19

Die eilig einberufene Sitzung im Oval Office war erst seit wenigen Minuten im Gange, und schon war die Atmosphäre wegen der heftigen Meinungsverschiedenheiten wie elektrisch geladen.

»Wenn wir weiterhin zögern«, erklärte der Außenminister, wird die Situation völlig außer Kontrolle geraten. Dann wird es zu spät sein, um dieser Geschichte ein Ende zu machen.«

»Wir dürfen uns aber nicht zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen.« General Stephen Gossard wandte sich an den cia-Direktor. »Wie zuverlässig sind Ihre Informationen?«

»Schwer zu sagen. Wir sind jedoch ziemlich sicher, daß Libyen im Iran und in China verschiedene Waffensysteme einkauft.«

Oliver richtete das Wort an den Außenminister: »Libyen dementiert?«

»Selbstverständlich. China und der Iran ebenso.«

»Und was ist mit den übrigen arabischen Staaten?« wollte Oliver wissen.

Die Frage wurde vom Direktor der cia beantwortet. »Mr. President, nach den mir vorliegenden Informationen würde ein ernsthafter Angriff auf Israel den arabischen Ländern genau den Vorwand liefern, auf den alle nur gewartet haben. Dann würden sich alle engagieren, um Israel auszulöschen.«

Die Blicke richteten sich auf Oliver. »Verfügen Sie in Libyen über sichere Quellen?« hakte er nach.

»Ja.«

»Ich brauche einen aktuellen Lagebericht. Halten Sie mich auf dem laufenden. Falls es Anzeichen für einen Angriff gibt, bleibt uns keine andere Wahl, als aktiv zu werden.«

Die Sitzung wurde vertagt.

Durch die Gegensprechanlage tönte die Stimme von Olivers Sekretärin: »Mr. Tager würde Sie gern sprechen, Mr. President.«

»Schicken Sie ihn herein.«

»Wie ist die Sitzung gelaufen?« erkundigte sich Peter Tager.

»Ach, so wie diese Sitzungen über das Thema, ob ich einen Krieg jetzt anfangen will oder erst später, eben immer laufen«, erwiderte Oliver verbittert.

»Das gehört nun mal zu Ihrem Job«, meinte Tager mitfühlend.

»Genau.«

»Es gibt eine interessante neue Entwicklung.«

»Setzen Sie sich doch.«

Peter Tager zog einen Stuhl heran. »Was wissen Sie über die Vereinigten Arabischen Emirate?«

»Nicht sehr viel«, gestand Oliver. »Nur, daß sich vor ungefähr zwanzig Jahren fünf oder sechs arabische Staaten zusammengetan und eine Allianz gebildet haben.«

»Es waren sieben Staaten, die sich 1971 vereinigt haben. Abu Dhabi, Fujaira, Dubai, Scharjah, Ras al-Kahimah, Umm al-Qaiwan und Ajman. Anfangs waren sie nicht besonders mächtig. Die Emirate sind jedoch hervorragend geführt worden, und der Lebensstandard dort ist inzwischen einer der höchsten der Welt. Ihr Bruttoinlandsprodukt betrug im vergangenen Jahr neununddreißig Milliarden Dollar.«

Oliver wurde ungeduldig. »Ich nehme doch an, daß Sie auf etwas Bestimmtes hinauswollen, Peter?«

»Ja, Sir. Der Vorsitzende des Rates der Vereinigten Arabischen Emirate bittet um eine Zusammenkunft mit Ihnen.«

»In Ordnung. Dann werde ich den Außenminister ...«

»Heute. Geheim.«

»Ist das Ihr Ernst? Ich kann unmöglich .«

»Oliver, der Mailis - ihr Rat - ist eines der bedeutendsten arabischen Machtzentren in der Welt. Er genießt die Achtung aller übrigen arabischen Staaten. Die Zusammenkunft könnte sich als ein großer Durchbruch erweisen. Ich bin mir durchaus bewußt, daß ein solches Vorgehen von den üblichen Regeln abweicht, glaube jedoch, daß Sie den Vorschlag der Emire annehmen sollten.

»Der Außenminister würde ausrasten, falls ich .«

»Ich werde die notwendigen Vorkehrungen treffen.«

Es folgte ein längeres Schweigen. »Und welchen Ort schlagen Sie für die Begegnung vor?«

»Sie befinden sich auf einer Jacht, die in der Chesapeake Bay, in der Nähe von Annapolis, vor Anker liegt. Ich kann es einrichten, daß Sie unbemerkt hingelangen.«

Oliver hatte den Blick an die Decke gerichtet. Schließlich beugte er sich vor, um die Taste der Sprechanlage zu drücken. »Sagen Sie meine sämtlichen Termine für den heutigen Nachmittag ab.«

Die Jacht war am Pier festgemacht, und Oliver Russell wurde erwartet. Die Besatzung bestand ausschließlich aus Arabern.

»Willkommen, Mr. President.« Es war Ali al-Fulani, Legationssekretär aus einem der Vereinigten Arabischen Emirate. »Kommen Sie bitte an Bord.«

Oliver ging an Bord. Ali al-Fulani gab einem der Männer ein Zeichen, und gleich darauf setzte sich die Jacht in Bewegung. »Gehen wir nach unten?«

Genau. Damit ich umgebracht oder entführt werden kann. Etwas so Dummes habe ich mein ganzes Leben noch nicht getan, dachte Oliver. Vielleicht haben sie mich nur hergelockt, um ihren Angriff auf Israel anzufangen, während ich außerstande bin, den Befehl für einen Vergeltungsschlag zu geben. Warum habe ich mich bloß von Tager dazu überreden lassen?

Oliver folgte Ali al-Fulani nach unten in einen luxuriösen Salon. Als Oliver eintrat, erhob sich eine eindrucksvolle Gestalt von der Couch.

»Mr. President«, sagte Ali al-Fulani, »darf ich Sie mit Seiner Majestät König Hamad von Ajman bekanntmachen.«

Die zwei Männer reichten einander die Hand. »Eure Majestät.«

»Ich danke Ihnen für Ihr Kommen, Mr. President. Wäre Ihnen eine Tasse Tee genehm?«

»Nein, danke.«

»Sie werden erkennen, daß Ihr Besuch sich lohnt, wie ich meine.« König Hamad begann, im Salon auf und ab zu schreiten. »Mr. President, es ist seit Jahrhunderten schwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen, das uns Trennende - sei es philosophischer, sprachlicher, religiöser oder kultureller Natur - zu überbrücken. Aus diesem Grund haben in unserem Teil der Welt so viele Kriege stattgefunden. Wenn die Juden das Land der Palästinenser konfiszieren, tut das in Omaha oder in Kansas keinem weh. Das Leben geht weiter wie zuvor. Wenn in Jerusalem ein Bombenanschlag auf eine Synagoge verübt wird, schenken die Italiener in Rom und Venedig dem Vorfall keine Beachtung.«

Oliver fragte sich, worauf sein Gastgeber wohl hinaus wollte. Sollte das etwa eine Warnung vor einem bevorstehenden Krieg sein?

»Es gibt nur einen Teil der Welt, der unter all den Kriegen und dem Blutvergießen im Nahen und Mittleren Osten leidet: nämlich der Nahe und Mittlere Osten.«

Er nahm gegenüber Oliver Platz. »Es wird Zeit, daß wir diesem Wahnsinn ein Ende machen.«

Jetzt kommt's, dachte Oliver.

»Die Führer der Arabischen Staaten und der Mailis haben mich ermächtigt, Ihnen ein Angebot zu unterbreiten.«

»Was für ein Angebot?«

»Ein Friedensangebot.«

Oliver machte große Augen. »Ein Friedensangebot?«

»Wir möchten mit Ihrem Verbündeten, mit Israel, Frieden schließen. Ihre Wirtschaftssanktionen haben uns unzählige Milliarden von Dollar gekostet. Wir wollen Schluß damit machen. Die Arabischen Staaten - einschließlich Iran, Libyen und Syrien - sind übereingekommen, sich für den Fall, daß die USA die Schirmherrschaft übernimmt, mit Israel an einen Tisch zu setzen und einen dauerhaften Friedensvertrag auszuhandeln.«

Oliver war fassungslos. Als er die Stimme wiederfand, erklärte er: »Der Grund für Ihr Angebot besteht darin -«

»Ich versichere Ihnen, daß wir es nicht aus Liebe für die Israelis oder für die Amerikaner tun. Es liegt in unserem eigenen Interesse. Dieser Wahnsinn hat schon zu viele unserer Söhne getötet. Er muß ein Ende finden. Es reicht. Wir möchten wieder die Freiheit haben, der Welt unser Öl zu verkaufen. Wir sind bereit, Krieg zu führen, falls es erforderlich ist; aber wir ziehen einen Frieden vor.«

Oliver holte tief Luft. »Ich hätte doch gern eine Tasse Tee -«

»Ich wünschte, Sie wären dabeigewesen«, sagte Oliver zu Peter Tager. »Es war unglaublich. Sie sind bereit, Krieg zu führen, aber sie wollen nicht Krieg führen. Sie denken pragmatisch und wollen der Welt ihr Öl verkaufen, und dazu brauchen sie Frieden.«

»Das ist ja großartig«, rief Tager begeistert. »Wenn das bekannt wird, sind Sie ein Held.«

»Und diese politische Tat kann ich ganz allein vollbringen«, meinte Oliver. »Sie bedarf nicht der Billigung des Kongresses. Ich werde Gespräche mit dem israelischen Ministerpräsidenten führen. Wir werden ihm dabei helfen, eine Vereinbarung mit den arabischen Ländern zu finden.« Er warf Tager einen Blick zu und sagte traurig: »Und ich war überzeugt, daß ich entführt werden sollte.«

»Ausgeschlossen«, beruhigte ihn Peter Tager. »Ich hatte dafür gesorgt, daß Ihnen ein Schiff und ein Helikopter folg-ten.«

»Bei mir steht Senator Davis und möchte Sie sprechen, Mr. President. Er hat keinen Termin. Er sagt aber, es sei dringend.«

»Bitten Sie den nächsten Besucher zu warten, und schicken Sie den Senator herein.«

Die Tür ging auf, und Todd Davis betrat das Oval Office.

»Das ist aber eine schöne Überraschung, Todd. Alles in Ordnung?«

Senator Davis setzte sich hin. »Gewiß, Oliver. Ich hielt es nur für richtig, daß wir beide uns mal unterhalten.«

Oliver lächelte. »Ich habe heute zwar einen vollen Terminkalender, aber für dich ...«

»Es wird auch nur wenige Minuten dauern. Ich bin zufällig Peter Tager begegnet. Er hat mir von deiner Zusammenkunft mit den Arabern berichtet.«

Oliver strahlte. »Ist das nicht wunderbar? Es sieht ganz so aus, als ob es im Mittleren Osten endlich zum Frieden kommt, nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen und Krisen. Dafür wird meine Präsidentschaft in die Geschichte eingehen, Todd.«

»Hast du das auch gründlich durchdacht, Oliver?« fragte Senator Davis mit leiser Stimme.

Oliver legte die Stirn in Falten. »Wie bitte? Was soll das heißen?«

»Frieden ist so ein schönes, einfaches Wort, das jedoch viele Konsequenzen hat. Der Frieden bringt keine finanziellen Vorteile. Wenn es Krieg gibt, kaufen die kriegführenden Parteien für Milliarden von Dollar Rüstungsmaterial, das hier in den Vereinigten Staaten hergestellt wird. In Friedenszeiten wird dagegen kein Rüstungsmaterial benötigt. Und weil der Iran sein Öl nicht verkaufen kann, ist der Ölpreis gestiegen, und davon profitieren die Vereinigten Staaten.«

Oliver hörte ihm ungläubig zu. »Todd ... das ist die Chance einer ganzen Generation!«

»Nun sei nicht so naiv, Oliver. Wenn es uns wirklich auf einen Frieden zwischen Israel und den Arabischen Ländern ankäme, hätten wir ihn längst herbeiführen können. Israel ist ein kleines Land, und vom letzten halben Dutzend amerikanischer Präsidenten hätte jeder einzelne Israel dazu zwingen können, sich mit den Arabern zu verständigen. Sie zogen es jedoch vor, die Dinge so zu belassen, wie sie waren. Du darfst mich nicht mißverstehen: Die Juden sind prima Leute, und ich arbeite im Senat mit einigen zusammen.«

»Ich kann es einfach nicht fassen, daß du fähig bist .«

»Glaub, was du willst, Oliver. Ein Friedensvertrag zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde nicht im Interesse unseres Landes sein. Ich will nicht, daß du ihn weiterverfolgst.«

»Ich werde ihn aber weiterverfolgen müssen.«

»Nun erzähle mir bitte nicht, was du tun mußt, Oliver.« Senator Davis beugte sich vor. »Ich will dir mal etwas sagen: Vergiß bitte nicht, wer dich auf diesen Stuhl gesetzt hat.«

»Du mußt mich ja vielleicht nicht respektieren, Todd«, entgegnete Oliver ruhig, »aber diesem Amt mußt du Achtung erweisen. Und ich bin nun mal der Präsident - ganz unabhängig davon, wer mir den Weg geebnet hat.«

Senator Davis war aufgesprungen. »Du der Präsident? Ein gottverdammter aufgeblasener Spielball bist du! Du bist mein Strohmann, Oliver. Du nimmst Befehle entgegen - und mir gibst du keine.«

Oliver schaute ihn lange an. »Wie viele Ölfelder gehören dir und deinen Freunden eigentlich, Todd?«

»Das geht dich überhaupt nichts an. Wenn du diese Sache durchziehst, bist du erledigt. Hast du mich verstanden? Ich gebe dir vierundzwanzig Stunden, um zur Vernunft zu kommen.«

»Vater hat mich darum gebeten, mit dir zu sprechen, Oliver«, sagte Jan beim Abendessen. »Er ist sehr verärgert.«

Er musterte seine Frau, die ihm gegenübersaß, und dachte, Und nun muß ich auch noch gegen dich ankämpfen. »Er hat mir alles erzählt.« »Ach ja?«

»Ja.« Sie lehnte sich über den Tisch. »Ich finde deine Pläne einfach großartig.«

Oliver brauchte einen Moment, bis er begriff. »Aber dein Vater ist dagegen.«

»Ich weiß, und er hat Unrecht. Falls sie wirklich dazu bereit sind, Frieden zu schließen - dann mußt du helfen.«

Oliver nahm Jans Worte in sich auf, beobachtete sie. Er fand, daß sie sich als First Lady phantastisch bewährt hatte. Sie hatte sich bei wichtigen Wohltätigkeitsorganisationen engagiert und sich für eine Reihe von großen sozialen Anliegen stark gemacht. Sie war liebenswert, intelligent, und sie hatte ein Herz für Menschen . Oliver hatte das Gefühl, ihr zum erstenmal gegenüberzusitzen. Warum habe ich mich eigentlich herumgetrieben? fragte er sich. Ich habe doch alles, was ich brauche. »Wird deine Sitzung heute abend lang dauern?« »Nein«, sagte Oliver, und er sprach ganz langsam. »Ich werde sie absagen. Ich bleibe zu Hause.«

An diesem Abend schliefen die beiden seit vielen Wochen wieder einmal miteinander; und Oliver empfand es als wundervolles Erlebnis. Ich werde Peter den Auftrag geben, das Apartment abzustoßen, sagte er sich am folgenden Morgen.

Am nächsten Morgen fand er folgende Notiz auf seinem Schreibtisch vor.

Sie sollten wissen, daß ich ein richtiger Fan von Ihnen bin und nie etwas tun würde, das Ihnen schaden könnte. Am 15. Oktober war ich zufällig in der Garage vom Hotel Monroe Arms und sehr erstaunt, Sie dort zu sehen. Als ich am nächsten Tag in der Zeitung vom Mord an dem Mädchen las, wurde mir klar, warum Sie zum Lift zurückgegangen waren, um Ihre Fingerabdrücke von den Schaltern abzuwischen. Ich bin sicher, daß ich bei allen Zeitungen auf Interesse an meiner Geschichte stoßen würde und viel Geld bekommen könnte. Wie ich schon gesagt habe, bin ich aber ein Fan von Ihnen. Ich möchte bestimmt nichts tun, um Ihnen zu schaden. Ich könnte allerdings eine finanzielle Zuwendung gut gebrauchen, und falls Sie daran interessiert sind, würde die Sache unter uns bleiben. Ich werde mich in einigen Tagen wieder melden, während Sie darüber nachdenken.

Mit den besten Grüßen ein Freund

»Mein Gott«, sagte Sime Lombardo leise. »Nicht zu fassen. Wie ist das hier angekommen?«

»Mit der Post«, erwiderte Peter Tager. »Es war an den Präsidenten addressiert - mit dem Vermerk >persönlich<.

»Es könnte irgend so ein Verrückter sein, der es einfach mal versucht .«

»Wir dürfen kein Risiko eingehen, Sime. Ich glaube natürlich auch nicht, daß diese Geschichte wahr ist. Aber wenn davon auch nur der Hauch eines Gerüchts an die Öffentlichkeit käme, wäre der Präsident erledigt. Wir müssen ihn unbedingt schützen.« »Und wie?«

»Als erstes müssen wir herausfinden, wer diese Nachricht geschickt hat.«

Peter Tager befand sich im Hauptquartier des FBI zwischen 10th Street und Pennsylvania Avenue, wo er sich mit Special Agent Clay Jacobs unterhielt. »Sie sagten, es sei dringend, Peter?«

»Ja.« Peter Tager öffnete eine Aktentasche, holte ein Blatt Papier heraus und schob es über den Schreibtisch. Clay Jacobs

nahm es in die Hand und las laut vor. »Sie sollten wissen, daß ich ein richtiger Fan von Ihnen bin. Ich werde mich in einigen Tagen wieder melden, während sie darüber nachdenken.«

Alle Sätze zwischen dem ersten und dem letzten Satz waren eliminiert worden.

Jacobs hob den Kopf. »Was ist das?«

»Eine Angelegenheit der höchsten Sicherheitsstufe«, betonte Peter Tager. »Der Präsident hat mich darum gebeten, den Absender herauszufinden. Er möchte Sie bitten, das Papier nach Fingerabdrücken zu untersuchen.«

Clay studierte das Blatt noch einmal und zog die Stirn in Falten. »Das ist aber eine ungewöhnliche Anfrage, Peter.«

»Wieso?«

»An dieser Geschichte ist irgend etwas faul.«

»Der Präsident bittet Sie lediglich, für ihn den Namen des Absenders herauszufinden.«

»Vorausgesetzt, daß seine Fingerabdrücke auf dem Blatt sind.«

»Warten Sie hier auf mich.« Jacobs stand auf und verließ das Büro.

Peter Tager schaute aus dem Fenster und dachte über den Brief und die möglichen, furchtbaren Konsequenzen nach.

Nach exakt sieben Minuten kehrte Clay Jacobs zurück.

»Sie haben Glück«, sagte er.

Tagers Herz begann schneller zu schlagen. »Sie haben etwas gefunden?«

»Ja.« Jacobs gab Tager ein Stück Papier. »Der Mann, den Sie suchen, war vor etwa einem Jahr an einem Verkehrsunfall beteiligt. Sein Name ist Carl Gorman. Er arbeitet an der Rezeption des Hotels Monroe Arms.« Er musterte Tager noch einmal mit einem prüfenden Blick. »Gibt es vielleicht noch etwas, das Sie mir in diesem Zusammenhang mitteilen könnten?«

»Nein«, antwortete Peter Tager, »gibt es nicht.«

»Frank Lonergan auf Leitung drei, Miss Stewart. Es eilt, sagt er.«

»Ich nehme das Gespräch an.« Leslie hob den Hörer ab und drückte eine Taste. »Frank?«

»Sind Sie allein?«

»Ja.«

Sie hörte, wie er einmal tief durchatmete. »Okay. Fangen wir an.« Er sprach volle zehn Minuten lang, ohne daß sie ihn auch nur ein einziges Mal unterbrochen hätte.

Leslie Stewart eilte zu Matt Baker. »Wir müssen etwas besprechen, Matt.« Sie setzte sich vor seinen Schreibtisch. »Wenn ich Ihnen nun sagen würde, daß Oliver Russell in den Mord an Chloe Houston verwickelt ist ...?«

»Würde ich zunächst einmal vermuten, daß Sie paranoid sind oder den Verstand verloren haben.«

»Frank Lonergan hat gerade angerufen. Er hat mit Gouverneurin Houston gesprochen, die nicht daran glaubt, daß Paul Yerby ihre Tochter ermordet hat. Außerdem hat Frank auch mit Paul Yerbys Eltern gesprochen, und die können es sich auch nicht vorstellen.«

»Das hätte ich auch nicht von ihnen erwartet«, meinte Matt Baker. »Wenn das Ihr einziges Verdachtsmo...«

»Das ist bloß der Auftakt. Frank ist ins Leichenschauhaus gegangen und hat dort mit dem Coroner gesprochen. Helen Chuan hat ihm erklärt, der Gürtel des Jungen sei dermaßen festgezurrt gewesen, daß man ihn am Hals losschneiden muß-te.«

Nun hörte Matt schon aufmerksamer zu. »Und ...?«

»Frank hat Yerbys Sachen abgeholt, und darunter befand sich auch der Gürtel: Er war nicht zerschnitten.«

Matt Baker holte tief Luft. »Wollen Sie mir damit weismachen, daß der Junge ermordet worden ist und daß dieser Mord vertuscht wurde?«

»Ich will Ihnen überhaupt nichts weismachen. Ich berichte einfach nur Fakten. Oliver Russell hat mich einmal zu bewegen versucht, Ecstasy zu nehmen. Während seines Wahlkampfes fürs Amt des Gouverneurs starb eine Anwaltsgehilfin an Ecstasy, und als er Gouverneur war, wurde seine Sekretärin in einem Park im Ecstasy-Koma aufgefunden. Lonergan hat erfahren, daß Oliver dem Krankenhaus den Vorschlag gemacht hat, daß man sie von den lebenserhaltenden Apparaturen abnehmen sollte.« Leslie beugte sich vor. »In der Nacht des Mordes an Chloe Houston wurde aus der Imperial Suite im Weißen Haus angerufen. Frank hat die Telefonunterlagen des Hotels eingesehen, aber das Blatt für den fünfzehnten Oktober fehlte. Die Terminsekretärin des Präsidenten hat Lonergan mitgeteilt, am betreffenden Abend hätte der Präsident ein Treffen mit General Whitman gehabt, aber es gab kein derartiges Treffen. Frank hat mit Gouverneurin Houston gesprochen, die ihm erklärte, daß Chloe an einer Führung durchs Weiße Haus teilgenommen und einen Termin beim Präsidenten gehabt hatte.«

Langes Schweigen. »Wo befindet Frank Lonergan sich in diesem Moment?« fragte Matt Baker.

»Er spürt Carl Gorman auf, den Empfangschef, der die Buchung der Imperial Suite angenommen hat.«

»Bedaure«, sagte Jeremy Robinson, »aber wir geben keine Informationen über unsere Angestellten.«

Frank Lonergan ließ nicht locker. »Ich bitte doch nur um seine Privatadresse, damit ich ihn .«

»Das würde Ihnen auch nicht weiterhelfen, denn Mr. Gorman ist in Urlaub gefahren.«

Lonergan seufzte. »Das ist wirklich ein Jammer. Ich hatte gehofft, daß er ein paar weiße Flecken füllen könnte.«

»Weiße Flecken?«

»Ja. Wir planen eine große Reportage über den Tod der Tochter von Gouverneurin Houston in Ihrem Hotel. Aber ohne

Mr. Gorman muß ich mir die Geschichte zusammenreimen.« Er holte Notizblock und Kugelschreiber hervor. »Seit wann besteht dieses Hotel? Ich will alles über seinen Hintergrund, seine Kundschaft, seine .«

Jeremy Robinson runzelte die Stirn. »Einen Augenblick mal! Das ist gar nicht nötig. Ich meine - sie hätte überall sterben können.«

Frank Lonergan sagte verständnisvoll. »Ich weiß, aber es ist dort passiert. Ihr Hotel wird berühmt werden wie Watergate.«

»Mr. ...?«

»Lonergan.«

»Mr. Lonergan, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie . ich meine, diese Art von Publicity ist sehr schlecht. Könnte man nicht irgendwie .«

Lonergan überlegte einen Augenblick. »Wenn ich mit Mr. Gorman reden würde, nehme ich an, daß ich eine andere Sicht bekommen würde.«

»Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich gebe Ihnen seine Adresse.«

Frank Lonergan wurde langsam nervös. Als die Grundzüge der Ereignisse Gestalt annahmen, wurde es allmählich klar, daß es eine Mordverschwörung und Vertuschungsbemühungen auf höchster Ebene gab. Bevor er zu dem Hotel ging, um mit dem Angestellten zu reden, entschloß er sich, kurz in seiner Wohnung vorbeizuschauen. Seine Frau Rita war in der Küche und bereitete das Abendessen vor. Sie war eine kleine Frau mit rotem Haar, funkelnden grünen Augen und einem hellen Teint. Sie drehte sich überrascht um, als ihr Mann hereinkam.

»Frank, was machst du mittags zu Hause?«

»Ich dachte, daß ich vorbeikommen könnte und hallo sagen.«

Sie studierte sein Gesicht. »Nein, etwas ist los. Was ist es?«

Er zögerte. »Wann hast du deine Mutter zum letzten Mal gesehen?«

»Ich habe sie letzte Woche besucht. Warum?«

»Warum besuchst du sie nicht wieder, Schatz.«

»Stimmt etwas nicht?«

»Ob etwas nicht stimmt?« Er ging zu dem Kaminsims. »Du solltest das hier abwischen. Wir werden hier bald einen Pulit-zerpreis und dort einen Peabody Award hinstellen.«

»Von was redest du?«

»Ich habe etwas herausbekommen, das einigen den Kopf kosten wird - und ich meine Leute in hohen Positionen. Das ist die aufregendste Geschichte, die ich je recherchiert habe.«

»Warum willst du, daß ich meine Mutter besuche?«

Er zuckte die Achseln. »Es könnte möglich sein, daß die Sache gefährlich wird. Es gibt Leute, die nicht wollen, daß diese Geschichte an die Öffentlichkeit dringt. Ich würde mich wohler fühlen, wenn du einige Tage weg wärst, bis alles gelaufen ist.«

»Aber wenn du in Gefahr bist .«

»Ich bin nicht in Gefahr.«

»Bist du sicher, daß dir nichts passieren wird?«

»Absolut. Pack deine Sachen ein, und ich rufe dich heute abend an.«

»Einverstanden«, sagte Rita widerwillig.

Lonergan schaute auf seine Uhr. »Ich fahre dich zum Bahnhof.«

Eine Stunde später hielt Lonergan vor einem bescheidenen Backsteinhaus im Stadtteil Wheaton. Er stieg aus, ging zur Haustür und klingelte. Keine Antwort. Er klingelte noch einmal und wartete wieder. Plötzlich ging die Haustür auf, und vor ihm stand eine dicke Frau mittleren Alters, die ihn mißtrauisch beäugte.

»Ja?«

»Ich komme vom Finanzamt«, sagte Lonergan und hielt ihr kurz einen Ausweis vor die Nase. »Ich möchte Carl Gorman sprechen.«

»Mein Bruder ist nicht da.«

»Wissen Sie, wo er sich aufhält?«

»Nein.« Das kam zu schnell.

Lonergan nickte. »Das ist aber schade. Na ja, Sie können damit anfangen, seine Sachen zu packen. Ich werde meine Dienststelle anweisen, den Möbelwagen herzuschicken.« Lonergan machte sich wieder auf den Weg zu seinem Auto.

»He! Moment mal! Was denn für einen Möbelwagen? Wovon reden Sie überhaupt?«

Lonergan blieb stehen und drehte sich um. »Hat Ihr Bruder Ihnen nichts gesagt?«

»Was sollte er mir denn gesagt haben?«

Lonergan ging wieder ein paar Schritte aufs Haus zu. »Er befindet sich in Schwierigkeiten.«

Sie musterte ihn besorgt. »Was für Schwierigkeiten?«

»Bedaure, aber es steht mir nicht zu, darüber zu sprechen.« Er schüttelte den Kopf. »Und dabei scheint er doch ein ganz netter Kerl zu sein.«

»Das ist er auch«, betonte sie mit großem Nachdruck. »Carl ist ein wunderbarer Mensch.«

Lonergan nickte. »Das war auch mein Eindruck, als wir ihn im Finanzamt verhörten.«

Sie geriet in Panik. »Worüber haben Sie ihn verhört?«

»Er hat bei der Einkommensteuererklärung gemogelt. Wirklich schade. Ich wollte ihn nämlich auf eine Lücke im Gesetz hinweisen, die ihm herausgeholfen hätte, aber ...« Er zuckte die Schultern. »Wenn er nicht zu Hause ist ...« Er schickte sich an, zu gehen.

»Warten Sie! Er ist ... Sie finden ihn beim Fischen. Das sollte ich eigentlich keinem verraten.«

Lonergan zuckte die Schultern. »Warum denn nicht?«

»Weil er sich nicht an irgendeiner gewöhnlichen Angelstelle aufhält. Nein, diesmal ist's was Besonderes. Die Sunshine Fishing Lodge am See in Richmond, Virgina.«

»Okay. Ich werde ihn dort aufsuchen.«

»Das wäre wunderbar. Sind Sie sicher, daß für ihn alles gut ausgehen wird?«

»Absolut sicher«, erklärte Lonergan. »Ich werde dafür sorgen, daß man sich um ihn kümmert.«

Lonergan nahm die I-95 Richtung Süden. Richmond lag über hundertsiebzig Kilometer weit entfernt. Vor vielen Jahren hatte Lonergan in dem See dort einmal geangelt und Glück gehabt.

Er hoffte inständig, daß er auch diesmal genausoviel Glück haben würde.

Es nieselte, aber das störte Carl Gorman nicht. Bei solch einem Wetter sollten die Fische gut beißen. Er angelte gestreiften Barsch, mit weit ausgelegten Ruten. Die Wellen plätscherten gegen das kleine Ruderboot auf der Mitte des Sees, und der Köder trieb hinter ihm her. Die Fische hatten es nicht eilig, aber das machte nichts. Kein Problem. Er war in seinem ganzen Leben noch nie so glücklich gewesen. Er würde reich sein, reicher als er es sich in seinen kühnsten Träumen erhofft hatte. Es war einfach nur Glück gewesen. Du hast dich genau im richtigen Moment an genau der richtigen Stelle befunden. Er war noch einmal zum Monroe Arms zurückgekehrt, weil er dort eine Jacke vergessen hatte, und gerade im Begriff, die Garage zu verlassen, als die Tür des Pri vatfahr stuhl s aufging. Als er sah, wer da aus dem Lift trat, war er fassungslos in seinem Wagen sitzen geblieben. Er hatte beobachtet, wie der Mann wieder zum Lift ging, die Fingerabdrücke abwischte und anschließend davonfuhr.

Einen Reim auf die Sache hatte er sich allerdings erst machen können, als er am nächsten Tag in der Zeitung von dem Mord las. Irgendwie tat ihm der Mann leid. Ich bin wirklich ein Fan von ihm. Aber wenn man so berühmt ist, hat man eben ein Problem; da kann man sich nie verstecken. Wo man auch hingeht, man wird erkannt. Er wird mir Geld geben, damit ich den Mund halte. Er hat gar keine andere Wahl. Ich werde mit hunderttausend anfangen. Wenn er mir das erst mal gezahlt hat, wird er weiterzahlen müssen. Vielleicht kauf ich mir ein Chäteau in Frankreich oder ein Chalet in der Schweiz.

Er spürte, daß ein Fisch angebissen hatte, und holte die Angelrute ein. Er konnte die Befreiungsversuche des Fisches spüren. Du wirst mir nicht entkommen. Ich habe dich am Haken.

Er hörte aus der Ferne ein großes Rennboot näher kommen. Man müßte Rennboote auf dem See verbieten. Sie verscheuchen die Fische. Das Rennboot hielt auf ihn zu.

»Kommt mir nicht zu nah«, schrie Carl.

Das Rennboot schien direkt auf ihn zuzusteuern.

»He da! Aufpassen! Fahrt doch nicht einfach wild drauflos. Um Gottes willen .«

Das Rennboot pflügte in das Ruderboot und drückte es, samt Gorman, unter Wasser.

Du verdammter, betrunkener Idiot! Er rang nach Luft. Es gelang ihm, den Kopf über Wasser zu halten. Das Rennboot hatte gedreht und hielt erneut direkt Kurs auf ihn. Und das letzte, was Carl Gorman noch registrierte, bevor das Boot ihm den Schädel zertrümmerte, war das Zucken des Fisches an der Angel.

Als Frank Lonergan eintraf, sah er die Polizeiwagen, das Feuerwehrauto und eine Ambulanz, die gerade davonfuhr.

Frank Lonergan stieg aus und fragte einen Zuschauer: »Weshalb die Aufregung?«

»Da ist irgendein armer Teufel auf dem See verunglückt. Von ihm ist nicht viel übriggeblieben.«

Lonergan wußte sofort Bescheid.

Gegen Mitternacht arbeitete Frank Lonergan an seinem Computer. Er war allein in der Wohnung und schrieb den Bericht, der den Präsidenten der Vereinigten Staaten vernichten würde.

Es war eine Reportage, die ihm einen Pulitzerpreis einbringen würde. Daran bestand für ihn kein Zweifel. Diese Geschichte würde ihn sogar noch berühmter machen als Woodward und Bernstein. Es war die Story des Jahrhunderts. Er wurde vom Klingeln an der Haustür unterbrochen; er stand auf und ging zur Tür.

»Wer ist da?«

»Eine Bote mit einem Paket von Leslie Stewart.«

Sie hat neue Informationen erhalten. Er machte die Tür auf, sah ein Aufblitzen von Metall, und dann zerriß ihm ein unerträglicher Schmerz die Brust.

Danach kam nichts mehr.

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