie weit ist es noch?« wollte Dana wissen.

»Nicht sehr weit. Wir müßten in .«

In diesem Augenblick fuhr der Landrover auf eine Landmine.

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