15

Sie wurde nackt aus ihrer Zelle auf einen kalten, finsteren Hof geschleppt. Sie wehrte sich wie wild gegen die zwei Männer, die sie festhielten, war ihnen jedoch nicht gewachsen. Im Hof warteten sechs Soldaten, die mit den Gewehren bei Fuß standen, als sie - schreiend - zu einem in den Boden eingeschlagenen Holzpfosten gezerrt und dort festgebunden wurde. Oberst Gordan Divjak schaute seinen Männern bei dieser Arbeit zu.

»Das können Sie nicht mit mir machen! Ich bin keine Spionin!« Sie schrie es heraus, doch gegen das Krachen des Gewehrfeuers kam ihre Stimme nicht an.

Oberst Divjak trat von ihr weg und gab dem Exekutionskommando ein Zeichen mit dem Kopf. »Fertig. Zielen .«

»Lassen Sie das Schreien!«

Sie wurde von groben Händen geschüttelt. Ihr Herz schlug wie wild. Sie öffnete die Augen: Sie lag in ihrer kleinen dunklen Gefängniszelle auf dem Feldbett; vor ihr stand Oberst Divjak.

Angsterfüllt schoß Dana auf ihrem Feldbett hoch. Sie blinzelte, versuchte einen klaren Blick zu bekommen, den Alptraum loszuwerden. »Was ... was wollen Sie mir tun?«

»Wenn es auf Erden Gerechtigkeit gäbe«, erwiderte Oberst Divjak mit eiskalter Stimme, »würden Sie erschossen werden. Leider habe ich Anweisung erhalten, Sie freizulassen.«

Danas Herzschlag setzte eine Sekunde lang aus.

»Wir werden Sie in die erste abfliegende Maschine setzen.« Oberst Divjak fixierte sie scharf. »Und«, fuhr er fort, »kommen Sie nie wieder in unser Land.«

Es hatte des ganzen politischen Druckes bedurft, den das amerikanische Außenministerium und der Präsident persönlich aufzubringen vermochten, um Dana Evans zu befreien. Als

Peter Tager von der Festnahme in Sarajevo erfuhr, hatte er sofort den Präsidenten angesprochen.

»Ich habe eben einen Anruf von unserem Außenministerium erhalten. Dana Evans ist wegen des Vorwurfs der Spionage verhaftet worden. Ihr droht die Hinrichtung.«

»Großer Gott! Das ist ja furchtbar. Das können wir nicht zulassen.«

»Genau. Ich hätte von Ihnen gern die Genehmigung, in diesem Sinne in Ihrem Namen tätig zu werden.«

»Genehmigt. Tun Sie alles, was nötig ist, um das zu verhindern.«

»Ich werde mit dem Außenministerium zusammenarbeiten. Und wenn es uns gelingt, wird die Tribune vielleicht ein bißchen sanfter mit Ihnen umgehen.«

Oliver schüttelte den Kopf. »Darauf würde ich lieber nicht bauen. Es sollte uns genügen, Miss Evans aus dieser Hölle herauszuholen.«

Nach Dutzenden von hektisch geführten Telefonaten, unter dem Druck des Weißen Hauses, des amerikanischen Außenministers sowie des Generalsekretärs der Vereinten Nationen erklärten Danas Kerkermeister sich endlich, wenn auch nur zögernd, dazu bereit, sie freizugeben.

Als die Nachricht von ihrer Befreiung eintraf, stürmte Peter Tager zu Oliver. »Sie ist frei. Sie ist zu uns unterwegs.«

»Großartig.«

Auf dem Weg zu einer Sitzung mußte er an diesem Morgen immer wieder an Dana Evans denken. Ich bin ja so froh, daß wir sie retten konnten.

Er konnte nicht ahnen, daß ausgerechnet diese Tat ihm das Leben kosten würde.

Auf dem Dulles International Airport warteten außer Matt Baker zwei Dutzend Zeitungs-, Fernseh- und Rundfunkreporter, als die Maschine mit Dana an Bord landete.

Dana wollte es nicht glauben, als sie die wartende Menge sah, die sich zu ihrer Begrüßung versammelt hatte. »Was ist denn ...?«

»Hierher schauen, Dana, und bitte lächeln!«

»Wie sind Sie behandelt worden? Ist es zu irgendwelchen brutalen Handlungen Ihnen gegenüber gekommen?«

»Was ist das für ein Gefühl, wieder zu Hause zu sein?«

»Gestatten Sie bitte ein Foto!«

»Haben Sie vor, wieder dorthin zurückzukehren?«

Alle sprachen gleichzeitig. Dana war so überwältigt, daß sie wie angewurzelt stehenblieb, bis Matt Baker die Initiative ergriff und sie in eine wartende Limousine drängte, die sofort davonbrauste.

»Was . was geht hier vor?« fragte Dana.

»Sie sind berühmt geworden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Damit kann ich überhaupt nichts anfangen, Matt.« Sie schloß die Augen. »Danke, daß Sie mich da herausgeholt haben.«

»Dafür müssen Sie sich bei dem Präsidenten und bei Peter Tager bedanken. Die beiden haben alles in Bewegung gesetzt. Und Leslie Stewart schulden Sie ebenfalls Dank.«

Als Leslie durch Matt von Danas Festnahme erfuhr, hatte sie erklärt: »Diese Mistkerle! Das nimmt die Tribune nicht so einfach hin. Das lassen wir uns nicht bieten. Sorgen Sie dafür, daß die Typen sie freigeben. Ziehen Sie alle Drähte, über die Sie verfügen. Holen Sie mir Dana dort heraus.«

Dana schaute aus dem Fenster der Limousine. Draußen liefen plaudernde, lachende Menschen über die Straße. Es waren weder Gewehrschüsse noch Artillerieeinschläge zu hören. Die Stille war ihr unheimlich.

»Der Redakteur unseres Immobilienressorts hat für Sie eine Wohnung gefunden. Dort bringe ich Sie jetzt hin. Ich möchte Sie bitten, sich erst einmal auszuruhen - Pause zu machen. Mit dem Arbeiten fangen wir dann an, wenn Sie wieder soweit sind.« Er musterte sie prüfend. »Wie fühlen Sie sich? Wenn Sie einen Arzt konsultieren möchten, werde ich .«

»Ich bin völlig gesund. Unser Pariser Büro hat mich bereits zu einem Arzt geschickt.«

Die Wohnung lag an der Calvert Street - es war eine sehr hübsch möblierte Wohnung mit Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, Bad und einem kleinen Arbeitszimmer.

»Entspricht das Ihren Vorstellungen?«

»Genau richtig, danke, Matt.«

»Ich habe den Kühlschrank für Sie auffüllen lassen. Wenn Sie sich ausgeruht haben, werden Sie morgen wahrscheinlich Kleider kaufen wollen. Stellen Sie alles der Zeitung in Rechnung.«

»Danke, Matt, danke für alles.«

»Sie werden uns dann später Bericht erstatten. Ich werde den entsprechenden Termin für Sie arrangieren.«

Sie stand auf einer Brücke, hörte Schüsse, sah unten im Fluß aufgedunsene Leichen vorbeitreiben und wachte schluchzend auf. Es war ein Traum, gewiß, aber diese Ereignisse fanden in der Realität statt. In diesem Augenblick wurden unschuldige Männer, Frauen und Kinder sinnlos und brutal abgeschlachtet. Ihr kamen wieder die Worte von Professor Stakas ins Bewußt-sein. »Dieser Krieg in Bosnien-Herzegowina übersteigt den menschlichen Verstand.« Und völlig unbegreiflich war ihr das Desinteresse, mit dem die restliche Welt auf diese Geschehnisse reagierte. Dana fürchtete sich davor, wieder einzuschlafen, sie fürchtete sich vor den Alpträumen, die ihr Bewußtsein erfüllten. Sie stand auf, ging zum Fenster hinüber und blickte auf die Stadt hinunter. Es war alles so still - nirgends Gewehrschüsse, nirgends Menschen, die schreiend über die Straßen rannten. Es schien alles so unnatürlich. Sie fragte sich, wie es wohl Kemal ging und ob sie ihn einmal wiedersehen würde. Er hat mich wahrscheinlich inzwischen längst vergessen.

Einen Teil des Vormittags verbrachte Dana mit Einkäufen.

Wo immer sie auftauchte, blieben die Leute stehen, um sie anzustarren. Sie hörte Flüstern: »Das ist Dana Evans!« In den Geschäften wurde sie sofort von den Verkäuferinnen erkannt: Sie war berühmt. Das jedoch war ihr aus tiefster Seele zuwider.

Dana hatte nichts zum Frühstück und auch zu Mittag nichts gegessen. Sie war hungrig, doch außerstande, etwas zu sich zu nehmen. Sie war viel zu nervös. Es war so, als ob sie nur auf das Eintreten irgendeiner Katastrophe wartete. Auf der Straße mied sie den Blick der fremden Menschen. Sie war allen gegenüber mißtrauisch und horchte ständig nach dem Lärm von Gewehrschüssen und Geschützfeuer. So kann das nicht weitergehen, dachte Dana.

Um zwölf Uhr mittags marschierte sie ins Büro von Matt Baker.

»Was machen Sie denn hier? Sie sollten doch auf Urlaub sein.«

»Ich muß wieder arbeiten.«

Er schaute sie an und dachte an die junge Frau, die vor einigen Jahren zu ihm gekommen war. »Ich bin wegen einer Anstellung hier. Das heißt, ich bin hier natürlich bereits angestellt. Da würde man wohl eher von einer Versetzung sprechen, nicht wahr? ... Ich könnte sofort anfangen ...« Und sie hatte ihr Versprechen mehr als erfüllt: Wenn ich je eine Tochter haben würde .

»Die Chefin möchte Sie sehen«, sagte Matt zu Dana.

Sie begaben sich gemeinsam in das Büro von Leslie Stewart.

Die zwei Frauen standen sich abschätzend gegenüber. »Willkommen zu Hause, Dana.«

»Ich danke Ihnen.«

»Bitte setzen Sie sich.« Dana und Matt nahmen auf Stühlen vor Leslies Schreibtisch Platz.

»Ich möchte Ihnen dafür danken, daß Sie mich dort herausgeholt haben«, sagte Dana.

»Es muß die reine Hölle gewesen sein. Es tut mir leid, daß Sie so viel durchmachen mußten.« Leslie wandte sich Matt zu. »Und was machen wir nun mit ihr, Matt?«

Er musterte Dana. »Bei uns steht gerade die Neubesetzung der Position des Korrespondenten für das Weiße Haus an. Würde die Aufgabe Sie interessieren?« Es war einer der prestigeträchtigsten Fernsehjobs in den USA.

Danas Miene hellte auf. »Ja, sehr sogar.«

Leslie nickte. »Die Stelle gehört Ihnen.«

Dana erhob sich. »Also ... da bin ich Ihnen schon wieder Dank schuldig.«

»Viel Glück.«

»Dann wollen wir mal dafür sorgen, daß Sie hier ein richtiges Büro bekommen«, meinte Matt, als sie Leslie Stewart verlassen hatten. Er begleitete sie zum Fernsehgebäude, wo Dana bereits vom versammelten Personal erwartet wurde. Es dauerte eine geschlagene Viertelstunde, bis sie sich einen Weg durch die Menge der Menschen gebahnt hatte, die sie begrüßen und ihr alles Gute wünschen wollten.

»Darf ich Sie mit unserer neuen Berichterstatterin vom Weißen Haus bekanntmachen«, sagte Matt zu Philip Cole.

»Das ist ja eine hervorragende Neuigkeit. Ich werde Ihnen nachher Ihr Büro zeigen.«

»Haben Sie schon zu Mittag gegessen?« fragte Matt Dana.

»Nein. Ich -«

»Warum gehen wir dann nicht gemeinsam einen Happen essen?«

Das Speisezimmer der Geschäftsführung befand sich im vierten Stock; es war ein geräumiger, heller Raum mit zwei Dutzend Tischen. Matt führte Dana zu einem Ecktisch, und sie setzten sich.

»Miss Stewart scheint ja sehr nett zu sein«, sagte Dana.

Matt wollte eine Bemerkung machen, sagte aber nur: »Ja. Aber jetzt wollen wir mal bestellen.«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Sie haben aber doch noch nicht zu Mittag gegessen, oder?«

»Nein.«

»Haben Sie denn gefrühstückt?«

»Nein.«

»Dana, wann haben Sie zum letzten Mal gegessen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern. Das ist doch nicht wichtig.«

»Irrtum. Ich kann es nicht dulden, daß sich unsere Korrespondentin für das Weiße Haus zu Tode hungert.«

Der Kellner kam zu ihrem Tisch. »Wünschen Sie zu bestellen, Mr. Baker?«

»Ja.« Er überflog die Speisekarte. »Sie sollten mit etwas Leichtem anfangen. Für Miss Evans ein Sandwich mit Bacon, Kopfsalat und Tomaten.« Er wandte sich an Dana. »Kuchen oder Eis?«

»Gar ni...«

»Tortelett a la Mode. Und für mich ein Roastbeefsandwich.«

»Jawohl, Sir.«

Dana schaute sich in dem Raum um. »Mir kommt hier alles so irreal vor. Leben und Wirklichkeit sind für mich das, was dort unten in Bosnien geschieht, Matt. Es ist furchtbar. Aber hier kümmert's niemand.«

»Sagen Sie das nicht. Natürlich kümmert's uns. Wir sind aber nicht in der Lage, dafür zu sorgen, daß die ganze Welt auf dem richtigen Weg bleibt. Wir haben sie nicht unter Kontrolle, aber wir tun, was wir können.«

»Das ist aber nicht genug«, rief Dana verbittert.

»Dana ...« Er brach ab. Sie war ganz weit weg und horchte auf Geräusche, die er nicht hörte, sah Bilder, die er nicht sehen konnte. Sie saßen schweigend da, bis der Kellner mit den Bestellungen kam.

»Auf geht's.«

»Matt, wirklich, ich habe keinen Hung...« »Sie werden jetzt essen«, befahl Matt.

Jeff Connors kam zu ihrem Tisch herüber. »Hallo, Matt.«

»Jeff.«

Jeff Connors sah Dana an. »Hallo.«

»Darf ich Sie mit Jeff Connors bekanntmachen, Dana?« sagte Matt. »Jeff ist der Ressortleiter für Sport bei der Tribune.«

Dana nahm es mit einem Kopfnicken zur Kenntnis.

»Ich bin ein großer Bewunderer von Ihnen, Miss Evans. Ich bin sehr froh, daß Sie heil zu uns zurückgekommen sind.«

Dana reagierte mit neuerlichem Kopfnicken.

»Warum setzen Sie sich nicht zu uns an den Tisch, Jeff?« meinte Matt.

»Mach ich gern.« Er nahm einen Stuhl. »Ich habe immer versucht«, sagte er zu Dana, »keine von Ihren Sendungen zu verpassen. Ich fand Ihre Berichte brillant.«

»Danke«, murmelte Dana.

»Jeff zählt zu unseren großen Sportathleten. Er war ein berühmter Baseball-Star.«

Wieder ein Kopfnicken, sehr knapp diesmal.

»Am Freitag spielen die Orioles in Baltimore gegen die Yankees«, sagte Jeff. »Wenn Sie nichts Besseres vorhaben - es ist .«

Daraufhin sah ihn Dana zum erstenmal an. »Wie aufregend!« sagte sie. »Und der Zweck des Spiels besteht darin, den Ball zu treffen und dann einmal ums Feld zu laufen, während die andere Seite versuchen muß, Sie daran zu hindern?«

Er musterte sie mißtrauisch. »Na ja ...«

Dana erhob sich. Ihre Stimme zitterte. »Ich habe auch Menschen über ein Feld rennen sehen - nur daß sie um ihr Leben rannten, weil irgendwo jemand war, der auf sie schoß und sie umbrachte!« Sie war beinahe hysterisch. »Das war kein Spiel, da . ging es nicht um so einen blöden Baseball!«

Die übrigen Gäste drehten sich nach ihr um.

»Scheren Sie sich zum Teufel!« Dana brach in Schluchzen

aus und flüchtete nach draußen.

Jeff wandte sich an Matt. »Es tut mir schrecklich leid. Ich wollte sie doch nicht .«

»Es war nicht Ihre Schuld. Sie hat noch nicht wieder heimgefunden. Und sie hat, weiß Gott, Grund genug, mit den Nerven fertig zu sein.«

Dana hastete in ihr Büro und schlug die Tür hinter sich zu. Sie ging hinter ihren Schreibtisch, setzte sich und kämpfte gegen die Hysterie an. O Gott, ich habe mich total lächerlich gemacht. Man wird mir kündigen, und sie hätten recht, ich habe es verdient. Warum habe ich den Mann angegriffen? Wie konnte ich mich nur so idiotisch verhalten? Ich gehöre nicht mehr hierher. Ich bin nirgendwo mehr zu Hause. Sie legte die Arme auf den Schreibtisch und schluchzte.

Einige Minuten später ging die Tür auf, und jemand kam herein. Dana blickte auf. Es war Jeff Connors, der ein Tablett in der Hand trug - auf dem Tablett befanden sich ein SchinkenSalat-Tomatensandwich und ein Stück Tortelett a la mode.

»Sie haben Ihr Mittagessen vergessen mitzunehmen«, sagte er sanft.

Dana wischte sich beschämt die Tränen aus dem Gesicht. »Ich . ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Es tut mir so leid. Ich hatte kein Recht, Sie ...«

»Sie hatten völlig recht«, korrigierte er mit ruhiger Stimme. »Und im übrigen - wer will sich denn schon so ein albernes altes Baseballspiel anschauen?« Jeff stellte das Tablett auf dem Schreibtisch ab. »Darf ich Ihnen beim Essen Gesellschaft leisten?« Er setzte sich.

»Ich habe keinen Hunger. Danke.«

Er seufzte. »Da bringen Sie mich aber wirklich in große Schwierigkeiten, Miss Evans. Matt hat mich dafür verantwortlich gemacht, daß Sie essen. Sie müssen etwas essen. Sie wollen doch nicht, daß ich meine Stellung verliere, oder?«

Dana rang sich ein Lächeln ab. »Nein.« Sie nahm die eine

Hälfte des Sandwichs und aß einen kleinen Bissen.

»Mehr.«

Sie schaute ihn an. »Sie werden wirklich nicht eher Ruhe geben, bis ich das aufgegessen habe, nicht wahr?«

»Darauf können Sie wetten!« Er schaute zu, als sie ein größeres Stück abbiß. »So ist's schon besser. Übrigens - ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe, aber am Freitagabend findet ein Match statt zwischen den Orioles und den Yankees, und wenn Sie sonst nichts vorhaben - würden Sie mich vielleicht gern begleiten?«

Sie schaute ihn an und nickte. »Ja.«

Als Dana am Nachmittag um drei Uhr zu ihrem Antrittsbesuch ins Weiße Haus ging, bedeutete ihr der Pförtner am Eingang: »Mr. Tager würde Sie gern sprechen, Miss Evans. Ich werde jemanden rufen, der Sie zu ihm begleitet.«

Wenige Minuten später wurde Dana von einem Angestellten des Weißen Hauses ins Büro von Peter Tager geführt, der sie bereits erwartete.

»Mr. Tager .«

»Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Sie Ihre neue Position so bald antreten, Miss Evans. Will Ihr Sender Ihnen denn überhaupt keinen Urlaub und keine Erholung gönnen?«

»Ich habe keinen Urlaub machen wollen«, antwortete Dana. »Ich . ich brauche die Arbeit.«

»Nehmen Sie doch bitte Platz.« Sie setzte sich ihm gegenüber hin. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«

»Nein, danke. Ich habe gerade zu Mittag gegessen.« Beim Gedanken an Jeff Connors mußte sie innerlich lächeln. »Mr. Tager, ich möchte Ihnen und Präsident Russell herzlich dafür danken, daß Sie mir das Leben gerettet haben.« Sie zögerte, sprach es dann aber doch aus: »Ich weiß, die Tribune hat sich dem Präsidenten gegenüber nicht gerade besonders zuvorkommend verhalten, und ich .«

Peter Tager hob eine Hand. »Diese Angelegenheit hat nichts mit Politik zu tun. Unter keinen Umständen kann es der Präsident zulassen, daß diese Herrschaften da unten ganz nach Belieben verhaften können. Sie sind mit der Geschichte der Helena von Troja vertraut?«

»Ja.«

Er lächelte. »Also, für Sie hätten wir sogar einen Krieg angefangen. Sie sind eine VIP.«

»Ich empfinde mich selbst nicht als sehr bedeutend.«

»Ich darf Ihnen versichern, daß sowohl der Präsident wie auch ich sehr glücklich darüber sind, daß Sie mit der Berichterstattung über das Weiße Haus betraut worden sind.«

»Ich danke Ihnen. Ich weiß das Kompliment zu schätzen.«

Er blieb einen Moment lang still. »Es ist bedauerlich, daß die Tribune Präsident Russell nicht mag, und daran werden Sie nichts ändern können. Trotzdem - Sie sollten wissen, und ich spreche hier von einer sehr persönlichen Ebene, falls der Präsident oder ich etwas für Sie tun können ... wir haben beide eine sehr hohe Meinung von Ihnen.«

»Ich danke Ihnen.«

Die Tür ging auf, und Oliver kam herein. Dana und Peter Tager erhoben sich von ihren Stühlen.

»Nehmen Sie doch bitte wieder Platz«, sagte Oliver und ging zu Dana. »Willkommen zu Hause.«

»Danke, Mr. President«, sagte Dana. »Und, ich meine es wirklich - ich danke Ihnen.«

Oliver lächelte. »Was hätte es für einen Sinn, Präsident der Vereinigten Staaten zu sein, wenn man nicht einmal in der Lage wäre, das Leben eines Menschen zu retten? Ich will Ihnen gegenüber offen und ehrlich sein, Miss Evans. Keiner von uns hier ist ein Fan Ihrer Zeitung. Doch wir sind alle miteinander Ihre Fans.«

»Ich danke Ihnen.«

»Peter wird mit Ihnen einen Rundgang durch das Weiße Haus machen. Und falls Sie Probleme haben sollten, stehen wir

zu Ihrer Verfügung.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Wenn Sie einverstanden sind, möchte ich Sie gern mit meinem Außenminister Mr. Werner bekannt machen. Ich wäre froh, wenn er von Ihnen einen Augenzeugenbericht über die Lage in Herzegowina bekommen könnte.«

»Dazu bin ich gern bereit«, erwiderte Dana.

Im Sitzungszimmer des amerikanischen Außenministers lauschten ein Dutzend Herren Danas Bericht über ihre Beobachtungen und Erfahrungen in Bosnien.

»Die meisten Gebäude in Sarajevo sind beschädigt oder zerstört ... Es gibt keinen elektrischen Strom. Wer noch ein Auto besitzt, nimmt abends die Batterien heraus, um damit den Fernseher betreiben zu können ... Der Verkehr in der Stadt ist durch die Wracks zerschossener Autos, Karren und Fahrräder auf den Straßen behindert. Das hauptsächliche Fortbewegungsmittel ist das Laufen . Bei Regengüssen sammeln die Menschen mit Eimern das Wasser aus den Abflußrinnen . Das Rote Kreuz und die Journalisten werden dort nicht respektiert und genießen keinen Schutz. Während des Krieges in Bosnien sind über vierzig Korrespondenten getötet und Dutzende verwundet worden . Es herrscht der generelle Eindruck, daß - ganz gleich, ob die gegenwärtige Revolte gegen Milosevic von Erfolg gekrönt sein wird oder nicht - seine Machtposition durch den Aufstand im Volk in Frage gestellt worden ist .«

Die Unterredung zog sich über zwei Stunden hin. Für Dana war sie zugleich traumatisch und kathartisch; denn einerseits durchlebte sie während ihrer Schilderung die furchtbaren Ereignisse noch einmal; andererseits empfand sie es jedoch als eine Erleichterung, darüber sprechen zu können. Zum Schluß war sie allerdings total erschöpft.

»Ich habe Ihnen sehr zu danken, Miss Evans«, sagte der Außenminister. »Ihre Ausführungen waren sehr informativ.« Er lächelte ihr zu. »Ich bin froh, daß Sie heil und wohlauf zurückgekehrt sind.«

»Das bin ich auch, Mr. Werner.«

Am Freitag abend saß Dana an der Seite von Jeff Connors auf der Presse-Tribüne von Camden Yards, um dem Baseballspiel zuzuschauen, und es war seit ihrer Heimkehr aus Bosnien das erste Mal, daß sie imstande war, an etwas anderes als an den Krieg zu denken. Während sie die Spieler auf dem Feld beobachtete, hörte sie dem Ansager zu, der den Spielverlauf bekanntgab.

Beim siebten Inning stand Jeff auf und schaute Dana an. »Macht es Ihnen Spaß?«

Dana schaute zu ihm hoch und nickte. »Ja.«

Als sie nach dem Match nach Washington zurückgekehrt waren, dinierten sie im Bistro Twenty Fifteen.

»Ich möchte mich noch einmal für mein Verhalten vorgestern entschuldigen«, sagte Dana. »Es ist eben so, daß ich in einer Welt gelebt habe, wo . « Sie hielt inne, weil sie nicht recht wußte, wie sie sich ausdrücken sollte. »Wo alles eine Frage von Leben oder Tod ist. Absolut alles. Es ist furchtbar. Und wenn niemand etwas tut und dem Krieg ein Ende macht, besteht für die Menschen dort keinerlei Hoffnung.«

»Dana«, sagte Jeff leise, »Sie dürfen wegen den Geschehnissen dort nicht Ihr eigenes Leben aufgeben. Sie müssen anfangen, wieder zu leben. Hier und jetzt.«

»Ich weiß. Es ist nur ... das ist gar nicht so leicht.«

»Natürlich ist es das nicht. Ich würde Ihnen gern dabei helfen. Darf ich?«

Dana schaute ihn lange an. »Ja, bitte.«

Am nächsten Tag war Dana mit Jeff zum Mittagessen verabredet.

»Könnten Sie mich abholen?« bat er und gab ihr seine Adresse.

»In Ordnung.« Dana fragte sich, wieso Jeff ausgerechnet dort, in einem äußerst unruhigen Teil der Innenstadt wohnen mußte. Als sie ankam, fand sie die Antwort auf ihre Frage.

Jeff war umringt von zwei Baseballmannschaften; die Spieler mochten zwischen neun und dreizehn Jahren alt sein und trugen eine bunte Vielfalt von Mannschaftsuniformen. Dana stellte ihren Wagen am Straßenrand ab und schaute ihnen beim Spiel zu.

»Und vergeßt eines nicht«, rief Jeff, »keine Eile. Wenn der Pitcher den Ball wirft, dann stellt euch vor, daß der Ball ganz langsam auf euch zukommt. Ihr habt also viel Zeit, um den Ball zu treffen. Stellt euch vor, fühlt es, wie euer Schlagholz auf den Ball knallt. Setzt euren Verstand ein, laßt ihn eure Hände führen .«

Jeff schaute herüber und bemerkte Dana. Er winkte. »Gut, Jungs. Das war's für heute.«

Ein Junge fragte: »Ist das deine Freundin, Jeff?«

»Wenn ich großes Glück habe.« Jeff lächelte. »Bis später.« Und er ging zu Danas Wagen.

»Das ist aber ein toller Baseballclub«, meinte sie anerkennend.

»Es sind nette Jungs. Ich trainiere sie einmal wöchentlich.«

Sie lächelte. »Das gefällt mir.« Und ihr kam die Frage in den Sinn, wie es wohl Kemal ging und womit er beschäftigt war.

Die Tage gingen dahin. Dana stellte fest, daß sie Jeff Con-nors immer lieber gewann, je länger sie ihn kannte. Er war einfühlsam, intelligent und lustig. Sie war gern mit ihm zusammen. Langsam begannen die schrecklichen Erinnerungen an Sarajevo zu verblassen. Und endlich kam der Morgen, als sie aufwachte und in der Nacht keine Alpträume gehabt hatte.

Als sie es Jeff erzählte, nahm er ihre Hand und sagte nur: »So hab ich mein Mädchen gern!«

Und Dana überlegte, ob eine tiefere Bedeutung in seinen Worten lag.

Auf Dana wartete im Büro ein in großen Druckbuchstaben geschriebener Brief. Sie las: »Miss evans, machen Sie sich keine Sorgen meinetwegen, ich bin hier glücklich, ich bin nicht einsam, ich vermisse niemand, und ich werde ihnen die kleidersachen zurückschicken, die sie mir gekauft haben, ich brauche sie nicht mehr, ich habe jetzt meine eigenen Sachen. Adieu.« Der Brief trug die Unterschrift »Kemal«.

Der Brief war in Paris abgestempelt worden; der Briefkopf lautete: »Xaviers Heim für Jungen.« Dana las den Brief noch einmal, und dann nahm sie den Hörer ab. Sie brauchte vier Stunden, um zu Kemal durchzukommen.

»Kemal, hier spricht Dana Evans. Ich bin's.« Keine Antwort. »Ich habe deinen Brief erhalten.« Schweigen. »Ich wollte dir nur mitteilen, wie sehr ich mich darüber freue, daß du glücklich bist und daß du es dort gut hast.« Sie wartete einen Augenblick, bevor sie weitersprach. »Ich würde auch gern so glücklich sein, wie du es bist. Weißt du auch, warum ich nicht so glücklich bin? Weil du mir fehlst. Ich denke oft an dich.«

»Nein, das tun Sie nicht«, widersprach Kemal. »Ich bedeute Ihnen gar nichts.«

»Da irrst du aber. Würdest du gerne nach Washington kommen und bei mir wohnen?«

Daraufhin folgte ein langes Schweigen. »Meinen Sie das ... ist das Ihr Ernst?«

»Und ob. Würdest du gerne kommen?«

»Ich .« Er fing an zu weinen.

»Würdest du gern zu mir kommen, Kemal?«

»Ja ... ja, Ma'am.«

»Ich werde die nötigen Vorkehrungen treffen.«

»Miss Evans?«

»Ja?«

»Ich liebe Sie.«

Dana und Jeff Connors gingen im West Potomac Park spazieren. »Ich denke, ich werde bald einen Wohngenossen bekommen«, sagte Dana. »Er müßte in den nächsten Wochen eintreffen.«

Jeff schaute sie überrascht an. »Er?«

Dana war zur eigenen Überraschung von seiner Reaktion erfreut. »Ja. Er heißt Kemal und ist zwölf Jahre alt.« Und sie erzählte ihm die Geschichte von Kemal.

»Das scheint ja ein großartiger Bursche zu sein.«

»Ist er auch. Er ist durch die Hölle gegangen, Jeff. Ich will ihm helfen zu vergessen.«

Er schaute Dana an und sagte. »Da würde ich gern mithelfen.«

An diesem Abend liebten sie einander zum ersten Mal.

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