Ersatzbruder

Anfang November ruft Tur Prikulitsch mich in seine Dienststube.

Ich habe Post von zu Hause.

Vor Freude tickt mein Gaumen, ich krieg den Mund nicht zu. Tur sucht im halboffenen Schrank in einer Schachtel. An der geschlossenen Schrankhälfte klebt ein Bild von Stalin, hohe graue Backenknochen wie zwei Abraumhalden, die Nase imposant wie eine Eisenbrücke, sein Schnauzbart wie eine Schwalbe. Neben dem Tisch dubbert der Kohleofen, darauf summt ein offener Blechtopf mit Schwarztee. Neben dem Ofen steht der Eimer mit Anthrazitkohle. Tur sagt: Leg mal bisschen Kohle nach, bis ich deine Post gefunden habe.

Ich suche im Eimer drei passende Brocken, die Flamme springt wie ein weißer Hase durch einen gelben Hasen. Dann springt der gelbe durch den weißen, die Hasen zerreißen einander und pfeifen zweistimmig Hasoweh. Das Feuer bläst mir Hitze ins Gesicht und das Warten Angst. Ich schließe das Ofentürchen und Tur schließt den Schrank. Er überreicht mir eine Rot-Kreuz-Postkarte.

An der Karte ist mit weißem Zwirn ein Foto angenäht, akkurat gesteppt mit der Nähmaschine. Auf dem Foto ist ein Kind. Tur schaut mir ins Gesicht, und ich schau auf die Karte, und das angenähte Kind auf der Karte schaut mir ins Gesicht, und von der Schranktür schaut uns allen Stalin ins Gesicht.

Unter dem Foto steht:

Robert, geb. am 17. April 1947.

Es ist die Handschrift meiner Mutter. Das Kind auf dem Foto hat eine gehäkelte Haube und eine Schleife unterm Kinn. Ich lese noch einmal: Robert, geb. am 17. April 1947. Mehr steht nicht da. Die Handschrift gibt mir einen Stich, das praktische Denken der Mutter, das Platzsparen durch das Kürzel geb. für geboren. Mein Puls klopft in der Karte, nicht in der Hand, in der ich sie halte. Tur legt mir die Postliste und einen Bleistift auf den Tisch, ich soll meinen Namen suchen und unterschreiben. Er geht zum Ofen, spreizt die Hände und horcht, wie das Teewasser summt und die Hasen im Feuer pfeifen. Erst verschwimmen mir vor den Augen die Rubriken, dann die Buchstaben. Dann knie ich am Tischrand, lasse die Hände auf den Tisch fallen und das Gesicht in die Hände und schluchze.

Willst du Tee, fragt Tur. Willst du Schnaps. Ich habe geglaubt, du freust dich.

Ja, sage ich, ich freue mich, weil wir zu Hause noch die alte Nähmaschine haben.

Ich trinke mit Tur Prikulitsch ein Glas Schnaps und noch eins. Für Hautundknochenleute ist das viel zu viel. Der Schnaps brennt im Magen und die Tränen im Gesicht. Ich habe ewig nicht geweint, meinem Heimweh trockene Augen beigebracht. Ich habe mein Heimweh sogar schon herrenlos gemacht. Tur drückt mir den Bleistift in die Hand und zeigt auf die richtige Rubrik. Ich schreibe zittrig: Leopold. Ich brauche deinen Namen ganz, sagt Tur. Schreib du ihn ganz, sag ich, ich kann nicht.

Dann gehe ich mit dem angenähten Kind in der Pufoaika-Jacke hinaus in den Schnee. Von draußen sehe ich im Fenster der Dienststube das Fensterkissen gegen den Luftzug, von dem mir die Trudi Pelikan erzählt hat. Es ist akkurat genäht und ausgestopft. Die Haare der Corina Marcu haben dafür nicht gereicht, es sind bestimmt noch andere drin. Aus den Glühbirnen fließen weiße Trichter, der hintere Wachturm pendelt im Himmel. Im ganzen Schneehof sind die weißen Bohnen vom Zither-Lommer verstreut. Der Schnee rutscht mit der Lagermauer immer weiter weg. Aber auf dem Lagerkorso, wo ich gehe, hebt er sich an meinen Hals. Der Wind hat eine scharfe Sense. Ich habe keine Füße, ich gehe auf den Wangen und habe bald keine mehr. Ich habe nur das angenähte Kind, es ist mein Ersatzbruder. Meine Eltern haben sich ein Kind gemacht, weil sie mit mir nicht mehr rechnen. So wie die Mutter geboren mit geb. abkürzt, würde sie auch gestorben mit gest. abkürzen. Sie hat es schon getan. Schämt sich die Mutter nicht mit ihrer akkuraten Steppnaht aus weißem Zwirn, dass ich unter der Zeile lesen muss:

Meinetwegen kannst du sterben, wo du bist, zu Hause würde es Platz sparen.

Загрузка...