12

Es war sechs Monate her, daß Danas Landrover in die Luft gesprengt worden war. Sie selbst war glimpflich davongekommen mit einer Gehirnerschütterung, einer angebrochenen Rippe, einem zerschnittenen Handgelenk und schmerzhaften Prellungen. Abends hatte Matt Baker angerufen und sie angewiesen, nach Washington zurückzukehren; Dana war jedoch nach diesem Ereignis nur noch gefestigter in ihrem Entschluß, in Bosnien-Herzegowina zu bleiben.

»Die Menschen hier sind verzweifelt«, erklärte sie. »Da kann ich mich doch nicht einfach aus dem Staub machen. Wenn Sie mir die Rückkehr nach Washington befehlen, werde ich kündigen.«

»Wollen Sie mich vielleicht erpressen?«

»Ja.«

»Das hab ich mir doch gedacht!« schimpfte er. »Ich lasse mich aber nicht erpressen. Von niemand. Verstehen sie mich?«

Dana schwieg und wartete.

»Und was würden Sie von einer Beurlaubung halten?« wollte er wissen.

»Ich brauche keine Beurlaubung.«

Sie konnte sein Seufzen in der Leitung hören.

»Also gut. Dann bleiben Sie eben dort. Nur eines, Dana ...«

»Ja?«

»Versprechen Sie mir, vorsichtig zu sein.«

Dana hörte vor dem Hotel draußen die Salven eines Maschinengewehrs. »In Ordnung.«

Die Stadt hatte die ganze Nacht über unter starkem Beschuß gelegen, so daß Dana nicht schlafen konnte. Jede Explosion einer Granate bedeutete die Zerstörung eines Gebäudes oder einer Familie.

Dana war sofort am frühen Morgen mit ihrer Crew hinausgegangen, um zu drehen. Benn Albertson wartete, bis der Donner eines Granatwerfers verhallte, dann nickte er Dana zu. »In zehn Sekunden.«

»Ich bin bereit«, sagte Dana.

Benn gab ein Zeichen mit dem Finger. Dana wandte ihren Blick von den hinter ihr liegenden Ruinen ab und schaute in die Fernsehkamera.

»Diese Stadt verschwindet langsam vom Erdboden. Ohne Elektrizität sind ihre Augen erloschen . Und weil ihre Fernseh- und Rundfunkstationen geschlossen sind, ist sie auch ohne Ohren ... Sämtliche öffentliche Verkehrsmittel sind zum Erliegen gekommen, und das bedeutet: Sie hat ihre Beine verloren .«

Die Kamera schwenkte über einen leeren, ausgebombten Spielplatz, wo noch Rostskelette von Schaukeln und Rutschbahnen zu sehen waren.

»In einem anderen Leben haben hier Kinder gespielt, die Luft war erfüllt von ihrem Lachen.«

In der näheren Umgebung war erneut Geschützfeuer zu hören, und plötzlich ertönten Sirenen. Die Menschen, die hinter Dana über die Straße gingen, setzten ihren Weg fort, als ob sie nichts gehört hätten.

»Das Geräusch, das Sie jetzt vernehmen, ist ein neuerlicher Fliegeralarm, ein Signal, daß die Menschen laufen und Schutz suchen müssen. Die Bewohner Sarajevos wissen aber, daß es hier keinen Platz gibt, wo sie Schutz finden könnten, und so gehen sie einfach schweigend weiter. Wer die Möglichkeit hat, verläßt das Land, obwohl das bedeutet, die Wohnung und den ganzen Besitz aufzugeben. Von den Menschen, die hierbleiben, sterben leider nur zu viele. Es ist eine grausame Alternative. Es gibt Gerüchte über einen bevorstehenden Frieden - es gibt zu viele Gerüchte, zu wenig Frieden. Wird der Friede kommen? Und wann? Werden die Kinder eines Tages aus den Kellern herauskommen und diesen Spielplatz wieder benützen können? Keiner weiß es. Alle können nur hoffen. Dies ist Dana Evans mit einem Bericht aus Sarajevo für WTE.«

Die rote Kontrollampe auf der Kamera erlosch. »Lassen Sie uns schnell von hier verschwinden«, sagte Benn.

Der neue Kameramann Andy Casarez begann, in Windeseile seine Geräte einzupacken.

Auf dem Bürgersteig stand ein kleiner Junge und schaute Dana an - ein Straßenkind in schmutziger, zerlumpter Kleidung und mit kaputten Schuhen. In dem verdreckten Gesicht leuchteten ernste braune Augen. Er hatte keinen rechten Arm mehr.

Dana sah, wie der Junge sie beobachtete. Sie lächelte ihm zu. »Hallo.«

Er gab keine Antwort. Dana zuckte die Schultern und drehte sich um zu Benn.

»Gehen wir.«

Wenige Minuten später waren sie unterwegs zum Holiday Inn.

Das Hotel Holiday Inn war mit Zeitungs-, Rundfunk- und Fernsehberichterstattern belegt, die eine merkwürdige Art von Familiengemeinschaft bildeten. Im Grunde waren sie Konkurrenten und Rivalen; doch wegen der lebensgefährlichen Umstände, in denen sie hier zu arbeiten hatten, waren sie stets bereit, einander zu helfen und aktuelle Nachrichten auszutauschen.

In Montenegro hat es einen Aufstand gegeben .

Vukovar ist bombardiert worden .

In Petrovo Selo wurde ein Krankenhaus beschossen ...

John Paul Hubert war nicht mehr da. Er hatte eine andere Aufgabe bekommen. Dana vermißte ihn sehr.

Eines Morgens stand der kleine Junge, den Dana während der Dreharbeiten auf der Straße bemerkt hatte, in der Zufahrt des Hinterausgangs, als sie das Hotel verließ.

Jovan öffnete Dana die Tür des neuen Landrover. »Guten Morgen, Madam.«

»Guten Morgen.« Der Junge starrte Dana unentwegt an. Sie ging zu ihm hinüber. »Guten Morgen.«

Keine Antwort. »Wie sagt man >guten Morgen< auf slowenisch?« wollte Dana von Jovan wissen.

Es war der kleine Junge, der antwortete: »Dobro jutro.«

Dana drehte sich ihm überrascht zu. »Du verstehst Englisch?«

»Kann sein.«

»Wie heißt du.«

»Kemal.«

»Wie alt bist du, Kemal?«

Er drehte sich um und ging davon.

»Er fürchtet sich vor Fremden«, sagte Jovan.

Dana sah dem Jungen nach. »Das kann ich verstehen. Mir geht's nicht anders.«

Als der Landrover vier Stunden später in die hintere Zufahrt des Holiday Inn zurückkam, sah Dana Kemal in der Nähe des Eingangs warten.

»Zwölf«, sagte er, als sie aus dem Wagen stieg.

»Wie bitte?« Aber dann erinnerte sie sich. »Ach so.« Er war klein für sein Alter. Sie blickte auf seinen leeren rechten Hemdsärmel und wollte ihm schon eine Frage stellen, überlegte es sich dann jedoch anders. »Wo wohnst du, Kemal? Können wir dich nach Hause fahren?« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging weg.

»Er hat keine Manieren«, bemerkte Jovan.

»Vielleicht hat er sie verloren, als er den Arm verlor«, meinte Dana leise.

Am Abend dieses Tages unterhielten sich die Auslandskorrespondenten im Speisesaal des Hotels über die neuen Friedensgerüchte. »Die UNO hat sich endlich eingeschaltet«, erklärte Gabriella Orsi.

»Höchste Zeit.«

»Wenn Sie mich fragen, ist es dafür schon zu spät.«

»Es ist nie zu spät«, widersprach Dana ruhig.

Am nächsten Morgen kamen zwei Meldungen herein. Die erste Nachricht betraf ein Friedensabkommen, das von den Vereinigten Staaten und den Vereinten Nationen vermittelt worden war. Die zweite Nachricht lautete, daß die Zeitung von Sarajevo, Oslobodjenje, nicht mehr existierte - das Redaktionsgebäude war total zerbombt worden.

»Über das Friedensabkommen werden unsere Kollegen in Washington berichten«, sagte Dana zu Benn. »Kommen Sie -wir liefern einen Bericht über Oslobodjenje.«

Dana stand vor dem zerstörten Gebäude, das zuvor der Sitz von Oslobodjenje gewesen war. Die rote Kontrollampe der Kamera leuchtete auf.

»Hier sterben täglich Menschen«, sagte Dana mit Blick ins Objektiv, »und werden täglich Gebäude vernichtet. Doch in diesem Fall hier, bei diesem Gebäude, handelt es sich um Mord. Es beherbergte Oslobodjenje, die einzige unabhängige Zeitung Sarajevos. Es war eine Zeitung, die den Mut besaß, die Wahrheit zu sagen. Als sie aus ihren Büroräumen gebombt wurde, ist sie in die Kellerräume gezogen, um weiterarbeiten zu können. Als es keine Zeitungskioske mehr gab, wo Zeitungen hätten verkauft werden können, sind die Redakteure auf die Straßen gegangen, um ihre Zeitung selbst an den Mann zu bringen. Sie haben etwas verkauft, was mehr war als eine Zeitung. Sie haben den Menschen Freiheit verkauft. Mit dem Tod von Oslobodjenje ist hier ein weiteres Stück Freiheit gestorben.«

Matt Baker sah die Nachrichtensendung in seinem Büro. »Verdammt, sie ist wirklich gut!« Er wandte sich an seinen Assistenten. »Sie muß einen eigenen Satellitenwagen haben. Sorgen Sie dafür.«

»Jawohl, Sir.«

Als Dana auf ihr Zimmer zurückkehrte, wurde sie dort erwartet. Oberst Gordan Divjak lümmelte in einem Sessel.

Sie blieb unangenehm überrascht stehen. »Man hat mir nicht mitgeteilt, daß ich Besuch habe.«

»Es handelt sich nicht um einen Privatbesuch.« Er fixierte sie mit seinen kleinen schwarzen Augen. »Ich habe Ihre Sendung über Oslobodjenje gesehen.«

Dana musterte ihn mißtrauisch. »Ach ja?«

»Sie hatten die Einreiseerlaubnis bekommen, um über unser Land zu berichten, nicht aber, um moralische Werturteile zu fällen.«

»Ich habe aber keine .«

»Unterbrechen Sie mich nicht. Ihre Vorstellung von Freiheit muß nicht unbedingt unserer Vorstellung von Freiheit entsprechen. Verstehen Sie mich?«

»Nein. Ich fürchte, ich .«

»Dann gestatten Sie, daß ich es Ihnen erkläre, Miss Evans. Sie sind Gast in meinem Land. Vielleicht arbeiten Sie aber als Spionin Ihrer Regierung.«

»Ich bin keine Spi-«

»Sie sollen mich nicht unterbrechen. Ich habe Sie bei Ihrer Ankunft auf dem Flughafen gewarnt. Wir spielen hier keine Kinderspiele. Wir befinden uns hier mitten im Krieg. Jede Person, die in Spionagetätigkeit verwickelt ist, wird hingerichtet.« Seine Drohung hatte eine ganz besondere Wirkung, da sie ruhig und leise ausgesprochen wurde.

Er stand auf. »Ich warne Sie hiermit zum letzten Mal.«

Dana schaute ihm nach, als er das Zimmer verließ. Ich werde mich von ihm nicht einschüchtern lassen, ich lasse mir keine Angst einjagen, redete sie sich trotzig ein.

Aber sie hatte Angst.

Für Dana traf ein Carepaket ein, von Matt Baker: ein Karton mit Süßigkeiten, Granola-Riegeln, Dosennahrung und einem

Dutzend anderer, unverderblicher Waren. Dana trug ihn hinunter zur Hotellobby, um mit den Kolleginnen und Kollegen zu teilen. Sie waren entzückt.

»Also, das nenn ich mir einen Chef«, meinte Satomi Asaka.

»Wie kann ich eine Anstellung bei der Washington Tribune bekommen?« scherzte Juan Santos.

Kemal wartete wieder in der hinteren Zufahrt. Die ausgefranste dünne Jacke, die er trug, sah ganz so aus, als ob sie im nächsten Moment auseinanderfallen würde.

»Guten Morgen, Kemal.«

Er schaute sie durch halbgeschlossene Lider schweigend an.

»Ich gehe einkaufen. Kommst du mit?«

Keine Antwort.

»Dann wollen wir's mal mit der anderen Tour versuchen«, sagte sie verärgert und riß die hintere Tür des Wagens auf. »Rein mit dir ins Auto! Los!«

Einen Augenblick lang stand der Junge völlig regungslos da. Er wirkte verschreckt. Dann setzte er sich langsam in Bewegung.

Dana und Jovan schauten zu, wie er auf den Rücksitz kletterte.

»Könnten Sie für uns ein Kaufhaus oder ein Kleidergeschäft finden, das geöffnet hat?«

»Ich weiß eines.«

»Fahren wir hin.«

Während der ersten Fahrtminuten herrschte Schweigen im Wagen.

»Hast du eine Mutter oder einen Vater, Kemal?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wo wohnst du?«

Er zuckte die Achseln.

Dana spürte, wie er näher an sie heranrückte, so als ob er ihre Körperwärme in sich aufnehmen wollte.

Das Bekleidungshaus befand sich in der Bascarsija, dem alten Markt von Sarajevo. Die Fassade war durch Bomben zerstört, das Geschäft aber geöffnet. Dana nahm Kemal an der linken Hand und führte ihn hinein.

Ein Verkäufer trat auf sie zu. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich brauche eine Jacke für einen Freund.« Sie sah Kemal an. »Er hat etwa die Größe dieses Jungen.«

»Folgen Sie mir bitte.«

In der Abteilung für Knabenkleidung gab es einen ganzen Ständer mit Jacken. »Welche hättest du denn gern?« wollte Dana von Kemal wissen.

Kemal stand da und sagte kein Wort.

»Wir nehmen die braune«, sagte Dana zum Verkäufer und musterte Kemals Hose. »Und ich denke, daß wir auch noch eine Hose und ein Paar neue Schuhe brauchen.«

Als sie das Geschäft eine Stunde später verließen, war Kemal völlig neu eingekleidet. Er kroch wortlos auf den Rücksitz des Wagens.

»Kannst du nicht Dankeschön sagen?« fragte Jovan verärgert.

Kemal brach in Tränen aus. Dana nahm ihn in die Arme.

Was ist das für eine Welt, die Kinder auf solche Weise mißhandelt?

Nach der Ankunft im Hotel marschierte Kemal schweigend davon.

»Wo wohnen solche Jungen?« erkundigte Dana sich bei Jo-van.

»Auf der Straße, Madam. Waisenkinder wie ihn gibt's in Sarajevo zu Hunderten. Sie haben kein Zuhause, keine Verwandten ...«

»Und wie schaffen sie es, zu überleben?«

Er zuckte die Achseln. »Das weiß ich auch nicht.«

Die Gespräche am Mittagstisch drehten sich hauptsächlich

um das neue Friedensabkommen und die Frage, ob es halten würde. Dana beschloß, erneut Professor Mladic Staka aufzusuchen und ihn nach seiner Meinung zu befragen.

Er schien noch gebrechlicher als beim ersten Besuch.

»Ich freue mich, Sie zu sehen, Miss Evans. Wie ich höre, sind Ihre Sendungen wunderbar, nur -« Er zuckte die Schultern. »Ich habe zwar einen Fernseher, doch leider keinen Strom. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde gern Ihre Meinung über das neue Friedensabkommen erfahren, Professor.«

Er lehnte sich im Sessel zurück und sagte nachdenklich: »Ich finde es aufschlußreich, daß man sich im fernen Dayton, Ohio, zu einer Entscheidung über die Zukunft von Sarajevo zusammengefunden hat.«

»Man ist übereingekommen, daß die Präsidentschaft des Landes aus einer Troika - einem Muslim, einem Kroaten und einem Serben - bestehen soll. Halten Sie das für realistisch, Professor?«

»Nur, wenn man an Wunder glaubt.« Er runzelte die Stirn. »Da wird es achtzehn nationale gesetzgebende Organe und außerdem hundertneunzehn separate Ortsregierungen geben. Das Ganze ist ein politischer Turmbau zu Babel. Eine durch Waffendrohung erzwungene Ehe, um einen amerikanischen Ausdruck zu verwenden. Keine dieser Körperschaften und Regierungen ist bereit, die eigene Autonomie aufzugeben. Alle bestehen sie auf eigenen Flaggen, eigenen Kfz-Nummernschildern, einer eigenen Währung . « Er schüttelte ratlos den Kopf. »Das ist ein Morgenfriede. Hüte dich vor dem Abend.«

Inzwischen war Dana Evans viel mehr als eine gewöhnliche Auslandskorrespondentin; sie hatte sich zu einer internationalen Medienlegende entwickelt. Was in ihren Fernsehsendungen Ausdruck fand, war ein kluger, leidenschaftlich engagierter Mensch. Und weil Dana persönliche Anteilnahme zeigte, weckte sie auch bei ihren Zuschauern Anteilnahme; sie akzeptierten Danas Reaktionen und Empfindungen.

Matt Baker bekam Anrufe von anderen Nachrichtenprogrammen, die die Sendungen von Dana Evans übernehmen wollten, und er freute sich für sie. Sie war ausgezogen, um dort Gutes zu tun, dachte er, und nun tut es ihr am Ende sogar selbst gut.

Mit dem eigenen Sendewagen war Dana noch viel beschäftigter als zuvor. Sie war nicht länger auf Gedeih und Verderb der jugoslawischen Satellitengesellschaft ausgeliefert. Sie traf, zusammen mit Benn, die Entscheidungen, welche Ereignisse und Themen behandelt werden sollten; anschließend schrieb sie die Begleittexte und sendete sie. Manche Berichte wurden live gesendet, andere auf Band aufgenommen. Zum Drehen der benötigten Hintergrundszenen schwärmten Dana, Benn und Andy durch die Straßen der Stadt; die Kommentare sprach Dana hinterher in einem Schneideraum auf Band und schickte sie dann über die Leitung nach Washington.

Zur Mittagszeit wurden im Speisesaal des Hotels große Platten mit Sandwiches aufgetragen. Die Journalisten bedienten sich. Der BBC-Berichterstatter Roderick Munn kam mit einem Text der Nachrichtenagentur Associated Press in der Hand in den Raum.

»Alle mal herhören.« Er begann die AP-Meldung laut vorzulesen. »>Die WTE-Auslandskorrespondentin Dana Evans, deren Beiträge seit neuestem von einem Dutzend Nachrichtensender übernommen werden, ist soeben für den begehrten Peabody Award nominiert worden.. .<«

»Welch ein Glück für uns, mit einer so berühmten Kollegin zu verkehren!« bemerkte ein Korrespondent sarkastisch.

Und in eben diesem Moment betrat Dana den Speisesaal. »Hallo allerseits. Ich habe heute keine Zeit zum Mittagessen. Ich nehme ein paar Sandwiches für unterwegs mit.« Sie packte einige Brote in Papierservietten ein. »Bis später.« Die Blicke

der sprachlosen Kollegen folgten ihr, als sie den Raum verließ.

Draußen vor dem Hotel wartete Kemal.

»Guten Tag, Kemal.«

Keine Antwort.

»Steig ein.«

Kemal rutschte auf den Rücksitz. Dana gab ihm ein Sandwich und schaute ihm schweigend zu, als er es hinunterschlang. Sie gab ihm ein zweites Sandwich, über das er sich ebenfalls sofort hermachte.

»Langsam essen«, ermahnte ihn Dana.

»Wohin?« fragte Jovan.

Dana gab die Frage an Kemal weiter: »Wohin?« Kemal schaute sie nur verständnislos an. »Wir fahren dich nach Hause. Wo wohnst du?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich muß es wissen. Wo lebst du?«

Zwanzig Minuten später hielt der Wagen vor einem großen, leerstehenden Grundstück nicht weit vom Ufer der Miljacka entfernt, wo eine Menge großer Kartons verstreut lagen -neben Abfällen jeder Art, die das Grundstück bedeckten.

Dana stieg aus und wandte sich zu Kemal um. »Hier wohnst du?«

Er nickte widerstrebend.

»Und hier wohnen außer dir noch andere Jungen?«

Er nickte erneut.

»Ich möchte darüber eine Sendung im Fernsehen machen, Kemal.«

Wieder Kopfschütteln. »Nein.«

»Und warum nicht?«

»Weil sonst die Polizei kommt und uns mitnimmt. Tun Sie es bitte nicht.«

Dana musterte ihn kurz. »In Ordnung. Ich gebe dir mein Wort, daß ich keine Sendung über euch mache.«

Am folgenden Morgen zog Dana aus ihrem Zimmer im Holi-day Inn aus. Als sie nicht zum Frühstück erschien, erkundigte sich Gabriella Orsi vom italienischen Fernsehsender Altre Statione: »Wo ist Dana?«

»Sie ist fortgezogen«, erwiderte Roderick Munn. »Sie hat ein Bauernhaus gemietet. Weil sie für sich allein sein will, hat sie gesagt.«

»Wir würden alle gern für uns allein sein«, kommentierte Nikolai Petrowitsch, der Korrespondent des russischen Kanals Gorizont 22. »Soll das vielleicht heißen, daß wir ihr nicht mehr gut genug sind?«

Es machte sich eine allgemeine Mißbilligung breit.

Am folgenden Nachmittag traf schon wieder ein großes Ca-repaket für Dana im Hotel ein.

»Da sie nicht anwesend ist«, meinte Nikolai Petrowitsch, »sollten wir es uns schmecken lassen, oder?«

»Bedaure«, erklärte der Hotelangestellte, »aber das Paket für Miss Evans wird abgeholt.«

Wenige Minuten später kam Kemal ins Hotel, nahm das Paket an sich und verschwand. Die Reporter schauten ihm mit großen Augen nach.

»Sie will sogar nicht mehr mit uns teilen«, brummte Juan Santos. »Ich fürchte, die Berühmtheit ist ihr zu Kopf gestiegen.«

Während der folgenden Woche sendete Dana ihre Berichte, ohne wieder im Hotel zu erscheinen, und unter den Kollegen wuchsen die Ressentiments gegen sie.

Dana wurde zum Hauptgesprächsthema der Runde. Als ein paar Tage später wiederum ein Carepaket - ein riesiges Paket diesmal - im Hotel eintraf, ging Nikolai Petrowitsch, der den Eingang beobachtet hatte, zur Rezeption und erkundigte sich: »Läßt Miss Evans das Paket abholen?«

»Jawohl, Sir.«

Der Russe eilte in den Speisesaal. »Für Dana ist ein weiteres

Paket angekommen«, rief er, »und es wird wieder abgeholt. Warum fahren wir nicht hinter dem Boten her, um Miss Evans unsere Meinung über Auslandskorrespondenten ins Gesicht zu sagen, die sich für besser als die Kollegen halten?«

Allgemeine Zustimmung.

Als Kemal erschien, um das Paket abzuholen, wollte Nikolai von ihm wissen: »Bringst du das zu Miss Evans?«

Kemal nickte.

»Sie hat darum gebeten, daß wir zu ihr kommen und mit ihr sprechen. Wir begleiten dich.«

Kemal musterte ihn kurz und zuckte dann die Achseln.

»Wir nehmen dich in einem von unseren Autos mit«, erklärte Nikolai Petrowitsch. »Du zeigst uns den Weg.«

Zehn Minuten später fuhr eine Autokarawane durch menschenleere Nebenstraßen. Am Stadtrand zeigte Kemal mit dem Finger auf ein altes, ausgebombtes Bauernhaus. Die Wagen hielten an.

»Geh voraus und bring ihr das Paket«, befahl Nikolai. »Wir wollen Dana überraschen.«

Sie schauten Kemal nach, bis er im Bauernhaus verschwand, warteten einen Augenblick, schlichen zum Eingang, stürmten durch die Tür - und blieben wie angewurzelt stehen. In dem Raum saßen Kinder aller Altersgruppen, Größen und Hautfarben. Die meisten waren Krüppel. An den Wänden reihte sich ein Dutzend Feldbetten. Als die Tür aufgestoßen wurde, war Dana gerade damit beschäftigt, den Inhalt des Carepakets an die Kinder zu verteilen. Sie hob erstaunt den Kopf, als die Gruppe hereinstürmte.

»Was . was haben Sie hier zu suchen?«

Roderick Munn schaute sich betreten um. »Ich bitte um Entschuldigung, Dana. Wir haben einen ... wir haben einen Fehler gemacht. Wir dachten .«

Dana wandte sich den Männern zu. »Ich verstehe. Die Kinder, die Sie hier vor sich sehen, sind Waisenkinder. Sie haben kein Zuhause und niemanden, der für sie sorgt. Die meisten von ihnen befanden sich in einem Krankenhaus, als es bombardiert wurde. Wenn die Polizei die Kinder findet, werden sie in sogenannte Waisenhäuser gesteckt - und sterben. Wenn sie hier bleiben, werden sie ebenfalls sterben. Ich habe verzweifelt darüber nachgedacht, ob es eine Möglichkeit gibt, sie außer Landes zu schaffen. Bisher hat sich jedoch leider noch kein Weg gefunden.« Sie schaute die Gruppe ihrer Kollegen flehentlich an. »Haben Sie vielleicht irgendeine Idee, was sich da machen ließe?«

»Ich glaube«, erwiderte Roderick Munn langsam, »daß ich einen Weg wüßte. In dieser Nacht fliegt eine Maschine des Roten Kreuzes nach Paris ab. Der Pilot ist ein Freund von mir.«

»Würden Sie mit ihm reden?« fragte Dana hoffnungsvoll.

Munn nickte. »Ja.«

»Moment mal!« rief Nikolai Petrowitsch. »Wir können uns unmöglich in solche Geschichten hineinziehen lassen. Man wird uns alle miteinander des Landes verweisen.«

»Sie müssen ja nicht mitmachen«, beruhigte ihn Munn. »Wir machen das schon.«

»Ich bin dagegen«, sagte Nikolai dickköpfig. »Die Sache wird uns alle in Gefahr bringen.«

»Und die Kinder?« fragte Dana. »Für sie geht es hier schließlich um Leben oder Tod.«

Am späten Nachmittag kam Roderick Munn zu Dana herausgefahren. »Ich habe mit meinem Freund gesprochen. Er hat mir erklärt, daß er gern bereit ist, die Kinder nach Paris zu bringen, damit sie in Sicherheit sind. Er hat daheim selber zwei Buben.«

Dana jubelte. »Das ist ja wunderbar. Ich danke Ihnen von Herzen.«

Munn schaute ihr in die Augen. »Es ist umgekehrt: Wir haben Ihnen zu danken.«

Um acht Uhr abends fuhr ein Lieferwagen mit den Insignien des Roten Kreuzes vor dem Bauernhof vor. Auf ein Blinkzeichen mit den Scheinwerfern eilte Dana mit den Kindern im Schutz der Dunkelheit in den Lieferwagen.

Eine Viertelstunde später rollte er dem Flughafen Butmir entgegen, der vorübergehend geschlossen worden war - außer für Maschinen des Roten Kreuzes, die Vorräte brachten und Schwerverletzte ausflogen. Dana schien es die längste Fahrt ihres Lebens zu sein. Als sie die Flughafenlichter vor sich sah, sagte sie den Kindern: »Jetzt sind wir fast angekommen.« Kemal drückte ihre Hand.

»Es wird dir gutgehen«, versicherte ihm Dana. »Man wird für euch alle sorgen«, und dachte im stillen: Ich werde euch vermissen.

Im Flughafen winkte ein Wachtposten den Lieferwagen durch, der dann zu einem Frachtflugzeug mit dem Emblem des Roten Kreuzes auf dem Rumpf weiterfuhr. Der Pilot wartete draußen neben der Maschine.

Er kam Dana entgegengelaufen. »Um Gottes willen, Sie haben sich verspätet. Bringen Sie die Kinder an Bord, aber schnell. Wir hätten bereits vor zwanzig Minuten starten müssen.«

Dana trieb die Kinder die Gangway hoch und ins Flugzeug hinein. Kemal kam ganz zuletzt.

Er drehte sich zu Dana um; ihm zitterten die Lippen. »Werde ich Sie wiedersehen?«

»Darauf kannst du wetten«, versprach Dana. Sie nahm ihn in den Arm und drückte ihn ganz fest an sich, während sie ein stilles Gebet sprach. »Und jetzt steig ein.«

Wenige Augenblicke später wurde die Tür verschlossen. Die Motoren heulten auf, und das Flugzeug begann über die Piste zu rollen.

Dana und Munn starrten der Maschine hinterher, bis sie sich am Ende der Laufbahn in die Luft erhob, in den östlichen

Himmel aufstieg und dann in nördlicher Richtung nach Paris abdrehte.

»Was Sie da getan haben, verdient Bewunderung«, sagte der Fahrer des Roten Kreuzes leise. »Ich darf Ihnen versichern .«

In dem Moment kam hinter ihnen ein Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen. Als der Fahrer, Munn und Dana sich umdrehten, sahen sie Oberst Gordan Divjak aus dem Wagen springen. Er sah zum Himmel, wo das Flugzeug gerade den Blicken entschwand. An der Seite des serbischen Oberst stand der russische Journalist Nikolai Petrowitsch.

Oberst Divjak trat auf Dana zu. »Sie sind verhaftet. Ich hatte Sie gewarnt: Auf Spionage steht bei uns die Todesstrafe.«

»Oberst«, sagte Dana, nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, »falls Sie mir einen Prozeß wegen Spionage machen .«

Er sah Dana fest in die Augen und sagte leise: »Wer hat denn von einem Prozeß gesprochen?«

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