Von den Phantomschmerzen der Kuckucksuhr

Überm Blecheimer mit dem Trinkwasser, gleich neben der Tür, hing eines Abends im Sommer im zweiten Jahr eine Kuckucksuhr an der Wand. Es war nicht herauszukriegen, wie sie hierherkam. So gehörte sie der Baracke und dem Nagel, an dem sie hing, sonst niemandem. Doch sie belästigte uns alle zusammen und jeden einzeln. Im leeren Nachmittag horchte das Ticken, ob man kam, ging, in seinem Bett schlief. Oder nur dalag, in sich selbst gekehrt oder abwartend, weil man zu hungrig zum Einschlafen und zum Aufstehen zu matt war. Aber nach dem Abwarten kam nichts, außer dem Ticken im Gaumenzäpfchen verdoppelt vom Ticken der Uhr.

Wozu brauchten wir hier eine Kuckucksuhr. Um die Zeit zu messen, brauchten wir keine. Wir hatten nichts zu messen, aus dem Hoflautsprecher weckte uns die Hymne morgens. Und abends schickte sie uns ins Bett. Wann immer man uns brauchte, holte man uns, aus dem Hof, aus der Kantine, aus dem Schlaf. Auch die Sirenen der Fabrik waren eine Uhr, auch die weiße Kühlturmwolke und die Glöckchen der Koksbatterien.

Vermutlich hatte der Trommler, der Kowatsch Anton, die Kuckucksuhr angeschleppt. Obwohl er schwor, dass er nichts mit ihr zu tun hat, zog er sie jeden Tag auf. Wenn sie da hängt, soll sie auch gehen, sagte er.

Es war eine ganz normale Kuckucksuhr, aber der Kuckuck war nicht normal. Er kam um Dreiviertel heraus und rief die halbe Stunde, um Viertel die volle Stunde. Um Punkt vergaß er alles oder rief die falschen Stunden, verdoppelte die Uhrzeit oder halbierte sie. Der Kowatsch Anton behauptete, der Kuckuck rufe, bezogen auf die Uhrzeit aus anderen Weltgegenden, richtig. Der Kowatsch Anton war in die ganze Uhr vernarrt, in den Kuckuck, ihre zwei schweren Gewichte aus eisernen Tannenzapfen und in das flinke Pendel. Er hätte den Kuckuck am liebsten die ganze Nacht seine anderen Weltgegenden verkünden lassen. Aber alle anderen in der Baracke wollten weder in den Weltgegenden des Kuckucks wachliegen noch schlafen.

Der Kowatsch Anton war Dreher in der Fabrik, und im Lagerorchester war er Schlagzeuger und Trommler der plissiert getanzten Paloma. Seine Instrumente hatte er sich an der Drehbank in der Schlosserei gemacht, er war ein Tüftler. Er wollte den weltgewandten Kuckuck auf russische Tages- und Nachtdisziplin regulieren. Durch eine Verengung der Stimmritze im Kuckucksmechanismus wollte er dem Kuckuck eine kurze dumpfe, um eine Oktave tiefere Nachtstimme einbauen sowie einen längeren hellen Tagesgesang. Aber bevor er die Gewohnheiten des Kuckucks in den Griff bekam, hatte jemand den Kuckuck aus der Uhr gerissen. Das Türchen des Kuckucks hing schief im Scharnier. Und wenn das Uhrwerk den Vogel zum Singen animieren wollte, ging das Türchen zwar halbwegs auf, aber es trat statt des Kuckucks ein Stückchen Gummi wie ein Regenwurm aus dem Gehäuse. Das Gummistück vibrierte, und es war ein klägliches Scheppern zu hören, das sich dem Husten, Räuspern, Schnarchen, Furzen, Seufzen im Schlaf anglich. So hat der Gummiwurm unsere Nachtruhe beschützt.

Der Kowatsch Anton war von dem Regenwurm genauso begeistert wie vom Kuckuck. Er war nicht nur ein Tüftler, er litt auch darunter, dass er im Lagerorchester keinen Swingpartner hatte, wie früher in Karansebesch, in seiner Big Band. Abends, wenn die Lautsprecherhymne uns in die Baracke trieb, stellte der Kowatsch Anton das Gummistückchen mit einem gebogenen Draht aufs Nachtscheppern um. Jedesmal blieb er noch eine Weile bei der Uhr, schaute sein Gesicht im Wassereimer an und wartete wie ein Hypnotisierter aufs erste Scheppern. Wenn das Türchen aufging, machte er sich ein bisschen bucklig, und sein linkes Auge, das etwas kleiner als das rechte war, funkelte ganz präzise. Einmal hat er nach dem Scheppern mehr zu sich als zu mir gesagt: Hejeh, der Wurm hat gute Phantomschmerzen vom Kuckuck geerbt.

Ich mochte die Uhr.

Den verrückten Kuckuck mochte ich nicht, den Wurm nicht, das flinke Pendel nicht. Ich mochte aber die beiden Gewichte, die Tannenzapfen. Sie waren träges schweres Eisen, und doch sah ich die Tannenwälder im Gebirge zu Hause. Hoch überm Kopf dicht beieinander die schwarzgrünen Nadelmäntel. Darunter streng ausgerichtet, so weit der Blick reicht, die Holzbeine der Stämme, die stehen, wenn du stehst, gehen, wenn du gehst, und laufen, wenn du läufst. Nur ganz anders als du, wie ein Heer. Wenn dir vom Fürchten dann das Herz unter der Zunge klopft, merkst du unter deinen Füßen das glänzende Nadelfell, diese helle Ruhe mit verstreuten Tannenzapfen. Und du bückst dich und greifst dir zwei, steckst den einen in die Hosentasche. Den anderen behältst du in der Hand, und schon bist du nicht mehr allein. Er bringt dich zu Verstand, dass das Heer nichts als ein Wald ist und die Verlorenheit darin bloß ein Spaziergang.

Mein Vater hat sich viel Mühe gegeben, er wollte mir das Pfeifen beibringen und wie man am Echo die Richtung deutet, wenn jemand pfeift, der sich im Wald verirrt hat. Und wie man ihn findet, indem man zurückpfeift. Den Nutzen des Pfeifens habe ich verstanden, aber nicht, wie man die Luft spitz aus dem Mund bläst. Ich habe sie falsch nach innen gezogen, dass die Brust sich aufblies, statt an den Lippen der Ton. Ich habe nie pfeifen gelernt. So oft er mir das Pfeifen vorführte, dachte ich nur an das, was ich sah, dass bei den Männern die Lippen innen glänzen, wie rosa Quarz. Er sagte, ich werde schon noch sehen, dass man es gebrauchen kann. Das Pfeifen, meinte er. Aber ich habe an die Glashaut der Lippen gedacht.

Eigentlich gehörte die Kuckucksuhr dem Hungerengel. Es ging hier im Lager doch gar nicht um unsere Zeit, nur um die Frage: Kuckuck, wie lang leb ich noch.

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