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Der erste Eintrag in Leslie Stewarts Tagebuch lautete: Liebes Tagebuch: Heute morgen bin ich dem Mann begegnet, den ich heiraten werde.

Es war eine schlichte, optimistische Feststellung, die nichts von den dramatischen Ereignissen ahnen ließ, die bald folgen sollten.

Es geschah an einem jener raren, glücklichen Tage, an denen nichts schiefgehen konnte. Leslie Stewart glaubte eigentlich nicht an Astrologie; so fiel ihr Blick an diesem Morgen beim Blättern im Lexington Herald Leader eher zufällig in Zoltaires Astrologischer Kolumne auf ihr Horoskop. Es lautete:

Löwe (23. Juli bis 22. August). Der Neumond erleuchtet ihr Liebesleben. Sie befinden sich auf dem Höhepunkt ihres Mondzyklusses und sollten einer aufregenden neuen Wende in Ihrem Leben grosse Beachtung schenken. Ihr kompatibles Sternzeichen ist Jungfrau. Der heutige Tag wird für Sie ein bedeutsamer Tag. Seien Sie bereit, ihn zu geniessen.

Bereit sein zu genießen? dachte Leslie spöttisch. Für sie würde der heutige Tag genauso verlaufen wie alle anderen Tage auch. Sterndeuterei war Unsinn - Zuckerwatte für geistig Minderbemittelte.

Leslie war PR-Agentin bei der Presse- und Werbeagentur Bailey & Tomkins in Lexington, Kentucky, und auf ihrem Terminkalender waren für den Nachmittag drei Sitzungen anberaumt: die erste mit Managern der Kentucky Fertilizer Company, die äußerst angetan waren von der neuen Werbekampagne, die Leslie soeben für sie entworfen hatte und bei der ihnen ganz besonders der Aufmacher gefiel: »Wenn Sie Rosen riechen möchten ...« Beim zweiten Termin würde sie es mit der Breeders Stud Farm, beim dritten mit der Lexington Coal Company zu tun haben. Ein bedeutsamer Tag?

Leslie Stewart - Ende Zwanzig, mit einer provozierend schlanken Figur - war eine aufregend exotische Erscheinung: dunkelgraue Augen, hohe Wangenknochen und honigblondes, seidiges Haar, das sie lang und auf eine sehr elegante Weise schlicht trug. »Wenn man ein schöner Mensch ist«, hatte ihr einmal eine Freundin erklärt, »und Verstand sowie eine Möse hat, dann gehört einem die ganze Welt.«

Leslie Stewart war ein schöner Mensch; sie besaß einen IQ von 170, und an weiblichen Reizen hatte die Natur bei ihr nicht gespart. Sie persönlich empfand ihr Aussehen allerdings eher als Handicap. Denn die Männer machten ihr zwar laufend unsittliche Angebote oder gar Heiratsanträge, aber nur selten einen ernsthaften Versuch, sie wirklich kennenzulernen.

Von zwei Sekretärinnen abgesehen, war Leslie in der Agentur Bailey & Tomkins die einzige Frau, während es fünfzehn männliche Angestellte gab, denen sie allen, wie ihr bereits nach einer Woche klargeworden war, an Intelligenz überlegen war -eine Entdeckung, die sie freilich für sich zu behalten beschloß.

Anfangs hatten beide Firmengesellschafter, der ruhige, übergewichtige Jim Bailey, der in seinen Vierzigern war, und der zehn Jahre jüngere, magersüchtige und überdrehte Al Tomkins - ohne gegenseitiges Wissen - versucht, sie ins Bett zu kriegen.

Sie hatte beiden mitgeteilt: »Wenn Sie davon noch einmal anfangen, kündige ich.«

Und damit hatte sich dieses Problem erledigt. Leslie war für die beiden eine zu wertvolle Mitarbeiterin, um das Risiko einzugehen, sie zu verlieren.

Den Kollegen hatte Leslie während ihrer ersten Arbeitswo-che in der Kaffeepause einen Witz erzählt.

»Drei Männer begegneten einer Fee, die jedem einen Wunsch zu erfüllen versprach. Daraufhin sagte der erste Mann: >Ich möchte gern fünfundzwanzig Prozent klüger sein.< Die Fee zwinkerte mit den Augen, und der Mann sagte: >He, ich fühle mich schon klüger. < Der zweite Mann sagte: >Ich wünsche mir, fünfzig Prozent klüger zu sein.< Die Fee zwinkerte, und der Mann rief: >Das ist wunderbar. Ich glaube, jetzt verstehe ich Dinge, die ich vorher nie verstehen konnte. < Der dritte Mann sagte: >Ich würde gern hundert Prozent klüger sein.<

Daraufhin hat die Fee gezwinkert, und der Mann verwandelte sich in eine Frau.«

Leslie schaute die drei Männer, die mit ihr zusammen am Tisch saßen, erwartungsvoll an. Alle drei machten ein langes Gesicht und schwiegen; sie fanden die Geschichte offenbar gar nicht lustig.

Das hatte gesessen.

Der bedeutsame Tag, den der Astrologe verheißen hatte, begann morgens um elf Uhr, als Jim Bailey in Leslies kleines, enges Büro trat.

»Wir haben einen neuen Kunden«, verkündete er. »Ich möchte Sie bitten, ihn zu übernehmen.«

Sie betreute bereits mehr Kunden als jeder andere Kollege in der Agentur, hütete sich aber, zu protestieren.

»Gut«, sagte sie. »Um was für eine Sache handelt es sich?«

»Es handelt sich überhaupt nicht um eine Sache, sondern um eine Person. Einen Mann. Sie haben bestimmt schon von Oliver Russell gehört, oder?«

Oliver Russell kannte jeder. Er war ein heimischer Anwalt, der für das Amt des Gouverneurs kandidierte; sein Gesicht prangte in ganz Kentucky auf Plakattafeln. Aufgrund seiner brillanten Anwaltstätigkeit galt er mit seinen fünfunddreißig Jahren als der begehrteste Junggeselle im Bundesstaat. Er war

Gast bei allen Talkshows der wichtigen Fernsehsender in Lexington - WDKY, WTVO, WKYT - sowie der beliebten Lokalradiosender WKQQ und WLRO. Er war ein auffällig gutaussehender Mann, mit schwarzem, widerspenstigem Haar, dunklen Augen, sportlichem Körper und freundlichem Lächeln, und er stand in dem Ruf, mit den meisten Frauen Lexingtons geschlafen zu haben.

»Doch, ich habe von ihm gehört. Was werden wir für ihn tun?«

»Wir werden ihm helfen, Gouverneur von Kentucky zu werden. Er ist übrigens bereits unterwegs zu uns.«

Wenige Minuten später traf Oliver Russell ein und war sogar noch beeindruckender als auf den Fotos.

Er schenkte Leslie ein warmes Lächeln, als sie einander vorgestellt wurden. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört, und ich bin sehr froh, daß Sie meine Wahlkampagne in die Hand nehmen werden.«

Er war so ganz anders, als Leslie erwartet hatte. Der Mann strahlte eine geradezu entwaffnende Ehrlichkeit aus. Es verschlug Leslie im ersten Moment fast die Sprache.

»Ich ... danke für das Kompliment. Nehmen Sie doch bitte Platz.«

Oliver Russell ließ sich nieder.

»Gestatten Sie, daß wir einfach mit dem Anfang beginnen«, sagte Leslie. »Warum kandidieren Sie überhaupt für das Amt des Gouverneurs?«

»Aus einem ganz schlichten Grund. Kentucky ist ein wundervolles Land. Wir wissen das, weil wir hier leben und seinen Zauber erfahren können - der größte Teil der amerikanischen Bevölkerung hält uns Menschen aus Kentucky jedoch für eine Horde von Hinterwäldlern. Und das möchte ich ändern. Kentucky hat mehr zu bieten als ein Dutzend anderer Bundesstaaten zusammengenommen. Hier hat die Geschichte unseres Landes angefangen. Wir haben eine der ältesten Kapitolbauten von

Amerika. Kentucky hat Amerika zwei Präsidenten geschenkt. Es ist das Land von Daniel Boone, Kit Carson und von Richter Roy Bean. Wir haben die schönste Landschaft der Welt -überwältigende Schluchten, Flüsse, Rispengrasweiden -, einfach alles, und dafür will ich der übrigen Welt die Augen öffnen.«

Er sprach mit tiefer Überzeugung. Leslie spürte seine starke Anziehungskraft und mußte an ihr Horoskop denken. Der Neumond erleuchtet Ihr Liebesleben. Der heutige Tag wird für Sie ein bedeutsamer Tag sein. Seien Sie bereit, ihn zu genießen.

»Die Kampagne wird aber nur überzeugen können«, merkte Oliver an, »wenn Sie ebenso fest daran glauben wie ich.«

»Ich glaube fest dran«, erwiderte Leslie schnell. Allzuschnell? »Ich freue mich auf diese Arbeit.« Sie zögerte kurz, bevor sie es aussprach: »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«

»Gewiß doch.«

»Welches Sternzeichen sind Sie?«

»Jungfrau.«

Als Oliver Russell gegangen war, begab Leslie sich ins Büro von Jim Bailey. »Der Mann gefällt mir«, sagte sie. »Er ist aufrichtig. Ihm geht es wirklich um die Sache. Ich glaube, er wird ein guter Gouverneur.«

Jim musterte sie nachdenklich. »Ich muß Sie aber darauf hinweisen, daß es nicht leicht werden wird.«

Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. »Ach ja? Und warum nicht?«

Bailey zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Da ist irgend etwas im Gange, das ich mir nicht zu erklären vermag. Sie haben Russell doch auch auf all den Plakaten und pausenlos im Fernsehen gesehen?«

»Selbstverständlich.«

»Na ja, damit ist es nun vorbei.«

»Ich versteh nicht. Wieso?«

»Genaues weiß keiner. Es gibt aber 'ne Menge komischer

Gerüchte. Ein Gerücht besagt, daß es da jemand gibt, der Russell so weit unterstützte, daß er ihm die Wahlkampagne komplett finanzierte - und ihn nun plötzlich aus irgendeinem unbekannten Grund fallenlassen hat.«

»Mitten in einem Wahlkampf, kurz vor dem Sieg? Das wäre doch unsinnig, Jim.«

»Ich weiß.«

»Und warum ist er dann zu uns gekommen?«

»Er will das Amt wirklich, das heißt, er hat persönlichen Ehrgeiz. Er ist aber auch fest davon überzeugt, daß er etwas bewegen könnte - daß gerade er der Gouverneur ist, den Kentucky braucht. Von uns erwartet er das Konzept für einen Wahlkampf, der nicht viel kostet, denn für weitere Wahlspots in Rundfunk und Fernsehen, für eine große Werbekampagne fehlen ihm die Mittel. Da bleibt uns also eigentlich nur eines: ihm möglichst viele Interviews zu beschaffen, in der Presse Meldungen und Berichte über ihn unterzubringen und so weiter.« Er schüttelte den Kopf. »Der amtierende Gouverneur Addison gibt ein Vermögen für seinen Wahlkampf aus. Laut Umfragen der letzten zwei Wochen sind Russells Aussichten beträchtlich gesunken. Es ist ein Jammer, denn er ist ein guter Anwalt, er übernimmt viele Fälle kostenlos, aus sozialem Engagement. Ich bin überzeugt, daß er auch ein guter Gouverneur sein würde.«

Es war am Abend dieses Tages, als Leslie den ersten Eintrag in ihr neues Tagebuch schrieb:

Liebes Tagebuch: Heute morgen bin ich dem Mann begegnet, den ich heiraten werde.

Leslie Stewart hatte eine glückliche Kindheit erlebt. Sie war ein außergewöhnlich intelligentes Kind; ihr Vater, Englischlehrer am Lexington Community College, ihre Mutter, eine Hausfrau, waren immer für sie da. Leslies Vater war ein ansehnlicher Mann, ein vornehmer Mensch, ein Intellektueller, ein liebevoller, treusorgender Ehemann und Vater, der nur gemeinsam mit der Familie Ferien machte und sie auf alle Reisen mitnahm. Leslie war sein ein und alles. »Du bist Dad-dys Mädchen«, versicherte er ihr immer wieder. Er machte ihr Komplimente wegen ihrer Schönheit, wegen ihrer Schulnoten, wegen ihres Betragens und ihrer Freundinnen. In seinen Augen war Leslie unfehlbar. Zum neunten Geburtstag kaufte der Vater ihr ein hübsches braunes Samtkleid mit Spitzenmanschetten, und er bat sie, das Kleid anzuziehen, und gab dann vor Freunden, die zum Abendessen kamen, richtig mit ihr an. »Ist sie nicht wunderschön!?« rief er.

Leslie hatte ihn abgöttisch verehrt.

Ein Jahr später war eines Morgens Leslies schönes Leben im Bruchteil einer Sekunde aus und vorbei, als die Mutter sie tränenüberströmt auf einen Stuhl drückte. »Darling, dein Vater ... Er hat uns verlassen.«

Leslie begriff zuerst überhaupt nichts. »Wann kommt er denn wieder zurück?« wollte sie wissen.

»Er kommt nie mehr zurück.«

Für Leslie war jedes dieser Worte wie ein Messerstich.

Meine Mutter hat ihn verjagt, dachte sie und empfand Mitleid mit der Mutter wegen des bevorstehenden Scheidungsprozesses und der Auseinandersetzungen um ihre Vormundschaft, weil sie absolut davon überzeugt war, daß der Vater nie auf sie verzichten würde. Niemals. Er wird mich zu sich holen, dachte Leslie.

Doch die Wochen gingen vorbei, und der Vater kam nicht. Man erlaubt ihm nicht, daß er mich besuchen kommt, sagte Leslie sich. Das ist Mutters Strafe für ihn.

Es war Leslies alte Tante, die das Kind aufklärte, daß es keine Auseinandersetzungen um die Vormundschaft geben würde. Leslies Vater hatte sich in eine verwitwete Universitätsdozentin verliebt und war zu ihr gezogen; er wohnte jetzt bei ihr in der Limestone Street.

Die Mutter zeigte Leslie das Haus während eines Einkaufsbummels. »Dort wohnen sie«, sagte sie verbittert.

Leslie nahm sich vor, ihren Vater zu besuchen. Wenn er mich sieht, dachte sie, wird er wieder zu uns nach Hause kommen wollen.

An einem Freitag lief Leslie nach Schulschluß zum Haus in der Limestone Street und klingelte. Ein Mädchen in Leslies Alter öffnete. Leslie starrte das Mädchen wortlos, fassungslos an - das Mädchen trug ein braunes Samtkleid mit Spitzenmanschetten.

Das Mädchen musterte sie neugierig. »Wer bist du?«

Leslie floh.

Leslie erlebte, wie ihre Mutter sich im Verlauf des folgenden Jahres völlig in sich selbst zurückzog und jegliches Interesse am Leben verlor. Leslie hatte es für eine leere Redewendung gehalten, wenn die Leute sagten, ein Mensch sei »an gebrochenem Herzen« gestorben, doch nun mußte sie ohnmächtig zuschauen, wie ihre Mutter schwächer und schwächer wurde und schließlich starb; und wenn sie gefragt wurde, woran ihre Mutter gestorben sei, antwortete sie: »Sie starb an gebrochenem Herzen.«

Und Leslie nahm sich fest vor, daß sie sich so etwas von keinem Mann antun lassen würde.

Nach dem Tod der Mutter wohnte Leslie bei ihrer Tante und besuchte die Bryan Station High School. Das Studium an der Universität von Kentucky schloß sie mit summa cum laude ab. Weil sie im letzten Studienjahr zur Schönheitskönigin gewählt worden war, erhielt sie mehrere Angebote, als Model zu arbeiten; doch sie lehnte ab.

Leslie hatte zwei kurze Affären, die erste mit einem Fußballidol von der Uni, die zweite mit einem Professor für Wirtschaftswissenschaften. Sie fand sie beide bald langweilig. Leslie war für die beiden einfach zu intelligent.

Kurz vor Studienende starb Leslies Tante. Nach dem Examen bewarb Leslie sich um eine Stelle bei der Werbe- und Public Relations-Agentur Baily & Tomkins. Die Büros lagen in der Vine Street, in einem U-förmigen Gebäude mit Kupferdach und einem Brunnen im Innenhof.

Jim Bailey, der ältere Gesellschafter, hatte sich Leslies Lebenslauf gründlich angeschaut und dann mit dem Kopf genickt. »Sehr beeindruckend. Sie haben Glück. Wir suchen gerade eine Sekretärin.«

»Eine Sekretärin? Ich hatte gehofft .«

»Ja?«

»Nichts.«

Als Sekretärin fiel Leslie die Aufgabe zu, den geschäftlichen Besprechungen als Protokollantin beizuwohnen, und im Laufe solcher Sitzungen begann sie, sich ein Urteil über die Vorschläge und Entwürfe für Werbekampagnen zu bilden und über Möglichkeiten zu ihrer Optimierung nachzudenken. An einem Morgen ergriff ein Agent der Agentur das Wort: »Ich habe die Idee für das ideale Logo für Rancho Beef Chili. Wir zeigen auf dem Dosenetikett einen Cowboy mit Lasso beim Einfangen eines Rindes. Dieses Bild suggeriert die Frische des Fleisches und .«

Aber das ist eine gräßliche Idee, dachte Leslie. Als sie die Augen aller im Raum Anwesenden auf sich gerichtet sah, begriff sie mit Entsetzen, daß sie laut gedacht hatte.

»Würden Sie uns das bitte einmal erläutern, junge Dame?«

»Ich .« Leslie wäre am liebsten im Boden versunken. Alle schauten sie wartend an. Sie holte tief Luft. »Man will doch beim Fleischessen nicht daran erinnert werden, daß man ein totes Tier verzehrt.«

Angespanntes Schweigen. Jim Bailey räusperte sich. »Vielleicht sollten wir uns die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen.«

Bei einer Beratung über das Werbekonzept für eine neue Kosmetikseife machte in der folgenden Woche ein anderer

Agent den Vorschlag: »Hierfür werden wir Siegerinnen von Schönheitswettbewerben einspannen.«

»Ich bitte um Verzeihung«, warf Leslie mit unsicherer Stimme ein, »aber so eine Werbung hat es, glaube ich, bereits gegeben. Warum setzen wir hier eigentlich nicht besonders hübsche Flugbegleiterinnen aus aller Welt ein, um zu demonstrieren, daß unsere Kosmetikseife universal ist?«

Von da an fragten die Kollegen bei Arbeitssitzungen Leslie um ihre Meinung zu Projektideen.

Ein Jahr später war sie zur Werbetextassistentin avanciert; zwei Jahre danach wurde sie PR-Agentin mit Zuständigkeit für Werbung sowie für Öffentlichkeitsarbeit.

Oliver Russells Wahlkampf zu managen, das bedeutete für Leslie die erste wirklich große Aufgabe bei der Agentur. Als zwei Wochen nach Oliver Russells Antrittsbesuch Bailey darauf hinwies, daß es eventuell ratsam wäre, Russell als Klienten aufzugeben, weil er nicht in der Lage sei, das übliche Agentenhonorar zu zahlen, überredete Leslie ihn nicht zuletzt deshalb, an Russell festzuhalten.

»Betrachten Sie's als Wohltätigkeitsposten - als Arbeit für einen guten Zweck«, sagte sie.

Bailey musterte sie einen Augenblick lang nachdenklich. »Einverstanden.«

Leslie saß neben Oliver Russell auf einer Bank im Triangle Park. Es war ein kühler Herbsttag; vom See her wehte eine leichte Brise herüber. »Ich hasse die Politik«, erklärte Oliver Russell.

Leslie schaute ihn verblüfft an. »Aber warum sind Sie dann -

«

»Weil ich das System ändern möchte, Leslie. In seiner bestehenden Form wird es beherrscht von Lobbyisten und Großunternehmen, die die falschen Leute an die Macht bringen und diese Leute dann völlig in der Hand haben. Da gäbe es so viel zu tun!« Seine Stimme klang leidenschaftlich. »Die politisch Verantwortlichen haben unser Land zu einem Altherrenverein heruntergewirtschaftet. Sie verfolgen in erster Linie eigene Interessen, statt sich um das Wohl des Volkes zu kümmern. Das ist einfach nicht in Ordnung. Ich werde alles tun, um diesen Mißstand zu korrigieren.«

Als Leslie Olivers weiteren Ausführungen zuhörte, dachte sie: Er könnte tatsächlich eine Wende herbeiführen. Er hatte etwas ausgesprochen Zwingendes und Mitreißendes an sich. Es war allerdings so, daß sie einfach alles an ihm aufregend fand. Solche Anteilnahme hatte sie bisher noch für keinen Mann empfunden, und es war eine berauschende Erfahrung. Sie hatte allerdings keine Ahnung, welche Gefühle er für sie hegte. Verdammt, dachte sie, er ist immer nur der perfekte Gentleman. Es kam Leslie so vor, als ob an der Bank alle paar Minuten Leute stehenblieben, um Oliver die Hand zu schütteln und alles Gute zu wünschen; und die vorbeikommenden Frauen hätten Leslie offenbar am liebsten mit Blicken vergiftet. Wahrscheinlich ist er mit denen allen ausgegangen, dachte Leslie. Wahrscheinlich ist er mit allen im Bett gewesen. Na schön, das geht mich nichts an.

Es war ihr zu Ohren gekommen, daß er bis vor kurzem mit der Tochter eines Senators befreundet gewesen war; sie überlegte, was da wohl schiefgegangen sein mochte. Das geht mich jedoch ebensowenig etwas an.

Es war einfach nicht zu übersehen, daß Olivers Wahlkampf schlecht lief. Ohne Geld zur Bezahlung von Wahlkampfhelfern, ohne politische Werbespots im Fernsehen, Radio und Zeitungen war es ihm schlicht unmöglich, Gouverneur Cary Addison Paroli zu bieten, dessen Gesicht im ganzen Lande allgegenwärtig schien. Es gelang Leslie zwar, zu erreichen, daß Oliver auf Firmenausflügen, in Fabriken und auf Dutzenden von Gesellschaftsereignissen in Erscheinung trat; ihr war jedoch bewußt, daß dergleichen Auftritte eher nebensächlich waren. Sie fand es frustrierend.

»Haben Sie schon die jüngsten Umfrage-Ergebnisse gesehen?« fragte Bailey. »Ihr Junge fällt ins Leere.«

Nicht, soweit es in meiner Macht steht, dachte Leslie.

Leslie und Oliver waren zum Abendessen ins Cheznous gegangen. »Es klappt nicht, stimmt's?« fragte Oliver leise.

»Wir haben ja noch viel Zeit«, meinte Leslie beruhigend. »Wenn die Wähler Sie erst einmal entdecken ...«

Oliver schüttelte den Kopf. »Ich habe die UmfrageErgebnisse natürlich auch gesehen. Sie sollten wissen, wie dankbar ich Ihnen für all Ihre Bemühungen in meiner Sache bin, Leslie. An Ihnen liegt's bestimmt nicht. Sie haben großartig gearbeitet.«

Sie schaute ihn über den Tisch an und dachte: Er ist der bewundernswerteste Mann, dem ich je begegnet bin, und ich kann nichts für ihn tun. Sie hätte ihn am liebsten in die Arme genommen und getröstet. Ihn getröstet - getröstet? Wem will ich da wohl Sand in die Augen streuen?

Sie machten sich gerade daran, aufzustehen und zu gehen, als ein Herr und eine Dame mit zwei kleinen Mädchen auf ihren Tisch zusteuerten.

»Oliver! Wie geht's?« Eine schwarze Augenklappe verlieh dem gepflegten Mann um die Vierzig das Aussehen eines liebenswerten Piraten.

Oliver erhob sich und streckte ihm die Hand entgegen. »Hallo, Peter. Darf ich Sie mit Leslie Stewart bekanntmachen? Leslie - Peter Tager.«

»Hallo, Leslie.« Tager machte eine Kopfbewegung in Richtung seiner Familie. »Meine Frau Betsy, und hier ist unsere Elizabeth, und dieses Mädchen ist unsere Tochter Rebecca.«

In seiner Stimme schwang großer Stolz mit.

Peter Tager wandte sich Oliver zu. »Ich bedaure zutiefst, was geschehen ist. Wirklich. Ich habe es widerstrebend getan. Ich

hatte keine Wahl.«

»Ich verstehe, Peter.«

»Wenn ich eine Möglichkeit gesehen hätte, um es zu .«

»Es ist schon in Ordnung. Kein Problem.«

»Sie wissen doch, daß ich persönlich Ihnen bestes Gelingen wünsche.«

Auf dem Heimweg fragte Leslie: »Wovon hat er überhaupt gesprochen?«

Oliver wollte etwas sagen, hielt sich dann aber zurück. »Ach, das ist inzwischen völlig bedeutungslos.«

Leslie wohnte in einer adretten Einzimmerwohnung im Stadtteil Brandywine. Der Wohnblock war bereits in Sichtweite, als Oliver mit einem gewissen Zögern meinte: »Ich weiß, daß Ihre Agentur mich fast kostenlos betreut, Leslie. Ganz offen gesagt - ich glaube, Sie verschwenden Ihre Zeit. Es wäre wohl besser, wenn ich das Rennen einfach aufgeben würde.«

»Nein.« Sie war selbst überrascht von der Heftigkeit ihres Tons. »Sie dürfen jetzt nicht aufgeben. Wir werden schon noch einen Weg finden, damit Sie doch noch siegen.«

Oliver wandte den Kopf, um sie lange zu betrachten. »Es bedeutet Ihnen wirklich etwas, nicht wahr?«

Lese ich in diese Frage zu viel hinein? »Ja«, erwiderte sie leise, »es bedeutet mir wirklich etwas.«

Vor dem Wohnblock holte Leslie einmal tief Luft. »Möchten Sie mit hochkommen?«

Er schaute sie eine Zeitlang an, bevor er antwortete. »Ja.«

Später wußte sie nicht mehr, wer den ersten Schritt getan hatte, da konnte sie sich nur noch erinnern, wie sie sich gegenseitig entkleidet und einander in den Armen gelegen hatten; das Liebesspiel war von einer ungestümen, wilden Ungeduld gewesen, bevor sie jegliches Zeitgefühl verloren halten und langsam und unbeschwert in einer rhythmischen Ekstase verschmolzen. Etwas so Wunderbares hatte Leslie noch nie

erlebt.

Sie blieben die ganze Nacht über zusammen; es war eine unvergeßliche Nacht. Oliver war unersättlich, im Nehmen wie im Geben; er konnte einfach kein Ende finden. Er war wie ein Tier, und Leslie dachte, o mein Gott, wie ich selbst auch.

Beim morgendlichen Frühstück - es gab Orangensaft, Rühreier, Toast und Speck - sagte Leslie: »Am Freitag wird am Green River Lake ein Picknick stattfinden, Oliver, an dem viele Leute teilnehmen werden. Ich werde es so einrichten, daß du dort eine Rede hältst, und wir werden einen Radiowerbespot kaufen, damit deine Anwesenheit allen bekannt wird. Dann werden wir .«

»Leslie«, fiel er ihr protestierend ins Wort, »das kann ich nicht bezahlen.«

»Mach dir darüber mal keine Gedanken«, erwiderte sie leichthin. »Die Kosten wird die Agentur übernehmen.«

Ihr war völlig klar, daß dafür nicht die geringste Chance bestand. Sie würde die erforderliche Summe aus eigener Tasche hinlegen und Jim Bailey weismachen müssen, daß es sich um die Wahlkampfspende einer Anhängerin Russells handle - was im übrigen ja der Wahrheit entsprach. Ich bin bereit, alles zu tun, um ihn voranzubringen, dachte sie.

Olivers Rede auf dem Picknick beim Green River Lake, zu dem sich zweihundert Personen einfanden, war absolut brillant.

»Die Hälfte der Bevölkerung unseres Landes geht nie zur Wahl«, rief er. »Was die Wahlbeteiligung betrifft, so halten wir den Negativrekord unter den Industrienationen der Welt - sie liegt unter fünfzig Prozent. Wenn Sie politische Veränderungen wünschen, dann liegt es an Ihnen, daß sich wirklich etwas ändert; dafür tragen einzig und allein Sie die Verantwortung. Es ist jedoch keineswegs nur eine Verantwortung, es ist auch Ihr großes Vorrecht. Bald werden hier in Kentucky Wahlen stattfinden. Gehen Sie zur Wahl - ganz gleich, ob Sie Ihre Stimme für mich oder für meinen Gegner abgeben werden.

Aber kommen Sie zur Wahl.«

Die Leute jubelten ihm zu.

Leslie vereinbarte so viele Veranstaltungstermine für Oliver wie möglich. Er übernahm den Vorsitz bei der Eröffnung einer Kinderklinik, er weihte eine neue Brücke ein, sprach zu Frauenvereinen, Arbeitervereinen, Wohltätigkeitsorganisationen, in Altersheimen - und rutschte in den Umfragen trotzdem weiter nach unten. Wann immer Oliver keine Wahlkampfverpflichtungen wahrzunehmen hatte, versuchte er, mit Leslie zusam-menzusein. Sie fuhren in einer Kutsche gemeinsam durch den Triangle Park, sie verbrachten einen Sonnabendnachmittag auf dem Antiquitätenmarkt, sie aßen im Restaurant La Lucie zu Abend. Am 2. Februar, dem Groundhog Day und Jahrestag der Schlacht von Bull Run, schickte Oliver Leslie Blumen und hinterließ liebevolle Mitteilungen auf ihrem Anrufbeantworter: »Darling - wo bist Du? Du fehlst mir, du fehlst mir, du fehlst mir.«

»Ich bin bis über beide Ohren in deinen Anrufbeantworter verliebt. Weißt du eigentlich, wie sexy er klingt?«

»Ich fürchte, es ist verboten, so glücklich zu sein. Ich liebe dich.«

Es war Leslie völlig gleichgültig, wohin sie Oliver begleitete; ihr war einfach nur wichtig, bei ihm zu sein.

Auf einen Sonntag freuten sie sich besonders, an dem sie eine Kajakfahrt auf dem Russell Fork River machen wollten. Der Ausflug verlief zunächst ganz harmlos, bis der Fluß in einer riesigen Schleife um eine Bergsohle führte. Dort begannen Stromschnellen mit einer Folge von ohrenbetäubenden, atemberaubenden, senkrechten Wasserfällen, und in furchterregend geringen Abständen von einer Kajaklänge ging es anderthalb Meter ... zwei Meter ... drei Meter tief hinab. Dreieinhalb Stunden dauerte die Flußfahrt, und als die beiden aus dem Kajak ausstiegen, waren sie patschnaß und heilfroh, überhaupt noch am Leben zu sein; und sie konnten die Hände nicht voneinander lassen. Sie liebten sich in einer Holzhütte, im Fond seines Wagens, mitten im Wald.

An einem frühherbstlichen Tag bereitete Oliver zu Hause in seinem Haus in Versailles, einer Kleinstadt in der Nähe von Lexington, das Abendessen zu. Es gab gegrillte Steaks, die in Sojasauce mit Knoblauch und Kräutern mariniert worden waren und die mit gebackenen Kartoffeln, Salat und einem vollkommenen Rotwein serviert wurden.

»Du bist ein ausgezeichneter Koch«, lobte Leslie, die sich an ihn kuschelte. »Eigentlich bist du rundum wundervoll, mein Schatz.«

»Danke, Liebes.« Ihm fiel etwas ein. »Ich habe eine kleine Überraschung für dich. Etwas für uns beide zum Ausprobieren.« Er verschwand kurz im Schlafzimmer und kam mit einem Fläschchen einer klaren Flüssigkeit zurück.

»Hier, bitte«, sagte er.

»Was ist das?«

»Hast du schon mal von Ecstasy gehört?«

»Ob ich schon mal von Ekstase gehört habe? Ich bin doch mittendrin.«

»Ich meine die Droge Ecstasy. Das hier ist flüssiges Ecstasy. Angeblich ein großartiges Aphrodisiakum.«

Leslie runzelte die Stirn. »Liebling - das hast du wirklich nicht nötig. Das brauchen wir beide nicht. Außerdem könnte es gefährlich sein.« Sie zögerte, bevor sie ihre Frage aussprach. »Nimmst du das Zeug oft?«

Oliver lachte. »Ehrlich gesagt, nein. Zieh nicht so ein Gesicht. Ich hab's von einem Freund geschenkt bekommen, der meinte, daß ich's mal ausprobieren sollte. Es wäre das erste Mal, wenn ich's heute einnehme.«

»Laß es gar nicht zu einem ersten Mal kommen«, bat Leslie. »Wirst du es bitte wegschütten?«

»Du hast ja völlig recht. Selbstverständlich.« Er ging ins Badezimmer. Gleich darauf hörte Leslie die Wasserspülung.

»Schon beseitigt.« Er kehrte mit strahlendem Gesicht zurück. »Wozu brauche ich Ecstasy? Da habe ich etwas viel Besseres.«

Er nahm Leslie in die Arme.

Leslie hatte Liebesromane gelesen und Liebeslieder gehört, auf die unglaubliche Realität der Liebe war sie jedoch durch nichts vorbereitet. Sie hatte die romantischen Texte immer für sentimentalen Schwachsinn, für Wunschträume gehalten, doch nun wurde sie eines Besseren belehrt. Sie vermochte es nicht in Worte zu fassen, doch die ganze Welt erschien ihr auf einmal heller und schöner, alles war von einem Zauber berührt, und der Zauber hieß Oliver Russell.

Auf einer Samstagwanderung im Breaks Interstate Park genossen die beiden die spektakuläre Landschaft in vollen Zügen.

»In dieser Gegend bin ich noch nie gewesen«, hatte ihm Leslie vorher gestanden.

»Sie wird dir bestimmt gefallen.«

An einer scharfen Wegbiegung blieb Leslie plötzlich wie angewurzelt stehen. Auf der Mitte des Weges sah sie ein handgemaltes Holzschild: Leslie, willst du meine Frau

werden?

Es verschlang Leslie den Atem. Ihr Herz begann zu rasen. Sie drehte sich nach Oliver um.

Er nahm sie in die Arme. »Wirst du meine Frau?«

Wie habe ich nur solch großes Glück finden können? dachte Leslie überwältigt. Sie drückte ihn an sich und flüsterte: »Ja, Darling. Natürlich möchte ich deine Frau werden.«

»Daß du einen Gouverneur zum Ehemann haben wirst, kann ich dir leider nicht versprechen. Aber ich bin immerhin ein recht guter Anwalt.«

Sie schmiegte sich an ihn und erwiderte: »Das genügt mir vollauf.«

Als Leslie sich ein paar Abende später zum Ausgehen mit Oliver umzog, klingelte das Telefon.

»Darling, es tut mir schrecklich leid, aber ich habe eine schlechte Nachricht. Ich muß heute abend an einer Sitzung teilnehmen und unser gemeinsames Abendessen absagen. Verzeihst du mir?«

Leslie lächelte und sagte sanft: »Dir ist verziehen.« Als Leslie sich am nächsten Tag ein Exemplar des State Journal kaufte, sprang ihr die Schlagzeile entgegen: Frauenleiche im Kentucky River gefunden. Der Bericht lautete. »Von der Polizei wurde heute am frühen Morgen 16 Kilometer östlich von Lexington im Kentucky River die Leiche einer nackten, ungefähr 20jährigen Frau gefunden. Zur Feststellung der Todesursache wird gegenwärtig eine Obduktion durchgeführt .«

Leslie schauderte beim Lesen des Berichts. So jung zu sterben. Hatte sie einen Geliebten? Einen Ehemann? Wie dankbar ich doch sein muß, weil ich am Leben und so glücklich bin und so sehr geliebt werde.

Ganz Lexington schien von der bevorstehenden Hochzeit zu reden. Kein Wunder: Lexington war eine kleine Stadt und Oliver Russell eine bekannte und beliebte Persönlichkeit. Die beiden waren ein aufsehenerregendes Paar: der dunkle, attraktive Oliver und die junge Leslie mit dem schönen Gesicht, der Traumfigur und dem honigblonden Haar. Wie ein Lauffeuer hatte die Nachricht sich ausgebreitet.

»Hoffentlich weiß er sein Glück zu schätzen«, sagte Jim Bailey.

»Mein Glück ist nicht minder groß«, korrigierte ihn Leslie mit einem fröhlichen Lächeln.

»Werden Sie sich irgendwo heimlich trauen lassen?«

»Nein. Oliver wünscht eine echte Hochzeit. Wir heiraten in der Calvary Chapel.«

»und wann findet das Ereignis statt?«

»In sechs Wochen.«

Einige Tage später berichtete das State Journal auf der Titel-seite: »Die Frau, deren Leiche im Kentucky River gefunden und die inzwischen als die Anwaltssekretärin Lisa Burnette identifiziert wurde, ist laut Obduktionsbericht an einer Überdosis der gefährlichen, gesetzlich verbotenen Droge gestorben, die im Volksmund als flüssiges Ecstasy bekannt ist ...«

Flüssiges Ecstasy. Leslie erinnerte sich an den Abend mit Oliver und dachte: Welch ein Glück, daß er die Flasche weggeworfen hat.

Die nächsten Wochen waren mit hektischen Hochzeitsvorbereitungen erfüllt. Es gab unendlich viel zu erledigen: da mußten die Einladungen an zweihundert Personen verschickt werden. Leslie hatte ihre Brautjungfer zu wählen und das Brautjungfernkleid auszusuchen. Sie entschied sich für eines in Balleri-nenkleidlänge mit farblich abgestimmten Schuhen und Handschuhen, die bis an die Ellbogen reichten. Für sich selbst ging sie in der Fayette Mall an der Nicholasville Road einkaufen und wählte eine bis auf den Boden reichende Robe mit Rock und Schleppe, dazu passende Schuhe und ebenfalls lange Handschuhe.

Oliver orderte einen schwarzen Cut mit gestreifter Hose, grauer Weste, Hemd mit Eckenkragen und eine breite, gestreifte Ascot-Krawatte. Sein Trauzeuge war ein Anwaltskollege aus seiner Kanzlei.

»Es ist alles geregelt«, teilte Oliver Leslie mit. »Auch für den Empfang im Anschluß an die kirchliche Trauung. Und es haben fast alle Eingeladenen zugesagt.«

Leslie lief ein leiser Schauer über den Rücken. »Ich kann es gar nicht abwarten, Darling.«

Am Donnerstag vor der Hochzeit kam Oliver abends zu Les-lie in die Wohnung.

»Bitte entschuldige, Leslie, aber da ist leider ein unvorhergesehener Auftrag hereingekommen. Ein Klient hat Probleme. Ich werde nach Paris fliegen müssen, um die Sache für ihn zu erledigen.«

»Nach Paris? und wie lange wirst du fort bleiben?« »Die Angelegenheit dürfte eigentlich nicht länger als zwei bis drei, maximal vier Tage beanspruchen. Zu unserer Hochzeit bin ich wieder zurück.« »Dann sag dem Piloten, daß er gut fliegen soll.« »Versprochen.«

Als Oliver gegangen war, nahm Leslie die Zeitung vom Tisch und schlug ihr Horoskop von Zoltaire auf. Es lautete:

Löwe (23. juli - 22. august) für Planänderungen ist heute kein guter Tag. Das Eingehen von Risiken könnte ernsthafte Probleme verursachen.

Leslie wurde nervös. Sie studierte das Horoskop ein zweites Mal und war fast versucht, Oliver anzurufen und ihn aufzufordern, nicht abzureisen. Aber das wäre doch lächerlich, dachte sie. Wegen eines dummen Horoskops!

Am Montag hatte Leslie noch immer nichts von Oliver gehört. Sie rief in seiner Kanzlei an, aber dort wußte man auch nichts. Am Dienstag traf von ihm ebenfalls keine Nachricht ein. Leslie geriet langsam in Panik. Am Mittwoch wurde sie um vier Uhr früh durch das hartnäckige Läuten des Telefons geweckt. Sie setzte sich auf dem Bett auf und dachte: Das ist bestimmt Oliver! Gott sei Dank. Eigentlich müßte sie ihm böse sein, weil er nicht früher angerufen hatte; aber das war nun nicht mehr wichtig.

Sie nahm den Hörer ab. »Oliver ...« Eine fremde Männerstimme sagte:

»Al Towers von der Nachrichtenagentur Associated Press. Wir haben da eine Story, die gleich an die Medien herausgehen soll, Miss Stewart, und hätten gern gewußt, was Sie dazu sagen.«

Leslie erschrak. Es mußte etwas Furchtbares geschehen sein.

Oliver war tot.

»Miss Stewart?«

»Ja.« Sie stieß es mit einem erstickten Flüstern hervor.

»Könnten wir von Ihnen eine Stellungnahme zu dem Ereignis haben?«

»Eine Stellungnahme?«

»Ihren persönlichen Kommentar zu der Tatsache, daß Oliver Russell in Paris die Tochter von Senator Todd Davis geheiratet hat.«

Im ersten Moment schien sich das Zimmer vor ihren Augen zu drehen.

»Sie sind doch mit Mr. Russell verlobt gewesen, nicht wahr? Könnten wir da nicht von Ihnen einen Kommentar .«

Sie saß da, als ob sie erfroren wäre.

»Miss Stewart.«

Sie fand ihre Stimme wieder. »Ja. Ich - ich - kann den beiden nur alles Gute wünschen.« Wie betäubt legte sie auf. Das konnte doch wohl nur ein Alptraum gewesen sein. Nur ein paar Minuten, dann würde sie aufwachen und feststellen, daß sie geträumt hatte.

Es war aber kein Traum. Sie war wieder einmal verlassen, sitzengelassen worden. »Dein Vater kommt nie mehr zurück.« Sie schritt ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Das Gesicht war bleich. »Wir haben da eine Story, die gleich an die Medien herausgehen soll.« Oliver hatte eine andere geheiratet. Aber warum? Was habe ich denn falsch gemacht? Habe ich ihn je im Stich gelassen, enttäuscht, verraten? Im tiefsten Innern war ihr jedoch völlig klar, daß es Oliver war, der sie im Stich gelassen und verraten hatte. Er war fort. Wie sah ihre Zukunft aus?

Die Kollegen gaben sich alle Mühe, Leslie nicht anzustarren, als sie an diesem Morgen in der Agentur eintraf. Jim Bailey sagte nach einem kurzen, forschend-prüfenden Blick auf ihr blasses Gesicht: »Sie hätten heute nicht zur Arbeit kommen

sollen, Leslie. Warum gehen Sie nicht einfach heim und .«

Sie holte tief Luft. »Nein, danke. Ich komm schon durch.«

Rundfunk- und Fernsehnachrichten sowie die Abendzeitungen brachten ausführliche Berichte über die Pariser Hochzeit; denn Senator Todd Davis war ohne Zweifel der einflußreichste Bürger des Staates Kentucky; und daß seine Tochter geheiratet und ihr Bräutigam ihretwegen seine Verlobte Leslie Stewart sitzengelassen hatte, war eine Sensation.

In Leslies Büro hörten die Telefone nicht mehr auf zu klingeln.

»Hier spricht der Courier-Journal. Miss Stewart, könnten Sie bitte eine Stellungnahme zu der Hochzeit abgeben?«

»Ja. Mir liegt einzig und allein das Glück Oliver Russells am Herzen.«

»Aber es war doch beschlossene Sache, daß Sie und er .«

»Es wäre falsch gewesen, wenn wir geheiratet hätten. Senator Davis' Tochter war vor mir in sein Leben getreten. Ich wünsche den beiden alles Gute.«

»Hier spricht das State Journal

So ging das ununterbrochen weiter.

Leslie gewann den Eindruck, daß halb Lexington sie bemitleidete und die andere Hälfte der Bevölkerung ihr Mißgeschick mit Schadenfreude registrierte. Wo immer sie auftauchte, bemerkte sie Getuschel und ein hastiges Abbrechen der Gespräche. Sie war wild entschlossen, sich nicht anmerken zu lassen, was sie empfand.

»Wie können Sie es ihm einfach durchgehen lassen, Ihnen so etwas anzu...?«

»Wenn man einen Menschen wahrhaft liebt«, widersprach Leslie mit fester Stimme, »hegt man nur den Wunsch, daß er glücklich wird. Ich habe nie einen feineren Menschen als Oliver Russell kennengelernt. Ich wünsche den beiden Glück in ihrem gemeinsamen Leben.«

Allen Gästen, die zu ihrer eigenen Hochzeit mit Oliver Rus-sell eingeladen worden waren, schrieb sie ein Entschuldi-gungskärtchen, die bereits eingegangenen Geschenke schickte sie zurück.

Den Anruf Olivers hatte Leslie teils erhofft, teils befürchtet. Als der Anruf dann schließlich kam, erwischte er sie trotzdem gänzlich unvorbereitet. Der vertraute Klang seiner Stimme warf sie um.

»Leslie ... Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Es stimmt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Dann gibt es nichts zu sagen.«

»Ich habe nur den Wunsch gespürt, dir zu erklären, wie es dazu gekommen ist. Jan und ich waren so gut wie verlobt, als ich dich kennenlernte. Und als ich ihr dann zufällig wiederbegegnet bin, da - da wurde mir - klar, daß ich sie noch immer liebte.«

»Ich verstehe, Oliver. Adieu.«

Fünf Minuten später meldete sich Leslies Sekretärin auf der internen Sprechanlage. »Ein Anruf für Sie auf Leitung eins, Miss Stewart.«

»Ich habe nicht den Wunsch, mit .«

»Es ist Senator Davis.«

Der Vater der Braut. Was will denn der von mir? fragte sich Leslie. Sie nahm den Hörer ab.

»Miss Stewart?« sagte eine tiefe Südstaatenstimme.

»Am Apparat.«

»Hier spricht Todd Davis. Ich finde, daß wir beide uns einmal unterhalten sollten.«

Sie zögerte. »Senator, ich wüßte nicht, was wir zu be-«

»Ich hole Sie in einer Stunde ab.« Und schon war die Leitung tot.

Pünktlich auf die Minute hielt eine Limousine vor dem Bürogebäude. Der Chauffeur hielt Leslie die Tür auf. Im Fond saß Senator Davis - ein vornehm wirkender Herr mit weißem,

wallendem Haar, dünnem, gepflegtem Schnurrbart und Patriarchengesicht. Er trug sogar jetzt im Herbst einen weißen Anzug und einen breitkrempigen weißen Livorno-Hut. Er wirkte wie eine Erscheinung aus einem früheren Jahrhundert. Ein altmodischer Südstaatengentleman.

»Sie sind wirklich eine schöne junge Frau«, sagte Senator Davis, als Leslie neben ihm Platz nahm.

»Danke für das Kompliment«, erwiderte sie steif.

Der Wagen setzte sich in Bewegung.

»Ich meinte damit keineswegs nur Ihr Äußeres, Miss Stewart. Ich habe gehört, wie Sie mit der ekligen Geschichte umgegangen sind, die für Sie doch bedauernswert ist. Ich selbst habe es zuerst gar nicht glauben wollen, als ich die Neuigkeit erfuhr.« In seiner Stimme klang Zorn durch. »Was ist nur aus der guten alten menschlichen Anständigkeit geworden? Um die Wahrheit zu sagen: mich persönlich widert die schäbige Art und Weise an, wie Oliver Sie behandelt hat. Und auf Jan bin ich deshalb wütend, weil sie ihn geheiratet hat. Ich habe Ihnen gegenüber irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil sie ja immerhin meine Tochter ist. Die beiden haben einander wirklich verdient.« Ihm versagte vor Erregung die Stimme.

Eine Weile fuhren sie schweigend dahin. Als Leslie dann schließlich das Wort ergriff, sagte sie: »Ich kenne Oliver. Ich bin überzeugt, daß er mir nicht weh tun wollte. Was geschehen ist . nun, es ist eben einfach geschehen. Ich wünsche ihm nur das Beste. Er hat es verdient, und ich würde nichts unternehmen, um ihm Steine in den Weg zu legen.«

»Das ist äußerst liebenswürdig von Ihnen.« Er musterte sie einen Augenblick lang mit forschendem Blick. »Sie sind wirklich eine bemerkenswerte junge Dame.«

Der Wagen hielt an. Leslie schaute zum Fenster hinaus. Sie hatten Paris Pike im Kentucky Horse Center erreicht. In Le-xington und Umgebung gab es über hundert Gestüte, und Senator Davis war Eigentümer des größten: weiße Bretterzäu-ne, weiße Koppeln mit roten Sattelplätzen und sanftes Kentu-cky-Wiesenrippengras, soweit das Auge reichte.

Leslie und Senator Davis stiegen aus dem Wagen, traten an den Zaun, der die Rennbahn einfaßte, und blieben eine Weile in stummer Bewunderung für die herrlichen, dort trainierenden Tiere stehen.

»Ich bin ein einfacher Mann«, sagte Senator Davis ruhig, als er sich Leslie zuwandte. »Es mag seltsam klingen, doch es ist die Wahrheit. Ich wurde hier geboren und wäre glücklich, den Rest meines Lebens hier zu verbringen. Es ist ein einmalig schöner Ort. Schauen Sie sich um, Miss Stewart, es ist der Himmel auf Erden. Können Sie mir einen Vorwurf daraus machen, daß ich all das nicht aufgeben möchte? Mark Twain hat einmal bemerkt: Wenn die Welt unterginge, dann wünsche er sich, in Kentucky zu sein, weil Kentucky immer gut zwanzig Jahre hinterherhinkt. Ich muß mein Leben leider zur Hälfte in Washington verbringen, und ich hasse Washington.«

»Warum bleiben Sie dann dort?«

»Aus Pflichtgefühl. Unser Volk hat mich in den Senat gewählt, und ich werde mich bemühen, dort mein Bestes zu geben, bis ich abgewählt werde.« Er wechselte abrupt das Thema. »Ich möchte Ihnen für Ihre Einstellung und für Ihr Verhalten meine Bewunderung aussprechen. Wenn Sie in der bewußten Angelegenheit böse reagiert hätten, wäre vermutlich ein ziemlicher Skandal daraus geworden. Aber so - nun ja, zum Zeichen meiner Dankbarkeit möchte ich mich Ihnen gegenüber gern erkenntlich zeigen.«

Leslie hielt seinem Blick stand.

»Ich dachte, Sie würden vielleicht gerne eine Zeitlang von hier verschwinden, eine kleine Auslandsreise machen, einfach ein bißchen unterwegs sein. Selbstverständlich würde ich die .«

»Davon nehmen Sie bitte Abstand.«

»Ich wollte nur .«

»Ich weiß. Ich kenne Ihre Tochter nicht, Senator Davis. Ihre Tochter muß aber eine außergewöhnliche Frau sein, wenn Oliver sie liebt. Ich kann nur hoffen, daß die beiden miteinander glücklich werden.«

Er wurde plötzlich sehr verlegen. »Ich denke, Sie sollten erfahren, daß die beiden nach ihrer Rückkehr aus Paris hier noch einmal Hochzeit feiern werden. In Paris hat die standesamtliche Trauung stattgefunden. Jan wünscht sich aber eine kirchliche Trauung in Lexington.«

Es war ein Dolchstoß mitten ins Herz. »Verstehe. In Ordnung. Meinetwegen müssen Sie sich keine Sorgen machen.«

Die Trauung fand zwei Wochen später in der Calvary Chapel statt, in der gleichen Kirche, wo ursprünglich Leslie und Oliver hatten heiraten wollen. Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt.

Vor dem Geistlichen am Altar standen Oliver Russell, Jan Todd - eine attraktive Brünette von überwältigender Größe und aristokratischem Gebaren - und Davis Todd.

Die Trauzeremonie näherte sich ihrem Ende. »Gott hat es so gewollt, daß Mann und Frau in den heiligen Stand der Ehe treten und gemeinsam durchs Leben gehen .«

Die Kirchentür öffnete sich. Leslie Stewart trat ein, horchte kurz und ging dann zur hintersten Kirchenbank hinüber, wo sie hochaufgerichtet stehen blieb.

». und so jemand einen Grund weiß, warum dieses Paar nicht in den heiligen Stand der Ehe treten sollte«, sprach der Pfarrer, »so möge er jetzt vortreten oder für immer .« Und als er den Kopf hob, fiel sein Blick auf Leslie. ». für immer schweigen.«

Fast automatisch drehten sich einige Leute nach Leslie um. Ein Flüstern ging durch die Gemeinde. Die Leute ahnten, daß eine dramatische Szene bevorstand, und in der Kirche herrschte plötzlich eine gespannte Stille.

Nichts geschah.

Der Pfarrer wartete einen Augenblick, bevor er nach einem nervösen Räuspern fortfuhr: »Und kraft des mir verliehenen Amtes erkläre ich Sie hiermit zu Mann und Frau.« In seiner Stimme schwang tiefe Erleichterung mit. »Sie dürfen die Braut küssen.«

Als der Priester erneut aufblickte, war Leslie verschwunden.

Der letzte Eintrag in Leslie Stewarts Tagebuch lautete: Liebes Tagebuch: Es war eine schöne Trauung. Olivers Braut ist sehr hübsch. Sie trug ein herrliches Hochzeitskleid aus Spitzen und Satin, dazu ein Top mit Nackenträger und einen Bolero. Oliver sah schöner aus denn je. Er machte einen sehr glücklichen Eindruck. Und das freut mich.

Denn ich werde dafür sorgen, daß er wünscht, er wäre nie geboren worden, bevor ich mit ihm fertig bin.

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