Washington, D.C., war eine viel größere Stadt, als Dana es sich vorgestellt hatte. Es war das Machtzentrum der Welt; sie konnte die Spannung förmlich spüren. Hier gehöre ich her, dachte sie überglücklich.
Als erstes checkte Dana im Stouffer Renaissance Hotel ein, suchte sich die Adresse der Washington Tribune heraus und machte sich auf den Weg. Die Tribune lag an der sechsten Straße. Die Büros zogen sich über den ganzen Komplex, der aus vier separaten Gebäuden bestand, deren Fassaden sich ins Unendliche zu erstrecken schienen. Als Dana den Haupteingang fand, steuerte sie im Foyer zielsicher auf den livrierten Pförtner am Empfang zu.
»Was kann ich für Sie tun, Miss?«
»Ich arbeite hier. Das heißt, ich bin eine Angestellte der Tri-bune und bin zu einer Unterredung mit Matt Baker gekommen.«
»Haben Sie einen Termin bei Mr. Baker?«
Dana zögerte einen Augenblick. »Noch nicht, aber ...«
»Dann kommen Sie wieder, wenn Sie einen Termin haben.« Er wandte sich einer Gruppe von Herren zu, die eben am Empfang eintrafen.
»Wir sind mit dem Vertriebsdirektor verabredet«, erklärte einer der Herren.
»Einen Moment bitte.« Der Livrierte wählte eine Nummer.
Dana schlenderte lässig zur gegenüberliegenden Seite des Foyers, wo Menschen aus einem Lift ausstiegen, in den nun Dana eintrat - und sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß der Lift losfahren möchte, bevor der Pförtner sie bemerkte. Gott sei Dank trat jedoch in dem Moment eine Frau herein, drückte einen Knopf, und der Lift setzte sich in Bewegung - er
fuhr aufwärts.
»Entschuldigung«, sagte Dana. »In welchem Stock liegt das Büro von Mr. Baker?«
»Im dritten.« Sie warf Dana einen Blick zu. »Sie tragen Ihr Ausweisschild nicht.«
»Ich habe es verloren«, log Dana.
Im dritten Stock stieg Dana aus und blieb stehen. Die schiere Größe dessen, was sie vor sich sah, verschlug ihr die Sprache. Es war eine weite Flucht von Bürokabinen, es mußten Hunderte von Kabinen sein, in denen Tausende von Menschen arbeiteten, und an diesen Kabinen hingen Schilder in unterschiedlichen Farben: Redaktion ... Layout ... Hauptstadt ... Sport ... Kalender ...
Dana hielt einen vorbeieilenden Mann an. »Entschuldigung, aber wo finde ich hier Mr. Bakers Büro?«
»Matt Baker?« Er zeigte mit dem Finger in die Richtung: »Am Ende des Flurs hinten rechts, die letzte Tür.«
»Danke.«
Beim Herumdrehen stieß Dana mit einem unrasierten, irgendwie zerknittert wirkenden Mann zusammen, der Papiere in der Hand hielt - die Blätter fielen zu Boden.
»O Verzeihung, ich war .«
»Warum passen Sie nicht auf, wo Sie hingehen, verdammt !« schnauzte sie der Mann an und bückte sich, um die Papiere vom Boden aufzuheben.
»Es war ein Versehen. Hier, erlauben Sie, daß ich Ihnen helfe. Ich ...« Als Dana in die Hocke ging und die Unterlagen aufzusammeln begann, stieß sie ein paar Blätter unter den Schreibtisch.
Der Mann hielt inne und musterte sie mit einem durchbohrenden Blick. »Tun Sie mir bitte einen Gefallen, und helfen Sie mir nie wieder.«
»Wie Sie wünschen«, erwiderte Dana eisig. »Ich kann nur hoffen, daß nicht alle Menschen in Washington so grob sind
wie Sie.«
Sie setzte eine hochmütige Miene auf, erhob sich und schritt in Richtung des Büros von Mr. Baker davon. Die Aufschrift am Glasfenster lautete schlicht: matt baker. Das Büro war leer. Dana trat ein, nahm Platz und beobachtete das hektische Treiben hinter dem Fenster.
Kein Vergleich mit dem Claremont Examiner, dachte sie. Hier arbeiten Tausende von Angestellten. Dann sah sie den verknitterten Kerl geradewegs auf das Büro zusteuern, in dem sie saß.
Nein! dachte Dana. Bloß nicht hierher. Er muß doch woanders hingehen ...
und schon stand der Mann in der Tür. Er kniff die Augen zusammen. »Was, zum Teufel, machen Sie hier?«
Dana schluckte. »Sie müssen Mr. Baker sein«, sagte sie munter. »Ich bin Dana Evans.«
»Ich habe gefragt, was Sie hier zu suchen haben?«
»Ich bin eine Reporterin beim Claremont Examiner.«
»Na und?«
»Sie haben unsere Zeitung gerade gekauft.«
»Habe ich das?«
»Ich ... Ich meine natürlich, daß Ihre Zeitung ihn gekauft hat. Daß die Zeitung die Zeitung gekauft hat.« Dana spürte, daß da etwas falschlief. »Jedenfalls bin ich hier wegen einer Anstellung. Das heißt, es ist natürlich so, daß ich dort schon eine Stellung habe. Es wäre also eher so etwas wie eine Versetzung, nicht wahr?«
Er starrte sie wortlos an.
»Ich könnte auch sofort anfangen«, plapperte sie weiter. »Das wäre überhaupt kein Problem.«
Matt Baker ging zu seinem Schreibtisch. »Wer, zum Teufel, hat Sie hereingelassen?«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt: Ich bin Reporterin beim Claremont Examiner und .« »Kehren Sie nach Claremont zurück«, fauchte er. »Und versuchen Sie wenigstens, unterwegs niemanden über den Haufen zu rennen.«
Dana stand auf und sagte steif: »Ich sage Ihnen meinen herzlichsten Dank, Mr. Baker. Ich weiß Ihre Höflichkeit zu würdigen.« Sie stürmte aus dem Büro.
Matt Baker schaute ihr kopfschüttelnd nach. Die Welt war voll mit verrückten Typen.
Dana ging zurück zu dem riesigen Redaktionsraum, wo Dutzende Reporter Berichte in ihre Computer eingaben. Und ich werde trotzdem hier arbeiten, dachte Dana grimmig. Nach Claremont zurückfahren ... wie konnte er es nur wagen!
Als sie den Kopf hob, sah sie in der Ferne Matt Baker. Er kam auf sie zu. Der verdammte Kerl war ja wirklich überall! Dana trat blitzschnell hinter eine Bürokabine, um nicht von ihm gesehen zu werden.
Baker ging an ihr vorbei zum Schreibtisch eines Reporters. »Haben Sie's geschafft, das Interview zu bekommen, Sam?«
»Kein Glück. Ich bin zum Georgetown Medical Center gefahren, wo man mir jedoch erklärt hat, daß dort keine Patientin dieses Namens registriert sei. Tripp Taylors Frau liegt also überhaupt nicht in diesem Krankenhaus.«
»Ich bin sicher, daß sie in dem Krankenhaus liegt«, schimpfte Baker. »Verdammt noch mal. Da wird doch irgendwas vertuscht. Ich will wissen, warum sie im Krankenhaus liegt.«
»Falls sie dort liegt, kommt jedenfalls keiner an sie heran, Matt.«
»Haben Sie's schon mit dem Trick der Blumenzustellung probiert?«
»Sicher. Hat aber nicht funktioniert.«
Danas Blicke folgten Matt Baker und dem Reporter, die in die entgegengesetzte Richtung verschwanden. Was ist das bloß für ein Reporter, fragte sie sich, der nicht mal weiß, wie man sich ein Interview verschafft?
Eine halbe Stunde später betrat Dana das Georgetown Medi-cal Center und begab sich ins dortige Blumengeschäft.
»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte der Verkäufer.
»Ja. Ich hätte gern -«, sie überlegte kurz »- einen Strauß für fünfzig Dollar.« Das Wort »fünfzig« wäre ihr beinahe in der Kehle steckengeblieben.
»Gibt's hier im Krankenhaus einen Laden, wo man so etwas wie eine kleine Mütze finden könnte?« erkundigte sich Dana, als der Verkäufer ihr die Blumen überreichte.
»Die Geschenkboutique befindet sich dort um die Ecke.«
»Vielen Dank.«
In der Geschenkboutique gab es Plunder in Hülle und Fülle -mit einer großen Auswahl an Grußkarten, billigem Spielzeug, Luftballons und Fähnchen, dazu ganze Regale mit Junkfood und knalligen Kleidungsstücken. Dana entdeckte schließlich ein Regal mit ein paar Souvenirkäppis, kaufte eines, das an eine Chauffeurmütze erinnerte, und setzte es sich auf den Kopf. Anschließend kaufte sie noch eine Karte mit Genesungswünschen und kritzelte ein paar Worte darauf.
Nächstes Ziel war die Auskunft in der Eingangshalle des Krankenhauses. »Ich habe Blumen abzugeben für Mrs. Tripp Taylor.«
Die Empfangssekretärin schüttelte den Kopf. »Bei uns gibt es keine Patientin mit dem Namen Mrs. Tripp Taylor.«
Dana seufzte. »Wirklich nicht? Das ist aber schlimm. Die Blumen sind nämlich vom Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten.« Sie öffnete den Umschlag und zeigte der Rezeptioni-stin den Gruß auf der Karte: »Werden Sie rasch wieder gesund.« Er trug die Unterschrift »Arthur Cannon.«
»Da werde ich die Blumen wohl wieder zurückbringen müssen«, meinte Dana und schickte sich an, das Krankenhaus zu verlassen.
Die Empfangssekretärin schaute ihr mit einem Ausdruck der Verunsicherung nach. »Einen Augenblick bitte.«
Dana blieb stehen. »Ja?«
»Ich könnte dafür sorgen, daß ihr die Blumen aufs Zimmer gebracht werden.«
»Bedaure«, erklärte Dana. »Aber Vizepräsident Cannon hat ausdrücklich darum gebeten, daß ich ihr die Blumen persönlich überbringe.« Sie musterte die Empfangsdame. »Dürfte ich bitte Ihren Namen wissen? Man wird Mr. Cannon erklären müssen, warum ich die Blumen nicht abgeben konnte.«
Panik. »Also gut. In Ordnung. Ich will keine Probleme heraufbeschwören. Bringen Sie die Blumen auf Zimmer 615. Sie müssen das Zimmer aber sofort wieder verlassen, wenn Sie die Blumen abgegeben haben.«
»Okay«, sagte Dana.
Fünf Minuten später sprach sie mit der Frau des berühmten Rockstars Tripp Taylor.
Stacy Taylor war Mitte Zwanzig. Ob sie schön war oder nicht, ließ sich schwer erkennen, weil ihr Gesicht übel zugerichtet und dick geschwollen war. Sie versuchte gerade, ein Glas Wasser von dem Tischchen neben dem Bett zu nehmen, als Dana eintrat.
»Blumen für -« Beim Anblick des Gesichts der Frau blieb Dana vor Schreck stehen.
»Von wem sind die Blumen?« Die Worte waren ein kaum hörbares Gemurmel.
Dana hatte die Karte aus dem Strauß herausgenommen. »Von ... von einem Bewunderer.«
Die Frau musterte Dana mißtrauisch. »Könnten Sie mir bitte das Glas Wasser herüberreichen?«
»Selbstverständlich.« Dana legte die Blumen ab und gab der Frau im Bett das Wasserglas. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Klar«, stieß sie durch die dickgeschwollenen Lippen hervor. »Holen Sie mich aus diesem verdammten Loch heraus. Mein Mann läßt keine Besucher zu mir. Und die Ärzte und Kran-kenschwstern kann ich schon nicht mehr sehen.«
Dana nahm auf einem Stuhl neben dem Bett Platz. »Was ist Ihnen eigentlich zugestoßen?«
Die Frau schnaubte. »Sagen Sie bloß, das wissen Sie nicht! Ich hatte doch einen Autounfall.«
»Einen Autounfall?«
»Ja.«
»Das ist ja entsetzlich«, meinte Dana mit hörbarer Skepsis in der Stimme. Sie war empört und zornig, da diese Frau - das war sonnenklar - zusammengeschlagen worden war.
Als Dana das Zimmer eine Dreiviertelstunde später verließ, hatte sie die wahre Geschichte erfahren.
In der Empfangshalle der Washington Tribune hatte inzwischen ein anderer Pförtner Dienst. »Kann ich etwas für Sie ...?«
»Es ist nicht meine Schuld«, stieß Dana atemlos hervor. »Wirklich, es liegt nur an diesem irren Verkehr. Geben Sie Mr. Baker bitte Bescheid, daß ich schon zu ihm unterwegs bin. Er wird schimpfen, weil ich mich verspätet habe.« Sie rannte zum Fahrstuhl und betätigte die Ruftaste. Der Pförtner schien zunächst unsicher, wählte dann aber doch eine Nummer. »Hallo, teilen Sie Mr. Baker bitte mit, daß hier soeben eine junge Dame eingetroffen ist .«
Der Fahrstuhl kam. Dana trat ein und drückte die Drei. Im dritten Stockwerk schien die Hektik noch gestiegen zu sein -sofern das überhaupt möglich war. Die Reporter standen unter Druck, die Abgabetermine drängten. Dana schaute sich verzweifelt um, bis sie entdeckte, wonach sie suchte: einen leeren Schreibtisch in einer Kabine mit der Aufschrift gartenressort. Dana stürmte hinein, ließ sich nieder und fing an, in den Computer zu tippen. Sie war so in ihren Bericht vertieft, daß sie jegliches Zeitgefühl verlor; sie wußte nicht, wie spät es war, als sie den Bericht endlich abschloß und ausdruckte. Sie ordnete gerade die Seiten, als sie hinter sich
einen Schatten wahrnahm.
»Was, zum Teufel, haben Sie hier zu suchen?« wollte Matt Baker wissen.
»Ich suche eine Stellung, Mr. Baker. Deshalb habe ich jetzt diesen Artikel geschrieben, und ich dachte .«
»Falsch gedacht!« Baker explodierte vor Wut. »Sie können doch nicht einfach hereinmarschieren und sich an einem fremden Schreibtisch breitmachen. Und jetzt sehen Sie zu, daß Sie verschwinden, verdammt noch mal, oder ich rufe die Polizei und lasse Sie festnehmen.«
»Aber -«
»Hinaus!«
Dana erhob sich vom Schreibtisch, nahm ihre ganze Würde zusammen, drückte Matt Baker ihr Manuskript in die Hand und rauschte um die Ecke.
Matt Baker schüttelte ungläubig den Kopf: Mein Gott! Was ist bloß aus der Welt geworden? Er las den Anfang von Danas Bericht. »Stacy Taylor erklärte heute mit einem übel zugerichteten und dick geschwollenen Gesicht im Krankenhausbett, daß sie ins Hospital eingeliefert wurde, weil ihr Ehemann, der berühmte Rockstar Tripp Taylor, sie verprügelt hat. >Er schlägt mich jedesmal zusammen, wenn ich schwanger werde. Er will keine Kinder.c« Matt las fasziniert weiter. Als er den Kopf hob, war Dana verschwunden.
Matt umklammerte die Seiten und stürmte zu den Fahrstühlen - in der Hoffnung, Dana zu finden, bevor sie das Gebäude auf Nimmerwiedersehen verlassen hatte. Als er um die Ecke lief, rannte er fast in sie hinein. Sie lehnte wartend an der Wand.
»Wie sind Sie an diese Geschichte gekommen?« wollte er wissen.
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt«, erwiderte sie, »daß ich Reporterin bin.«
Er holte tief Luft. »Folgen Sie mir in mein Büro.«
Da saßen sie nun wieder zusammen in Matt Bakers Zimmer. »Saubere Arbeit«, räumte er widerwillig ein.
»Vielen Dank! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich mich Ihre Anerkennung macht«, erwiderte Dana aufgeregt. »Ich werde die beste Reporterin sein, die Sie je gehabt haben. Sie werden ja sehen. Eigentlich - das ist mein sehnlichster Wunsch - möchte ich Auslandskorrespondentin werden, ich bin aber gern bereit, mich von ganz unten hochzuarbeiten, selbst wenn es ein Jahr dauert.« Sie bemerkte den Ausdruck auf seinem Gesicht. »Oder auch zwei.«
»Es gibt bei der Tribune aber keine Vakanzen. Außerdem haben wir eine Warteliste.«
Sie schaute ihn erstaunt an. »Ich hatte angenommen ...«
»Moment mal.«
Dana beobachtete, wie er einen Stift hervorholte und die Buchstaben des Wörtchens »annehmen« ausschrieb: a-n-n-e-h-m-e-n. Er zeigte mit dem Finger darauf. »Ein Reporter, der etwas >annimmt<, ist eine Blamage für mich und für Sie. Verstanden?«
»Ich verstehe.«
»Gut.« Er dachte kurz nach und traf eine Entscheidung. »Schauen Sie im Fernsehen manchmal den Kanal wte? Den Fernsehsender der Tribune Enterprises?«
»Nein. Ich könnte nicht behaupten, daß ich ...«
»Gut. Dann werden Sie es von jetzt an tun. Sie haben wirklich Glück. Dort ist nämlich gerade eine Stelle freigeworden. Ein Textredakteur hat gekündigt. Sie können seinen Job haben.«
»Und was müßte ich da tun?« fragte Dana zaghaft.
»Texte fürs Fernsehen schreiben.«
Sie machte ein langes Gesicht. »Fernsehtexte schreiben? Davon verstehe ich doch gar .«
»Die Sache ist ganz einfach. Der Produzent der Nachrichtensendung liefert Ihnen das Rohmaterial der Nachrichtenagentu-ren, das Sie dann in anständige Sätze umschreiben und für die Moderatoren auf den TelePrompTer projizieren.«
Dana blieb stumm.
»Was ist?«
»Nichts. Es ist nur, daß - ich doch Reporterin bin.«
»In unserem Hause sind fünfhundert Reporter beschäftigt, die ausnahmslos von der Pike angefangen haben. Begeben Sie sich hinüber zu Gebäude Vier. Fragen Sie nach Mr. Hawkins. Für den Anfang ist Fernsehen wirklich nicht schlecht.« Matt Baker griff nach dem Telefon. »Ich werde Sie bei Hawkins ankündigen.«
Dana seufzte. »In Ordnung. Ich danke Ihnen, Mr. Baker. Falls Sie je eine ...«
»Hinaus mit Ihnen.«
Die wte-Fernsehstudios nahmen den gesamten sechsten Stock von Building Four ein. Tom Hawkins begleitete Dana in sein Büro; er war der Produzent der Abendnachrichten.
»Haben Sie bereits im Fernsehen gearbeitet?«
»Nein, Sir. Ich habe bei Zeitungen gearbeitet.«
»Dinosaurier. Vergangenheit. Uns gehört die Gegenwart. Und die Zukunft - wer weiß? Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Büros.«
Da saßen Dutzende Menschen an Schreibtischen und Monitoren. Auf den Bildschirmen der Computer erschienen Meldungen von einem halben Dutzend Nachrichtenagenturen.
»In diesem Raum gehen Informationen und aktuelle Meldungen aus aller Welt ein«, erklärte Hawkins. »Ich treffe die Entscheidung, was davon übernommen wird. Unser Auftragsressort schickt dann die Teams zum Abdecken der Geschichten aus, für die ich mich entschieden habe. Unsere Reporter an der Front schicken ihre Berichte über Mikrowellen oder Transmit-ter herein. Außer den Agenturdiensten sind wir an hundertsechzig Polizeikanäle angeschlossen, wir haben Berichterstatter, die mit Mobiltelefonen, Radarantennen, Monitoren arbei-ten. Jeder Bericht wird auf die Sekunde genau vorgeplant. Um das genaue Timing hinzukriegen, arbeiten die Textredakteure mit den Videobandredakteuren zusammen. Die durchschnittliche Sendedauer der Nachrichten liegt zwischen anderthalb und eindreiviertel Minuten.«
»Und wie viele Textredakteure sind bei Ihnen beschäftigt?« fragte Dana.
»Sechs. Dann gibt es noch einen Videokoordinator, Tonbandredakteure, Produzenten, Regisseure, Reporter und die Anchormen ...« Er brach ab. Ein Mann und eine Frau näherten sich. »Wenn man vom Teufel spricht - erlauben Sie, daß ich Sie mit Julia Brinkman und Michael Tate bekanntmache.«
Julia Brinkmann war eine hinreißende Frau mit kastanienbraunem Haar, getönten Kontaktlinsen, die ihren Augen ein sinnliches Grün verliehen, und einem geübten entwaffnenden Lächeln; Michael Tate war ein sportlicher Typ mit einem strahlenden, warmen Lächeln und einer kontaktfreudigen Art.
»Unsere neue Textredakteurin«, stellte Hawkins vor. »Donna Evanston.«
»Dana Evans.«
»Völlig egal. Machen wir uns an die Arbeit.«
Er begleitete Dana wieder zurück zu seinem Büro und deutete mit einer Kopfbewegung zur Wandtafel mit den Auftragszuteilungen. »Das dort sind die Stories, aus denen ich meine Auswahl treffe - die >Schrotkörner<, wie wir sie nennen. Unser Team ist zweimal täglich dran. Wir verantworten das Mittagsnachrichten-Magazin von zwölf bis ein Uhr und die Spätnachrichten von zehn bis elf Uhr. Ich teile Ihnen mit, welche Geschichten ich bringen will, dann geben Sie ihnen die richtige Form - da muß sich dann alles so packend anhören, daß die Zuschauer einfach nicht mehr auf einen anderen Kanal umschalten können. Und der Videoredakteur wird Ihnen Clips liefern, und Sie werden die Clips in die Skripts einarbeiten und auf den Scripts kennzeichnen, an welchen Stellen die Clips
gezeigt werden müssen.«
»In Ordnung.«
»Manchmal gibt es auch eine aktuelle Geschichte - dann schieben wir eine Direktschaltung in unser geplantes Programm ein.«
»Interessant«, sagte Dana.
Sie konnte nicht ahnen, daß ihr solch eine Live-Zuschaltung einmal das Leben retten würde.
Ihre erste Spätnachrichtensendung wurde die reinste Katastrophe, weil Dana die Spitzenmeldungen statt an den Anfang des Programms in die Mitte plaziert hatte - Julie Brinkman stellte plötzlich fest, daß sie die Stories las, die Michael Tate hätte lesen sollen, und umgekehrt.
Nach Schluß der Sendung sprach der Regisseur Dana an: »Mr. Hawkins möchte Sie in seinem Büro sprechen, jetzt gleich.«
Hawkins saß mit grimmiger Miene hinter seinem Schreibtisch.
»Ich weiß«, sagte Dana zerknirscht. »Es war ein neuer Tiefpunkt in der Geschichte des Fernsehens, und es ist einzig und allein meine Schuld.«
Hawkins rührte sich nicht und sah sie nur stumm an.
Dana unternahm einen zweiten Versuch. »Die gute Nachricht ist, Tom, daß es von jetzt an nur besser werden kann. Okay?«
Er fixierte sie weiterhin, ohne auch nur eine Silbe von sich zu geben.
»Und es wird nie wieder vorkommen, weil« - der Ausdruck auf seinem Gesicht war ihr nicht entgangen - »ich fristlos gefeuert bin.«
»Mitnichten«, erwiderte Hawkins knapp. »Damit kämen Sie mir zu leicht davon. Nein, Sie werden diese Arbeit jetzt solange durchziehen, bis Sie alles im Griff haben. Und das heißt: Sie sind morgen für das Mittagsnachrichtenmagazin wieder dran. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
»Überdeutlich.«
»Gut. Dann erwarte ich Sie hier morgen früh um acht.«
»In Ordnung, Tom.«
»Und da wir nun mal zusammenarbeiten werden, merken Sie sich eines - Sie dürfen mich mit >Mr. Hawkins< anreden.«
Das Mittagsmagazin lief reibungslos ab. Tom Hawkins hatte recht gehabt, fand Dana. Es kam darauf an, sich an den Rhythmus zu gewöhnen. Man bekommt den Auftrag . schreibt die Geschichte . koordiniert sie mit dem Videoredakteur . und füttert den TelePromTer, von dem die Moderatoren ablesen.
Von diesem Moment an entwickelte sich die Arbeit für Dana zur Routine.
Als Dana acht Monate lang bei wte gearbeitet hatte, kam für sie endlich der Durchbruch. Es war 21 Uhr 45; sie hatte es gerade geschafft, die Texte für die Abendnachrichten auf den TelePrompTer zu übertragen und wollte sich auf den Nachhauseweg machen. Als sie das Fernsehstudio betrat, um sich zu verabschieden, herrschte dort das reinste Chaos. Es redeten alle durcheinander.
Der Regisseur Bob Cline schrie: »Wo bleibt sie denn, zum Teufel?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hat sie denn keiner gesehen?«
»Nein.«
»Haben Sie schon bei ihr daheim angerufen?«
»Da meldet sich nur der Anrufbeantworter.«
»Hervorragend. Wir sind« - er schaute auf seine Uhr - »in zwölf Minuten auf Sendung.«
»Vielleicht hat Julia ja einen Unfall gehabt«, meinte Michael Tate. »Vielleicht ist sie tot.«
»Das ist keine Entschuldigung. Sie hätte wenigstens anrufen müssen.«
Dana ergriff das Wort. »Entschuldigen Sie ...«
Der Regisseur drehte sich ungeduldig nach ihr um. »Ja?«
»Wenn Julia nicht auftauchen sollte, könnte ich doch für sie einspringen.«
»Vergessen Sie's.« Er wandte sich wieder seinem Assistenten zu. »Rufen Sie unten an der Rezeption an und fragen Sie nach, ob Julia inzwischen eingetroffen ist.«
Der Assistent nahm das Telefon und wählte. »Ist Julia Brinkman inzwischen eingetroffen ...? Verstehe. Wenn Sie kommt, sagen Sie ihr, daß sie sich beeilen soll.«
»Und er soll einen Fahrstuhl für sie freihalten. Wir gehen .« - er schaute wieder auf seine Uhr - »verflixt, wir gehen schon in sieben Minuten auf Sendung.«
Dana beobachtete die wachsende Panik.
»Ich könnte beide Teile übernehmen«, sagte Michael Tate.
»Nein«, fuhr ihn der Regisseur an. »Wir brauchen euch beide.« Er warf erneut einen Blick auf die Uhr. »Noch drei Minuten! Herrgott noch mal! Wie kann sie uns nur so etwas antun? Wir senden in .«
»Ich bin mit sämtlichen Texten vertraut«, sagte Dana laut in die Runde. »Ich habe sie nämlich geschrieben.«
Er musterte sie kurz. »Sie sind nicht geschminkt. Und Sie sind nicht angemessen gekleidet.«
Aus der Kabine des Toningenieurs meldete sich eine Stimme: »Zwei Minuten. Nehmen Sie bitte Ihre Plätze ein.«
Michael Tate zuckte die Schultern und nahm auf dem Podium vor den Fernsehkameras Platz.
»Bitte die Plätze einnehmen!«
Dana bedachte den Regisseur mit einem entwaffnenden Lächeln. »Gute Nacht, Mr. Cline.« Und schritt zum Ausgang.
»Augenblick mal!« Er rieb sich die Stirn. »Sind Sie sicher, daß Sie es schaffen?«
»Probieren Sie's doch«, sagte Dana.
»Ich habe keine andere Wahl, oder?« stöhnte er. »Einverstanden. Gehen Sie aufs Podium! Nehmen Sie Platz. Mein Gott! Wenn ich doch nur auf meine Mutter gehört hätte! Dann
wäre ich heute nämlich Arzt!«
Dana eilte aufs Podium und setzte sich neben Michael Tate.
»Dreißig Sekunden . zwanzig . zehn . fünf .«
Der Regisseur gab ein Zeichen mit der Hand. Das rote Licht auf der Kamera blinkte.
»Guten Abend«, sagte Dana. Sie sprach völlig ruhig. »Willkommen zu den Zehn-Uhr-Nachrichten bei wte. Wir haben für Sie eine aktuelle Geschichte aus Holland. Am heutigen Nachmittag hat sich in einer Schule in Amsterdam eine Explosion ereignet .«
Die Sendung lief reibungslos.
Am nächsten Morgen kam Rob Cline in Danas Büro. »Ich habe schlechte Nachrichten. Julia ist gestern abend mit dem Auto verunglückt. Ihr Gesicht ist . « er suchte nach dem passenden Wort, ». entstellt.«
»Das tut mir leid«, sagte Dana entsetzt. »Wie schlimm ist es?«
»Ziemlich schlimm.«
»Aber mit kosmetischer Chirurgie läßt sich heutzutage doch .«
Er schüttelte den Kopf. »In diesem Fall leider nicht. Sie wird ihre Arbeit bei uns nicht wieder aufnehmen können.«
»Ich würde sie gerne besuchen. In welchem Krankenhaus liegt sie?«
»Sie wird in ihre Heimatstadt gebracht, nach Oregon. Zu den Eltern.«
»Es tut mir wirklich leid.«
»Der eine verliert, der andere gewinnt.« Er schaute Dana einen Augenblick forschend an. »Sie waren okay gestern nacht. Wir behalten Sie bei uns, bis wir einen festen Ersatz gefunden haben.«
Dana suchte Matt Baker auf. »Haben Sie gestern abend die Spätnachrichten gesehen?« fragte sie.
»Und ob«, grunzte er. »Aber um Himmels willen, versuchen
Sie's mal mit ein bißchen Make-up. Und ziehen Sie sich was Anständiges an.«
Dana fühlte sich plötzlich wieder ganz klein. »In Ordnung.«
Als sie sich zur Tür umdrehte, sagte Matt Baker mürrisch: »Sie waren gar nicht mal schlecht.« Aus seinem Mund bedeuteten solche Worte ein großes Lob.
Nach ihrem fünften Auftritt in den Spätnachrichten teilte der Regisseur Dana mit: »Übrigens - die hohen Tiere haben erklärt, daß wir Sie behalten sollen.«
Dana fragte sich, ob mit den hohen Tieren Matt Baker gemeint war.
Es dauerte kein halbes Jahr, und Dana - jung, hübsch und von ausnehmender Intelligenz - war ein Fixstern der Szene in Washington. Mit Jahresende bekam sie eine Gehaltserhöhung, Sonderaufgaben, und ihre vlp-Interview-Show Hier und jetzt erreichte Spitzeneinschaltquoten: Die Interviews waren persönlich gehalten und verständnisvoll; Berühmtheiten, die sich sonst zierten, bei Talkshows zu erscheinen, drängten sich darum, in Danas Show aufzutreten. Zeitungen und Zeitschriften begannen, Dana zu interviewen. Sie war im Begriff, selbst eine Berühmtheit zu werden.
Nachts schaute Dana die internationalen Fernsehnachrichten an und beneidete die Auslandskorrespondenten. Diese Kolleginnen und Kollegen leisteten eine bedeutsame Arbeit, und indem sie die Welt über wichtige Ereignisse rund um den Globus informierten, machten sie selbst Geschichte. Dana fühlte sich zutiefst frustriert.
Danas Zweijahresvertrag mit wte war fast ausgelaufen, als eines Tages Philip Cole - der Ressortchef der Korrespondenten - bei ihr vorbeischaute.
»Sie leisten großartige Arbeit, Dana. Wir sind stolz auf Sie.«
»Danke, Philip.«
»Es ist an der Zeit, daß wir uns über Ihren neuen Vertrag unterhalten. Vorweg .«
»Ich kündige.«
»Wie bitte?«
»Ich werde die Show nach Vertragsende nicht weitermachen.«
Er betrachtete sie mit einem Ausdruck fassungslosen Unglaubens. »Aber warum sollten Sie kündigen wollen? Gefällt es Ihnen denn nicht bei uns?«
»Es gefällt mir hier gut«, antwortete Dana, »und ich würde gern bei wte bleiben. Aber ich möchte als Auslandskorrespon-dentin arbeiten.«
»Das ist doch ein schreckliches Leben«, brach es aus ihm hervor. »Warum sollten Sie ein so elendes Dasein führen wollen?«
»Weil ich's nicht mehr aushalte, mir dauernd anhören zu müssen, welche Gerichte berühmte Frauen besonders gern zum Abendessen kochen und wie sie ihren fünften Ehemann kennengelernt haben. In der Welt finden Kriege statt, in diesen Kriegen leiden und sterben Menschen, und die Welt schert sich einen Dreck darum. Und das möchte ich ändern. Ich möchte dafür sorgen, daß die Menschen Anteil nehmen.« Sie holte tief Luft. »Es tut mir leid, aber so kann ich nicht weitermachen.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl und ging zur Tür.«
»Moment mal! Sind Sie absolut sicher? Ist das wirklich Ihr Wunsch?«
»Das ist schon immer mein Wunsch gewesen«, erwiderte Dana mit leiser Stimme.
Er dachte kurz nach. »Wohin würden Sie denn gern gehen?«
Es dauerte einen Moment, bis ihr die Tragweite der Worte bewußt wurde. Als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, sagte sie: »Nach Sarajevo.«