Es gibt zwei Städte namens Washington, D.C. Da ist zum einen das Washington von maßloser Schönheit mit seiner stattlichen Architektur, seinen Museen von Weltklasse, Statuen, Denkmälern für die Giganten der Vergangenheit: Lincoln, Jefferson, Washington ... eine Stadt voll grüner Parkanlagen, Kirschblüten und samtweicher Luft.
Das andere Washington, D.C., ist eine Zitadelle der Obdachlosen, eine Großstadt, deren Kriminalitätsrate zu den höchsten im ganzen Land zählt, ein Labyrinth der Straßenräuber und Mörder.
Das »Monroe Arms« ist ein schickes, diskretes kleines Hotel, das in einem stillen Winkel nicht weit von der Kreuzung zwischen der 27th Street und K-Street versteckt liegt. Es macht keine Werbung, denn es lebt hauptsächlich von Stammkunden.
Das Hotel wurde vor etlichen Jahren von einer unternehmungslustigen jungen Immobilienhändlerin namens Lara Cameron erbaut.
Der Geschäftsführer des Hotels, Jeremy Robinson, war gerade zur Abendschicht eingetroffen. Beim Überprüfen der Gästeliste legte sich ein Ausdruck von Ratlosigkeit auf seine Züge. Er las die für die elitären Terrace-Suiten eingetragenen Namen noch ein weiteres Mal durch, um absolut sicherzugehen, daß da wirklich niemand einen Fehler gemacht hatte.
In Suite 325 probte eine Schauspielerin, deren Ruhm verblaßt war, für eine Premierenaufführung im National Theater. Einem Bericht der Washington Post zufolge erhoffte sie sich ein Comeback.
In der genau darüberliegenden Suite 425 logierte ein bekannter Waffenhändler, der Washington regelmäßig Besuche abstattete. Der Name im Gästebuch lautete auf J. L. Smith;
dem Aussehen nach handelte es sich jedoch eher um einen Gast aus dem Nahen Osten. Mr. Smith war mit Trinkgeldern ungemein großzügig.
Suite 525 war für William Quint gebucht, einen Kongreßab-geordneten, der dem mächtigen Ausschuß für Drogenaufsicht vorstand.
Die Suite 625 - ein Stockwerk höher - war von einem Computersoftwarehändler belegt, der einmal monatlich nach Washington kam.
Die Suite 725 beherbergte den internationalen Lobbyisten Pat Murphy.
So weit, so gut, sagte sich Jeremy Robinson. Diese Gäste waren ihm wohlbekannt. Es war Suite 825, die Imperial Suite im obersten Stock, die ihm ein Rätsel aufgab. Es war die vornehmste Suite des Hotels, die nur ganz besonderen VIPs vorbehalten blieb. Sie erstreckte sich über die gesamte Etage und war mit wertvollen Gemälden und Antiquitäten eingerichtet, und sie hatte einen eigenen Fahrstuhl, der direkt zur Garage im Kellergeschoß führte, damit Gäste, die anonym zu bleiben wünschten, hier völlig unbeobachtet kommen und gehen konnten.
Was Jeremy Robinson stutzig machte, war der Name, der für diese Suite im Gästebuch des Hotels eingetragen war: Eugene Gant. Gab es tatsächlich eine Person dieses Namens? Oder hatte ein Bewunderer des Schriftstellers Thomas Wolfe sich den Namen seines Romanhelden als Pseudonym zugelegt?
Carl Gorman, der tagsüber diensthabende Empfangschef, der diesen rätselhaften Mr. Gant ins Fremdenbuch eingetragen hatte, war vor wenigen Stunden in die Ferien gegangen und unerreichbar. Jerry Robinson haßte Unklarheiten. Wer war dieser Eugene Gant? Und weshalb war ihm die Imperial Suite überlassen worden?
In der Suite 325, im dritten Stock, probte Gisella Barrett ihren Bühnentext. Sie war eine Dame von vornehmer Erschei-nung, Ende Sechzig, eine Schauspielerin, die einstmals vom Londoner West End bis zum Broadway in Manhattan Publikum und Kritiker verzaubert hatte. Spuren ihrer einstigen Schönheit waren in ihrem Gesicht noch zu erkennen, doch sie waren von Verbitterung überlagert.
Sie hatte den Bericht in der Washington Post gelesen, der meldete, daß sie nach Washington zurückgekehrt sei, um ein Comeback zu versuchen. Wie können sie es nur wagen! dachte Gisella Barret empört. Ein Comeback! Ich bin nie in der Versenkung verschwunden gewesen!
Gewiß, es waren mehr als zwanzig Jahre vergangen, seit sie zum letztenmal auf der Bühne gestanden hatte; dazu war es jedoch nur gekommen, weil eine große Schauspielerin eben eine große Rolle, einen brillanten Regisseur und einen verständigen Theatermanager braucht. Die Regisseure von heute waren zu jung, um mit der Erhabenheit des wahren Theaters zurechtzukommen; und die großen englischen Bühnenmanager
- H. M. Tenant, Binkie Beaumont, C. B. Cochran - waren allesamt tot. Selbst die noch einigermaßen kompetenten amerikanischen Bühnenproduzenten - Helbrun, Belasco und Golden
- waren nicht mehr aktiv. Nein, es stand völlig außer Frage: der gegenwärtige Theaterbetrieb lag in der Hand von Unwissenden, von Parvenüs ohne Verankerung in der Tradition. Wie waren die alten Zeiten doch großartig gewesen. Früher existierten Dramatiker, deren Feder in leuchtende Blitze getaucht waren. Gisella Barrett hatte die Rolle von Ellie Dunn in Heart-break House gespielt.
Wie haben die Kritiker doch von mir geschwärmt. Der arme George. Er haßte es, wenn man ihn mit George anredete. Er wollte lieber Bernard genannt werden. Man hatte ihn für einen harten, bitteren Mann gehalten, doch unter dieser Schale war ein wahrhaft romantischer Ire. Er hat mir immer rote Rosen schicken lassen. Ich glaube, er war einfach zu scheu, um noch weiterzugehen. Möglicherweise hatte er Angst, daß ich ihn
abweisen würde.
Sie war im Begriff, ihr Comeback in einer der stärksten Bühnenrollen aller Zeiten zu feiern - als Lady Macbeth.
Gisella Barrett rückte den Stuhl vom Fenster weg, so daß er einer nackten Wand gegenüberstand, denn sie wollte nicht durch die Aussicht abgelenkt werden. Sie setzte sich, atmete einmal tief durch und begann, sich in die von Shakespeare geschaffene Charakterrolle zu versenken.
Kommt, Geister, die ihr lauscht Auf Mordgedanken, und entweiht mich hier; Füllt mich vom Wirbel bis zur Zeh, randvoll, Mit wilder Grausamkeit! verdickt mein Blut, Sperrt jeden Weg und Eingang dem Erbarmen, Daß kein anklopfend Mahnen der Natur Den grimmen Vorsatz lähmt, noch friedlich hemmt Vom Mord die Hand!
»Himmel noch einmal, wie können sie so blöd sein? Man würde doch meinen, daß sie nach all den Jahren, in denen ich in diesem Hotel abgestiegen bin ...«
Die Stimme tönte durchs offene Fenster von der Suite im darüberliegenden Stock.
In der Suite 425 schimpfte der Waffenhändler J. L. Smith lauthals auf einen Zimmerkellner ein: ». eigentlich wissen müßten, daß ich nur Beluga-Kaviar bestelle!« Er zeigte mit dem Finger auf einen Teller Kaviar, der auf dem Tisch des Zimmerservice stand. »Das da ist ein Bauernfraß!«
»Entschuldigen Sie bitte vielmals, Mr. Smith. Ich werde sofort nach unten in die Küche gehen und .«
»Lassen Sie's gut sein.« J. L. Smith schaute auf seine mit Diamanten besetzte Rolex. »Ich habe jetzt keine Zeit. Ich habe eine wichtige Verabredung.« Er stand auf und ging zur Tür. Er wurde in der Kanzlei seines Anwalts erwartet. Einen Tag zuvor hatte ihn die Anklagejury eines Bundesgerichts wegen illegaler Geschenke an den amerikanischen Verteidigungsminister beschuldigt. Falls er schuldig gesprochen würde, mußte er mit drei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von einer Million Dollar rechnen.
In der Suite 525 beriet sich der Kongreßabgeordnete William Quint, Sproß einer Familie, die seit Generationen zur Prominenz in Washington gehörte, mit drei Angehörigen seines Ermittlungsstabes.
»Die Drogenszene gerät in dieser Stadt zur Zeit total außer Kontrolle«, erklärte Quint. »Wir müssen sie unbedingt wieder in den Griff bekommen.« Er wandte sich an Dalton Isaak. »Was haben Sie herausgefunden?«
»Die Verbrechen sind auf Auseinandersetzungen zwischen Straßengangs zurückzuführen. Die Brentwood Gang verkauft den Stoff zu niedrigeren Preisen als die Forteenth Street Gang und die Simple City Gang. Der Konflikt hat im vergangenen Monat zu vier Morden geführt.«
»So darf das nicht weitergehen, wir müssen etwas unternehmen«, betonte Quint. »Solche Entwicklungen schaden der Wirtschaft. Ich habe etliche Anrufe von der DEA und vom Polizeipräsidenten erhalten. Man wollte wissen, welche Gegenmaßnahmen wir planen.«
»Und was haben Sie darauf geantwortet?«
»Das übliche: Daß wir den Dingen nachgehen werden.« Er wandte sich an seinen Assistenten: »Arrangieren Sie ein Treffen mit der Brentwood Gang. Machen Sie den Kerlen klar, daß sie ihre Preise mit den anderen abstimmen müssen, wenn sie auf unsere schützende Hand Wert legen.« Er richtete sich an den dritten Mitarbeiter. »Wieviel haben wir im vergangenen Monat eingenommen?«
»Zehn Millionen hier, zehn Millionen außerhalb der Stadt.«
»Sehen Sie zu, daß Sie unsere Einnahmen in die Höhe treiben. Das Leben in dieser Stadt wird allmählich verdammt
teuer.«
Ein Stockwerk höher lag Norman Hoff - ein blaßhäutiger Mann mit enormem Bierbauch - in Suite 625 im Dunkeln nackt auf dem Bett und sah sich auf dem internen Hotel-TV-Kanal einen Pornofilm an. Er streckte den Arm aus und streichelte die Brust seiner Bettgefährtin.
»Schau mal, was die da machen, Irma.« Seine Stimme war ein ersticktes Flüstern. »Hättest du's gern, daß ich das mit dir mache?« Er massierte ihr mit den Fingern den Bauch, während sein Blick am Bildschirm klebte, auf dem sich eine Frau leidenschaftlich mit einem Mann paarte. »Erregt dich das, Baby? Mich macht es echt geil.«
Er schob Irma zwei Finger zwischen die Beine. »Ich bin soweit«, stöhnte er. Er packte die aufgepumpte Puppe, rollte sich auf sie und schob sich in sie hinein. Die Vagina der batteriebetriebenen Puppe öffnete und schloß sich um seinen Penis, wobei sie ihn immer fester preßte.
»O mein Gott!« stieß er hervor. Er stöhnte befriedigt auf. »Ja! Ja!«
Er blieb keuchend liegen, nachdem er die Batterie abgeschaltet hatte, und fühlte sich wundervoll. Am nächsten Morgen würde er Irma ein weiteres Mal benützen, bevor er die Luft herausließ und sie in einen Koffer packte.
Norman war Handelsvertreter und so gut wie immer in Städten unterwegs, wo ihm Gesellschaft gefehlt hatte. Bis er vor Jahren Irma entdeckte, die ihm alles bot, was er an weiblicher Gesellschaft brauchte. Die dummen Kollegen gabelten sich bei ihren Reisen Schlampen und Nutten auf; Norman war aber sicher, einen besseren Weg gefunden zu haben. Irma würde ihn nie mit einer Geschlechtskrankheit anstecken.
Noch ein Stockwerk höher war Pat Murphy mit seiner Familie gerade vom Abendessen in einem Restaurant wieder in Suite 725 zurückgekehrt. Der zwölfjährige Tim stand auf dem Balkon mit Ausblick auf den Park. »Können wir morgen zusammen auf das Denkmal klettern, Daddy«, bettelte er. »Bitte?«
»Nein«, widersprach sein jüngerer Bruder. »Ich will ins Smithsonian Institute.«
»In die Smithsonian Institution«, verbesserte der Vater.
»Ist doch egal. Ich will aber hin.«
Es war das erstemal, daß die Kinder in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika weilten, obwohl ihr Vater dort die Hälfte eines jeden Jahres verbrachte. Pat Murphy war - ein erfolgreicher - Lobbyist, der in Washington Kontakt zu einigen der wichtigsten Persönlichkeiten hatte.
Sein Vater war Bürgermeister einer kleinen Stadt in Ohio gewesen; Pat war mit der Politik großgeworden, und sie hatte ihn von jeher fasziniert. Sein bester Freund war damals ein Junge namens Joey. Die beiden waren zur gleichen Schule gegangen, hatten während des Sommers in Jugendlagern gemeinsam Ferien gemacht und alles miteinander geteilt. Sie waren, im wahrsten Sinne des Wortes, einer des andern bester Freund. Dann war mit einem Mal alles vorbei, als Joeys Eltern in einem Jahr während der Ferien verreisten, so daß er bei den Murphys wohnte. Da war Joey mitten in der Nacht in Pats Zimmer gekommen und zu ihm ins Bett gestiegen. »Pat«, flüsterte er. »Wach auf.« Pat riß die Augen auf. »Was? Was ist los?« »Ich bin so einsam«, flüsterte Joey. »Ich brauche dich.« Pat Murphy war völlig verwirrt. »Aber wozu?« »Verstehst du denn nicht? Ich liebe dich. Ich will dich.« Und dann hatte er Pat auf den Mund geküßt.
Und Pat dämmerte die furchtbare Erkenntnis, daß Joey homosexuell war. Es war Pat schlecht geworden, und er weigerte sich, je wieder mit Joey zu sprechen.
Pat Murphy haßte Homosexuelle. Sie waren für ihn Ausgeflippte, Schwule, gottverdammte Tunten, die es darauf abgesehen hatten, unschuldige Kinder zu verführen. Er steckte seinen Haß und Ekel in eine Kampagne gegen Homosexualität, bei
Wahlen gab er seine Stimme grundsätzlich nur Kandidaten mit antihomosexuellem Engagement, und er hielt Vorträge über die Übel und Gefahren der Homosexualität.
In der Vergangenheit war er immer allein nach Washington gereist; doch diesmal hatte seine Frau keine Ruhe gegeben und hartnäckig darauf bestanden, daß sie und die Kinder mitkamen.
»Wir möchten einmal sehen, wie dein Leben dort aussieht«, bat sie. Und Pat hatte sich schließlich in sein Schicksal ergeben.
Es ist ja sowieso fast das letzte Mal; dann werde ich sie nie mehr wiedersehen. Er betrachtete seine Frau und seine Kinder und dachte: Wie habe ich bloß einen so dummen Fehler machen können? Na schön, ich hab 's ja fast hinter mir. Frau und Kinder hatten für den morgigen Tag großartige Pläne geschmiedet. Doch es würde für sie kein Morgen mit ihm mehr geben. Wenn sie aufwachten, würde er längst im Flugzeug nach Brasilien sitzen.
Dort wartete Alan auf ihn.
In Suite 825, der Imperial Suite, herrschte totale Stille. Nun atme doch, befahl er sich. Du mußt jetzt ganz tief atmen ... langsamer, noch langsamer ... Er befand sich in Panikstimmung. Er betrachtete den schlanken, nackten Körper des Mädchens, das auf dem Boden lag, und redete sich ein: Es war doch nicht meine Schuld. Sie ist ausgerutscht.
Sie hatte sich beim Sturz gegen die scharfe Kante des schmiedeeisernen Tisches den Kopf angeschlagen, und von ihrer Stirn tropfte Blut. Er hatte ihren Puls gefühlt, doch sie hatte keinen Puls. Er konnte es nicht fassen. Einen Augenblick war sie noch so lebendig gewesen, und eine Sekunde später ...
Ich muß sie von hier wegschaffen. Unverzüglich! Er drehte sich um, von der Leiche weg, und kleidete sich mit Windeseile an. Dieser Vorfall würde nicht einfach bloß einen weiteren Skandal bedeuten. Es würde ein Skandal, der die Welt erschütterte. Ich muß auf jeden Fall verhindern, daß man mich mit dieser Suite in Verbindung bringt, ich darf keinerlei Spuren hinterlassen. Nach dem Ankleiden ging er ins Badezimmer, feuchtete ein Handtuch an und rieb sämtliche Flächen ab, die er möglicherweise berührt hatte.
Als er endlich überzeugt war, keine Fingerabdrücke hinterlassen zu haben, die seine Anwesenheit in der Suite hätten beweisen können, ließ er seinen Blick ein letztes Mal durch den Raum gleiten. Ihre Handtasche! Er nahm die Handtasche auf der Couch an sich und lief zum gegenüberliegenden Ende des Apartments, wo der Privatlift wartete.
Er trat hinein und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Er drückte die Taste G. Als sich wenige Sekunden später die Tür des Fahrstuhls öffnete, befand er sich in der Garage, die völlig verlassen dalag. Er machte sich auf den Weg zu seinem Wagen. Da fiel ihm plötzlich etwas ein, und er rannte wieder zum Lift und wischte seine Fingerabdrücke von den Knöpfen im Fahrstuhlinnern. Er hielt sich im Schatten, vergewisserte sich, daß er noch immer allein in der Garage war, ehe er endlich wieder zu seinem Wagen lief, sich ans Steuer setzte, nach kurzem Warten den Motor anließ und aus der Garage hinausfuhr.
Es war ein philippinisches Zimmermädchen, das die ausgestreckte Leiche des Mädchens auf dem Boden entdeckte.
»O Dios ko, kawawa naman iyong babae!« Sie bekreuzigte sich und rannte, laut um Hilfe rufend, aus dem Zimmer.
Drei Minuten später stand Jeremy Robinson mit Thom Peters, dem Sicherheitschef des Hotels, in der Imperial Suite fassungslos vor der nackten Mädchenleiche.
»Herrgott«, stieß Thom entsetzt hervor. »Sie ist ja höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre alt.« Er wandte sich dem Hoteldirektor zu. »Da müssen wir wohl die Polizei benachrichtigen.«
»Warten Sie!« Polizei. Die Presse. Öffentlichkeit. Einen Moment lang dachte Robinson tatsächlich über eine Möglichkeit nach, die Leiche des Mädchens unbemerkt aus dem Hotel hinauszuschaffen. »Es geht wohl nicht anders«, räumte er schließlich widerstrebend ein.
Thom Peter zog sein Taschentuch heraus, bevor er den Hörer abnahm.
»Was soll das?« fragte Robinson unwirsch. »Wir befinden uns doch nicht am Tatort eines Verbrechens. Es handelt sich um einen Unfall.«
»Das steht keineswegs fest, oder?« warnte Peters.
Er wählte die Nummer und wartete. »Das Morddezernat bitte.«
Detective Nick Reese schien völlig dem Klischee eines Kriminalbeamten zu entsprechen, der genau weiß, wo's langgeht: ein großgewachsener, muskulöser Mann mit einer gebrochenen Nase - das Souvenir einer frühen Laufbahn als Boxer -, der in Washington als Streifenpolizist bei der Metropolitan Police angefangen und sich von der Pike auf langsam bis zum Lieutenant emporgearbeitet hatte, um schließlich vom Rang eines Detective D1 zum Detective D2 befördert zu werden. Er hatte im Laufe des letzten Jahrzehnts mehr Fälle gelöst als jeder andere Kollege in seinem Dezernat.
Detective Reese stand regungslos da, während er den Tatort in Augenschein nahm. Außer ihm befand sich noch eine Handvoll Männer in der Suite. »Hat jemand die Leiche ange-faßt?«
Robinson erschauerte. »Nein.«
»Wer ist sie?«
»Ich weiß es nicht.«
Reese nahm den Hoteldirektor ins Visier. »Da wird ausgerechnet in der Imperial Suite Ihres Hotels ein junges Mädchen tot aufgefunden, und Sie haben keine Ahnung, wer sie ist? Hat dieses Hotel etwa kein Gästebuch?«
»Selbstverständlich führen wir ein Gästebuch, Detective. Doch in diesem Fall .« Er hielt inne.
»In diesem Fall ...?«
»Die Suite ist auf den Namen eines Eugene Gant gebucht worden.«
»Wer ist Eugene Gant?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Detective Reese verlor allmählich die Geduld. »Nun hören Sie mir mal gut zu. Wenn diese Suite gebucht worden ist, muß ja auch für sie gezahlt worden sein . mit Bargeld, Kreditkarte - meinetwegen auch mit Schafen -, egal, was. Und derjenige Hotelangestellte, der diesen Gant im Gästebuch registriert hat, muß doch wohl einen Blick auf ihn erhascht haben. Wer hat ihn ins Gästebuch eingetragen?«
»Unser Tagesempfangschef. Gorman.«
»Ich möchte ihn sprechen.«
»Das ist leider nicht möglich.«
»Ach ja? Und wieso nicht?«
»Er ist heute in die Ferien gefahren.«
»Dann rufen Sie ihn an.«
Robinson seufzte. »Er hat uns nicht mitgeteilt, wo er Urlaub macht.«
»Und wann kehrt er wieder zurück?«
»In zwei Wochen.«
»Da will ich Ihnen mal ein kleines Geheimnis verraten. Ich habe keineswegs die Absicht, zwei Wochen zu warten. Ich benötige hier und jetzt dringend ein paar Informationen. Es muß doch in diesem Hotel eine Person geben, die beobachtet hat, wie jemand diese Suite betreten oder verlassen hat.«
»Nicht unbedingt«, widersprach Robinson in einem entschuldigenden Ton. »Diese Suite besitzt nämlich neben dem gewöhnlichen Ausgang auch einen eigenen Fahrstuhl, der direkt zur Garage im Kellergeschoß fährt . Im übrigen kann ich die ganze Aufregung nicht verstehen. Hier . es handelt sich hier um einen Unfall. Wahrscheinlich war das Mädchen drogenabhängig. Es hat eine Überdosis genommen, ist gestolpert und hingefallen.«
Ein Kriminalbeamter trat auf Detective Reese zu. »Ich habe mir die Schränke angeschaut. Das Kleid des Mädchens kommt von Gap, die Schuhe sind von Wild Fair. Sonst keinerlei Hinweise.«
»Es gibt also gar keine Anhaltspunkte für eine Identifizierung?«
»Nein. Falls Sie eine Handtasche bei sich gehabt hat, so ist sie verschwunden.«
Detective Reese unterzog die Leiche einer neuerlichen Musterung. »Bringen Sie mir ein Stück Seife«, wies er den neben ihm stehenden Polizisten an. »Und feuchten Sie die Seife an.«
Der Polizist machte eine verdutzte Miene. »Entschuldigung?«
»Ein Stück nasse Seife.«
»Jawohl, Sir.« Er verließ eilends den Raum.
Detective Reese kniete neben der Leiche des Mädchens und betrachtete den Ring an ihrem Finger. »Sieht ganz nach einem Schulring aus.«
Eine Minute später kehrte der Polizist zurück und überreichte Reese ein Stück Seife.
Reese rieb den Finger des Mädchens behutsam mit der Seife ein und zog anschließend vorsichtig den Ring ab. Er drehte ihn nach allen Seiten. »Es handelt sich um einen Klassenring von der Denver High School«, erklärte er, nachdem er ihn untersucht hatte. »Und er trägt die Initialen P. Y.« Er schaute zu seinem Begleiter hoch. »Überprüfen Sie dies. Rufen Sie bei der Schule an. Finden Sie heraus, wer das Mädchen ist. Wir müssen sie so rasch wie möglich identifizieren.«
Detective Ed Nelson - ein Experte der Abteilung für Fingerabdrücke - trat auf Detective Reese zu. »Eine verdammt komische Sache, Nick. Wir finden hier überall Fingerabdrücke, und doch hat sich jemand die Mühe gemacht, von den Türgriffen sämtliche Fingerabdrücke zu entfernen.«
»Das heißt, daß sich zum Zeitpunkt des Todes noch eine weitere Person in dieser Suite aufgehalten hat. Warum hat er keinen Arzt geholt? Warum hat er es für nötig befunden, Fingerabdrücke zu beseitigen? Und was, Teufel noch mal, hat ein Mädchen überhaupt in so einer teueren Suite verloren?«
»In welcher Form ist die Bezahlung für die Suite entrichtet worden?« fragte er Robinson.
»Laut unseren Unterlagen ist bar bezahlt worden, durch einen Boten, der ein Kuvert brachte. Die Buchung der Suite erfolgte übrigens per Telefon.«
»Nick«, meldete sich der Coroner zu Wort, »können wir die Leiche jetzt bewegen?«
»Noch eine Minute, bitte. Habt ihr irgendwelche Anzeichen von Gewaltanwendung entdeckt?«
»Nur die Verletzung auf der Stirn. Wir werden selbstverständlich eine Obduktion durchführen.«
»Irgendwelche Schleifspuren am Körper?«
»Nein. Die Arme und Beine sind sauber.«
»Ist sie eventuell vergewaltigt worden?«
»Das werden wir überprüfen.«
Detective Reese seufzte. »Da hätten wir also folgenden Tatbestand: Ein Schulmädchen aus Denver kommt nach Washington und wird in einem der teuersten Hotels der Stadt ermordet. Ein Unbekannter beseitigt seine Fingerabdrücke und verduftet. Die Geschichte ist faul. Ich will wissen, wer diese Suite gemietet hat.«
Er wandte sich an den Coroner. »Sie können die Leiche jetzt mitnehmen.« Er fixierte Detective Nelson. »Haben Sie den Privatlift nach Fingerabdrücken untersucht?«
»Jawohl. Der Lift fährt direkt ins Kellergeschoß hinunter, und er hat lediglich zwei Bedienungsknöpfe. Beide Knöpfe sind abgewischt worden.«
»Sie haben in der Garage nachgeschaut?«
»Ja. Dort unten hat sich nichts Ungewöhnliches ergeben.«
»Wer immer der Täter sein mag - er hat sich verdammt viel
Mühe gemacht, um seine Spuren zu verwischen. Da muß es sich entweder um eine Person mit Vorstrafenregister handeln oder um eine VIP, die sich damit amüsiert, über die Stränge zu schlagen.« Er musterte Robinson. »Welche Leute buchen diese Suite üblicherweise?«
»Sie ist -«, Robinson mußte sich sichtlich überwinden, »höchstbedeutenden Gästen vorbehalten: Königen, Premierministern ...« Er zögerte erneut. »... Staatspräsidenten.«
»Sind während der vergangenen vierundzwanzig Stunden von diesem Telefon Anrufe getätigt worden?«
»Das weiß ich nicht.«
Detective Reese zeigte sich zunehmend irritiert. »Falls ein Anruf stattgefunden hätte, wäre er aber dokumentiert worden?«
»Selbstverständlich.«
Detective Reese nahm den Hörer ab. »Hier Detective Nick Reese. Ich muß wissen, ob im Laufe der vergangenen vierundzwanzig Stunden von der Imperial Suite aus telefoniert worden ist. Ich werde warten.«
Er sah den Mitarbeitern des Coroner zu, als sie die nackte Mädchenleiche mit einem Laken zudeckten und auf eine Bahre hoben. Mein Gott, dachte Reese, sie hatte ja kaum angefangen zu leben.
Er hörte die Stimme des Telefonisten. »Detective Reese?«
»Am Apparat.«
»Es hat gestern einen Anruf von der Imperial Suite aus gegeben. Es war ein Ortsgespräch.«
Reese zückte Bleistift und Notizblock. »Wie lautete die Nummer? . Vier-fünf-sechs-sieben-null-vier-eins . « Reese begann mit dem Notieren der Nummer, brach dann aber abrupt ab und schaute entgeistert auf sein Notizbuch. »Scheiße!«
»Was ist los?« fragte Detective Nelson.
Reese hob den Kopf. »Es ist die Telefonnummer des Weißen Hauses.«