Vom Fahren

Fahren war immer ein Glück.

Erstens: Solang du fährst, bist du noch nicht angekommen. Solang du nicht angekommen bist, musst du noch nicht arbeiten. Fahren ist Schonzeit.

Zweitens: Wenn du fährst, kommst du in eine Gegend, die sich überhaupt nicht um dich schert. Von einem Baum kann man nicht angeschrien und nicht verprügelt werden. Unter einem Baum schon, aber er kann nichts dafür.

Der einzige Anhaltspunkt, den wir bei der Ankunft im Lager hatten, war NOWO-GORLOWKA. Das konnte ein Name für das Lager sein oder für eine Stadt, auch für die ganze Umgebung. Der Name der Fabrik konnte es nicht sein, denn die hieß KOKSOCHIM-SAWOD. Und im Lagerhof neben dem Wasserhahn lag ein gusseiserner Kanaldeckel mit kyrillischen Buchstaben. Mit meinem Schulgriechisch reimte ich mir DNJEPROPETROWSK zusammen, und das konnte eine nahe Stadt oder bloß eine Gießerei am anderen Ende Russlands sein. Wenn man aus dem Lager herauskam, sah man statt Buchstaben die weite Steppe und bewohnte Orte in der Steppe. Auch deshalb war das Fahren ein Glück.

Die Transportleute wurden jeden Morgen in der Garage hinterm Lager auf Autos verteilt, meistens zu zweit. Karli Halmen und ich kamen zu einem Viertonner-LANCIA, ein Modell aus den dreißiger Jahren. Wir kannten alle fünf Autos aus der Garage, ihre Vor- und Nachteile. Der Lancia war gut, nicht so hoch und ganz aus Blech, kein bisschen Holz. Schlechter war der Fünftonner-MAN, dessen Räder einem bis zur Brust gingen. Und zu dem besseren Lancia gehörte auch der Schofför Kobelian mit dem schiefen Mund. Er war gutmütig.

Wenn Kobelian KIRPITSCH sagte, verstanden wir, heute holen wir rote Brennziegel und fahren durch die randlose Steppe. Wenn es in der Nacht geregnet hatte, spiegelten sich die ausgebrannten Autowracks und der Panzerschrott in den Mulden. Die Erdhunde flohen vor den Rädern. Karli Halmen saß bei Kobelian in der Kabine. Ich stand lieber oben auf der Ladefläche und hielt mich am Kabinendach fest. Von weitem sah man eine siebenstöckige Wohnkaserne aus roten Brennziegeln mit leeren Fensterlöchern ohne Dach. Eine Halbruine, ganz allein in der Gegend, aber hochmodern. Vielleicht war es der allererste Wohnblock einer Neubausiedlung, die von einem Tag auf den andern gestoppt wurde. Vielleicht kam vor dem Dach der Krieg.

Die Landstraße war bucklig, der Lancia schepperte an den verstreuten Höfen vorbei. In manchen wuchsen hüfthohe Brennesseln, und darin standen Bettgestelle aus Eisen, auf denen weiße Hühner saßen, mager wie Wolkenfetzen. Die Brennesseln wachsen nur dort, wo Menschen wohnen, hatte meine Großmutter gesagt, und die Kletten nur dort, wo es Schafe gibt.

Ich sah nie Menschen in den Höfen. Ich wollte Leute sehen, die nicht im Lager leben, die ein Zuhause haben, einen Zaun, einen Hof, ein Zimmer mit einem Teppich, vielleicht sogar einen Teppichklopfer. Wo Teppiche geklopft werden, dachte ich, kann man dem Frieden trauen, dort ist das Leben zivil, dort lässt man die Leute in Frieden.

Bei der allerersten Fahrt mit Kobelian hatte ich in einem Hof eine Teppichstange gesehen. Sie hatte eine Rolle, auf der man den Teppich beim Klopfen hin- und herziehen konnte. Und neben der Teppichstange stand eine große, weiße Wasserkanne aus Emaille. Wie ein Schwan war sie mit ihrem Schnabel, schlanken Hals und schweren Bauch. So schön, dass ich auf jeder Fahrt sogar im leeren Wind mitten in der Steppe eine Teppichstange suchte. Nie wieder sah ich eine Teppichstange oder einen Schwan.

Hinter den Vororthöfen begann eine kleine Stadt aus ockergelben Häusern mit zerbröckeltem Stuck und rostigen Blechdächern. Zwischen den Asphaltresten versteckten sich Straßenbahnschienen. Auf den Schienen zogen ab und zu Pferde zweirädrige Karren aus der Brotfabrik. Alle waren mit einem weißen Leintuch zugedeckt, wie der Handkarren im Lager. Aber die halbverhungerten Pferde gaben mir zu denken, ob unter den Leintüchern Brot liegt, und nicht verhungerte Tote.

Kobelian sagte: Die Stadt heißt Nowo-Gorlowka. Heißt die Stadt wie das Lager, fragte ich. Er sagte: Nein, das Lager heißt wie die Stadt. Es gab nirgends Ortsschilder. Wer fuhr und ankam, also Kobelian und der Lancia, kannte den Namen des Ortes. Und wer ortsfremd war, fragte nach ihm wie Karli Halmen und ich. Und wer niemanden zum Fragen hatte, fand nicht hierher und hatte hier auch nichts zu suchen.

Die Brennziegel holten wir hinter der Stadt. Das Aufladen dauert, wenn man zu zweit ist und mit dem Lancia ganz nah an die Ziegel heranfahren kann, anderthalb Stunden. Man nimmt vier Steine auf einmal, trägt sie aneinandergepresst wie eine Ziehharmonika. Drei sind zu wenig und fünf schon zu viel. Tragen könnte man fünf, aber dann rutscht der mittlere weg. Man bräuchte eine dritte Hand, um ihn zu halten. Die Ziegel schichtet man ohne Fugen auf die ganze Ladefläche nebeneinander, drei bis vier Schichten hoch. Brennziegel haben eine helle Resonanz, jeder klingt ein wenig anders. Der rote Staub ist immer gleich und setzt sich auf die Kleider, aber trocken. Ziegelstaub spinnt dich nicht so ein wie Zementstaub und sitzt nicht fettig wie der Kohlestaub. Beim Ziegelstaub dachte ich an süßen roten Paprika, obwohl er nicht riecht.

Auf der Rückfahrt schepperte der Lancia nie, er war viel zu schwer. Wir fuhren wieder durch die kleine Stadt Nowo-Gorlowka über die Straßenbahnschiene, wieder an den Vororthöfen vorbei, auf der Landstraße unter den Wolkenfetzen der Steppe bis zum Lager. Und dann am Lager vorbei zur Baustelle.

Das Abladen ging schneller als das Aufladen. Man musste die Ziegel zwar schichten, aber nicht so genau, denn sie wurden oft schon am nächsten Tag aufs Gerüst zu den Maurern geschleppt.

Mit dem Hin- und Rückweg, Aufladen und Abladen schaffte man zwei Transporte pro Tag. Dann war es Abend. Manchmal fuhr Kobelian noch einmal los, ohne etwas zu sagen. Karli und ich wussten, dass es eine Privatfuhre ist. Wir luden nur eine Schicht Brennsteine auf die halbe Ladefläche. Und auf dem Rückweg bogen wir hinter der siebenstöckigen Wohnruine ab, in eine Senke. Dort wuchsen Pappelreihen um die Häuser. Die Wolken waren um diese Zeit auch ziegelrot vom Abend. Zwischen dem Zaun und dem Holzschuppen fuhren wir in Kobelians Hof. Das Auto hielt mit einem Ruck, und ich stand bis zu den Hüften in einem kahlen, wahrscheinlich ausgedorrten Obstbaum, voll mit schrumpeligen Kugeln aus dem letzten oder vorletzten Sommer. Karli kletterte zu mir hoch. Dieses letzte Tageslicht hängte uns Obst vors Gesicht, und Kobelian ließ uns vor dem Abladen pflücken.

Die Kugeln waren holztrocken, man musste lutschen und saugen, bis sie nach Weichseln schmeckten. Wenn man gut kaute, wurde der Kern auf der Zunge ganz glatt und heiß. Diese Nachtweichseln waren ein Glück, aber sie machten den Hunger noch größer.

Auf der Heimfahrt war die Nacht aus Tinte. Spät ins Lager zu kommen, war gut. Der Appell war vorbei, das Abendessen hatte längst begonnen. Im Kessel war die dünne Suppe von oben schon an andere verteilt. Die Chance auf Dickes von unten war größer.

Aber zu spät ins Lager zu kommen, war schlimm. Dann war die Suppe alle. Dann hatte man nichts außer dieser großen leeren Nacht mit den Läusen.

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