Mondsichelmadonna

Wenn der Hunger am größten ist, reden wir von der Kindheit und vom Essen. Die Frauen reden ausführlicher vom Essen als die Männer. Am ausführlichsten reden die Frauen aus den Dörfern. Bei ihnen hat jedes Kochrezept mindestens drei Akte, wie ein Theaterstück. Durch die verschiedenen Ansichten über die Zutaten wächst die Spannung. Sie steigert sich rasant, wenn in die Füllung aus Speck, Brot und Ei keinesfalls nur eine halbe, sondern eine ganze Zwiebel, und nicht nur vier, sondern sechs Knoblauchzehen gehören und wenn die Zwiebeln und der Knoblauch nicht nur gehackt, sondern gerieben werden. Und wenn Semmelbrösel besser sind als Brot und Kümmel besser ist als Pfeffer und Majoran sowieso das Beste, sogar besser als Estragon, der doch zu Fisch passt, nicht zu Ente. Wenn die Füllung zwischen Haut und Fleisch geschoben werden muss, damit das Hautfett beim Braten einsickern kann, oder unbedingt in die Bauchhöhle geschoben werden muss, damit sie beim Braten nicht das Hautfett saufen kann, hat das Theaterstück seinen Höhepunkt erreicht. Manchmal behält die evangelisch gefüllte Ente recht, manchmal die katholisch gefüllte.

Und wenn die Frauen vom Dorf mit Wörtern Suppennudeln machen, dauert das sicher eine halbe Stunde, bis die Anzahl der Eier und das Rühren mit dem Löffel oder kneten mit der Hand besprochen ist, bis der Nudelteig glasdünn gewalkt und trotzdem nicht zerrissen und auf dem Nudelbrett getrocknet ist. Bis er dann gewickelt und geschnitten ist, bis die Nudeln dann vom Nudelbrett in die Suppe kommen, bis die Suppe langsam und ruhig oder kurz und aufwallend gekocht ist, bis sie serviert und eine gute Handvoll oder nur eine spitze Pfote frischgehackte Petersilie draufgestreut wird, dauert es noch mal eine Viertelstunde.

Die Frauen aus der Stadt verhandeln nicht, wie viele Eier man für den Nudelteig nimmt, sondern wie viele man sparen kann. Und weil sie ständig an allem sparen, taugen ihre Kochrezepte nicht einmal für den Prolog eines Theaterstücks.

Kochrezepte erzählen ist eine größere Kunst als Witze erzählen. Die Pointe muss sitzen, obwohl sie nicht lustig ist. Hier im Lager beginnt der Witz schon mit: Man nehme. Dass man nichts hat, das ist die Pointe. Aber die spricht niemand aus. Kochrezepte sind die Witze des Hungerengels.

Es ist ein Spießrutenlauf, bis man in der Frauenbaracke sitzt. Beim Eintreten muss man, bevor man gefragt wird, sagen, wen man sucht. Am besten fragt man selbst: Ist die Trudi da. Und während man fragt, geht man am besten schon nach links, dritte Reihe, auf das Bett der Trudi Pelikan zu. Die Betten sind einstöckige Eisengestelle wie in den Männerbaracken. Manche Betten sind mit Decken zugehängt für die Abendliebe. Ich will nie hinter die Decke, ich will nur Kochrezepte. Die Frauen glauben, dass ich zu schüchtern bin, weil ich einmal Bücher hatte. Sie meinen, lesen macht delikat.

Meine mitgebrachten Bücher habe ich im Lager nie gelesen. Papier ist streng verboten, den ersten halben Sommer habe ich meine Bücher hinter der Baracke unter Ziegelsteinen versteckt. Und dann verschachert. Für 50 Seiten Zarathustra-Zigarettenpapier habe ich 1 Maß Salz bekommen, für 70 Seiten sogar 1 Maß Zucker. Für den ganzen Faust in Leinen hat der Peter Schiel mir einen eigenen Läusekamm aus Blech gemacht. Die Sammlung Lyrik aus acht Jahrhunderten habe ich in Form von Maismehl und Schweineschmalz gegessen und den schmalen Weinheber in Hirse verwandelt. Davon wird man nicht delikat, nur diskret.

Diskret schau ich mir nach der Arbeit die jungen Dienstrussen unter der Dusche an. So diskret, dass ich selbst nicht mehr weiß, warum. Die würden mich totschlagen, wenn ich es wüsste.

Ich war wieder nicht standhaft. Ich hab mein ganzes Brot zum Frühstück gegessen. Ich sitze wieder in der Frauenbaracke neben der Trudi Pelikan auf der Bettkante. Die zwei Zirris kommen dazu und setzen sich vis-à-vis aufs Bett von der Corina Marcu. Sie ist seit Wochen auf dem Kolchos. Ich schau mir die goldenen Härchen und die dunkle Warze auf den mageren Fingern der beiden Zirris an und erzähle, um nicht gleich vom Essen zu reden, von der Kindheit.

Wir sind jeden Sommer aus der Stadt hinaus aufs Land gefahren, in die großen Ferien. Wir, das sind meine Mutter, ich und das Dienstmädchen Lodo. Unser Sommerhaus war auf der Wench, und der Berg gegenüber war das Schnürleibl. Wir blieben acht Wochen. In diesen acht Wochen machten wir jedesmal einen Tagesausflug nach Schäßburg, die nächste Stadt. Einsteigen mussten wir unten im Tal. Die Station hieß auf ungarisch Hétur und auf deutsch Siebenmänner. Auf dem Dach des Wärterhäuschens bimmelte die Glocke, weil der Zug jetzt in Danesch abfuhr. In fünf Minuten war er hier. Bahnsteig gab es keinen. Wenn der Zug einfuhr, reichte mir die Treppe bis zur Brust. Ich sah mir, bevor wir einstiegen, den Waggon von unten an — die schwarzen Räder mit dem blanken Umlauf, die Ketten, Haken und Puffer. Dann fuhren wir an der Badestelle vorbei, am Haus des Toma und am Feld vom alten Zacharias. Er bekam monatlich von uns zwei Päckchen Tabak als Wegmaut, weil wir durch seine Gerste mussten, wenn wir baden gingen. Dann kam die Eisenbrücke, unten wälzte sich das gelbe Wasser. Dahinter stand der zerfressene Sandfelsen mit der Villa Franca obendrauf. Da waren wir schon in Schäßburg. Wir gingen jedesmal gleich auf den Marktplatz ins elegante Café Martini. Unter den Gästen fielen wir ein bisschen auf, weil wir zu leger gekleidet waren — die Mutter im Hosenrock und ich in kurzen Hosen mit grauen Kniestrümpfen, die nicht so schnell schmutzen. Nur Lodo trug ihre Sonntagskleider aus dem Dorf, die weiße Bauernbluse und das schwarze Kopftuch mit dem Rosensaum und grünen Seidenfransen. Rotschattierte Rosen, die so groß wie Äpfel waren, größer als wirkliche Rosen. Wir durften an diesem Tag alles essen, was wir wollten, und so viel wir konnten. Wir durften wählen zwischen Marzipantrüffeln, Mohrenköpfen und Savarins, Cremeschnitten, Nussroulade, Faumrollen und Ischler, Haselnusskroketten, Rumtorte, Napoleonschnitten, Nougat und Dobosch. Dann auch noch Eis, Erdbeereis im Silberbecher oder Vanilleeis im Glasbecher oder Schokoladeeis im Porzellanschälchen, immer mit Schlagsahne. Und als Abschluss, wenn wir dann noch konnten, Weichselkuchen mit Gelee. Ich spürte an den Armen den kühlen Marmor der Tischplatte und in den Kniekehlen den weichen Plüsch vom Stuhl. Und oben auf dem schwarzen Buffet, im Wind des Ventilators, schaukelte in einem langen roten Kleid und mit der Zehenspitze auf einem sehr, sehr schmalen Mond die Mondsichelmadonna.

Als ich das erzählt hatte, schaukelte uns allen auf der Bettkante der Magen. Die Trudi Pelikan steckte den Arm hinter mir unters Kissen und nahm ihr gespartes Brot. Alle griffen nach ihrem Blechnapf und steckten ihren Löffel in die Jacke. Ich hatte mein Esszeug schon dabei, wir gingen zusammen zum Abendessen. Wir stellten uns vor dem Suppenkessel in die Schlange. Alle saßen wir dann an den langen Tischen. Jeder löffelte nach seiner Methode, um die Suppe zu strecken. Alle schwiegen. Vom Tischende fragte die Trudi Pelikan durch das Blechgeschepper: Leo, wie heißt das Café.

Ich rief: Café Martini.

Zwei, drei Löffel später fragte sie: Und wie heißt die Frau auf den Zehenspitzen. Ich rief: Mondsichelmadonna.

Загрузка...