Kapitel 15

»Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?«, fragte Tor Jonasson.

Das war seine Standardformel. Er war zwanzig Jahre alt, das Durchschnittsalter seiner Kunden betrug fünfundzwanzig, und die Produkte im Laden waren vor maximal fünf Jahren erfunden worden. Deshalb fand Tor Jonasson diese altmodische Ansprache lustig. Allerdings schien er mit dieser Art Humor seinen aktuellen Kunden nicht zu erreichen. Er hatte sich die Kapuze seines Pullis so weit in die Stirn gezogen, dass sein Gesicht im Dunkeln lag.

»Ich brauche so ein Handy, bei dem man nicht ermitteln kann, woher der Anruf kommt.«

Dealer. Klar. Nur die fragten nach so was.

»Bei diesem iPhone hier können Sie die eigene Nummer unterdrücken«, sagte der junge Ladenbesitzer und nahm ein weißes Telefon vom Regal. »Die Nummer wird dann bei dem, den Sie anrufen, nicht angezeigt.«

Der Kunde verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere und zog seine rote Tasche etwas weiter hoch auf die Schulter. Tor nahm sich vor, ihn nicht aus den Augen zu lassen, solange er im Geschäft war.

»Ich meine so ein Ding, das man ohne Vertrag nutzen kann«, sagte der Mann. »Niemand kann den Anruf zurückverfolgen. Nicht mal die Telefongesellschaft.«

Oder Polizei, dachte Jonasson. »Sie meinen ein anonymes Prepaidtelefon. Wie sie es in The Wire benutzen.«

»Bitte?«

»The Wire. Die Fernsehserie. Damit die Ermittler vom Drogendezernat die Anrufe nicht zu irgendwelchen Leuten zurückverfolgen können.«

Tor spürte die Verwirrung des anderen. Mein Gott. Ein Dealer, der »Bitte?« sagte und The Wire nicht kannte?

»Die gibt es nur in den USA, bei uns in Norwegen nicht. Seit 2005 muss sich hier jeder ausweisen, auch beim Kauf eines Prepaidhandys. Die werden alle auf jemanden eingetragen.«

»Auf jemanden?«

»Ja, auf den Namen des Käufers. Oder seiner Eltern, sollten die das gekauft haben.«

»Okay«, sagte der Mann. »Geben Sie mir das billigste Telefon, das Sie haben. Mit Prepaidkarte.«

»Geht in Ordnung«, sagte der Ladenbesitzer, ließ das »mein Herr« weg, legte das iPhone beiseite und nahm ein kleineres Handy. »Das ist nicht das allerbilligste, hat dafür aber Internetzugang. Tausendzweihundert Kronen mit Karte.«

»Internetzugang?«

Tor musterte sein Gegenüber noch einmal. Er konnte nicht viel älter als er selbst sein, wirkte aber komplett verloren. Tor schob sich mit zwei Fingern eine Haarsträhne hinters Ohr. Diese Geste hatte er sich nach der ersten Staffel von Sons of Anarchy antrainiert. »Sie können mit dem Telefon auch im Internet surfen.«

»Das kann ich doch in einem Internetcafé machen.«

Tor Jonasson lachte. Vielleicht hatten sie doch den gleichen Humor. »Mein Chef hat mir gerade erst neulich erzählt, dass dieser Laden hier noch vor ein paar Jahren ein Internetcafé war. Vermutlich das letzte der Stadt …«

Der Mann schien zu zögern. Dann nickte er. »Okay. Ich nehme es.« Er legte einen Stapel Hunderter auf den Tisch.

Die Scheine waren steif und staubig, als hätten sie irgendwo längere Zeit gelegen. »Dann brauche ich, wie gesagt, Ihren Ausweis.«

Der Mann nahm einen Ausweis aus der Tasche und reichte ihn über den Tresen. Tor sah sofort, dass er sich gründlich geirrt hatte. Dieser Mann war kein Dealer. Ganz im Gegenteil. Er tippte den Namen in den PC. Helge Sørensen. Dann gab er die Adresse ein und reichte dem Gefängniswärter das Wechselgeld.

»Haben Sie auch Batterien für den hier?«, fragte der Mann und hielt ihm einen runden silbernen Apparat hin.

»Was ist das?«, fragte Tor.

»Ein Discman«, sagte der Mann. »Sie verkaufen Kopfhörer dafür.«

Tor sah zu der Reihe von Kopf- und Ohrhörern, die über den iPods hingen. »Tue ich das?«

Tor öffnete die Rückseite des Museumsstücks und drückte die alten Batterien heraus. Dann nahm er zwei Sanyo AA-Batterien, legte sie in den Apparat und drückte auf Play. Ein hohes Summen kam aus dem Kopfhörer.

»Diese Batterien sind aufladbar.«

»Dann sind die nicht einfach tot wie die anderen?«

»Doch, aber sie können von den Toten wiederauferstehen.«

Tor glaubte im Schatten der Kapuze ein Lächeln zu erkennen. Schließlich schob der Mann die Kapuze etwas zurück und setzte sich die Kopfhörer auf.

»Depeche Mode«, sagte er und lächelte breit, ehe er sich umdrehte und aus dem Laden marschierte.

Tor Jonasson war überrascht, wie freundlich das Gesicht unter der Kapuze gewirkt hatte. Dann ging er zum nächsten Kunden und fragte, womit er dem Herrn dienen könne. Erst in der Mittagspause kam er darauf, warum ihn das Gesicht unter der Kapuze so überrascht hatte. Nicht weil der Mann ihm sympathisch gewesen war, sondern weil er dem auf dem Ausweis so gar nicht ähnlich sah.

Was ließ ein Gesicht sympathisch wirken? fragte sich Martha und musterte den jungen Mann durch die Klappe der Rezeption. Oder war es nur das, was er gerade gesagt hatte. Die meisten, die an die Rezeption kamen, wollten bloß geschmierte Brote oder Kaffee, wenn sie es nicht darauf anlegten, über ihre eingebildeten oder tatsächlichen Probleme zu reden. Oder sie brachten einen Becher gebrauchter Spritzen, die hauseigene Währung, um sie gegen saubere, frische Kanülen einzutauschen. Dieser Neue aber war zu ihr gekommen, um ihr zu erzählen, dass er über ihre Aufnahmefrage nachgedacht hatte. Ob er Zukunftspläne habe. Denn die hätte er schon irgendwie. Er wollte sich einen Job suchen. Das ginge aber leider nicht ohne anständige Kleidung, zum Beispiel einen Anzug. Er meinte im Kleiderlager einen gesehen zu haben und wüsste gerne, ob er eventuell …

»Aber ja«, sagte Martha, stand auf und ging mit ihm nach unten. Sie spürte, dass ihre Schritte so leicht wie schon lange nicht mehr waren. Natürlich konnte das bloß eine fixe Idee sein, ein Projekt, das er aufgeben würde, sobald es schwierig würde, aber es war trotzdem ein Hoffnungsschimmer, eine kurze Unterbrechung des ewigen Stroms in Richtung Abgrund.

Sie hatte sich auf den Stuhl neben der Tür des schmalen Lagerraums gesetzt und beobachtete ihn dabei, wie er vor dem Spiegel, der an der Wand lehnte, eine Anzughose anprobierte. Es war schon die dritte. Sie hatten einmal eine Gruppe Politiker im Haus herumgeführt, die sich vergewissern wollten, dass die Wohnbedingungen in städtischen Hospizen auch gut genug waren. Im Kleiderlager war die Frage aufgekommen, warum sie so viele Anzüge hätten. Einer der Politiker fand das für ein Hospiz reichlich unpassend. Die anderen Politiker hatten sich amüsiert, bis Martha lächelnd erwidert hatte: »Unsere Bewohner gehen deutlich häufiger zu Beerdigungen als Sie.«

Der Neue war dünn, aber nicht so abgemagert, wie sie geglaubt hatte. Sie verfolgte das Spiel der Muskeln unter der Haut, wenn er die Arme hob, um eines der Hemden überzuziehen, die sie ihm hingelegt hatte. Er hatte keine Tätowierungen. Stattdessen war die bleiche Haut von Einstichstellen übersät. Auf der Innenseite der Knie, der Schenkel, unten an den Waden und seitlich am Hals.

Er zog sich die Jacke an und betrachtete sich im Spiegel. Dann wandte er sich ihr zu. Der Nadelstreifenanzug war eine Spur zu groß, sah aber beinahe wie neu aus. Sein Vorbesitzer konnte ihn nicht oft getragen haben, bevor er ihn mit der restlichen Kleidung des Vorjahres aus lauter Herzensgüte – und seinem Sinn für Mode folgend – einem guten Zweck gestiftet hatte.

»Perfekt«, sagte sie lachend und klatschte in die Hände.

Er lächelte. Und als dieses Lächeln seine Augen erreichte, spürte sie es wie die Wärme eines Kaminofens. Es war ein Lächeln, das steife Muskeln und eingefrorene Gefühle lösen konnte. Ein Lächeln, wie geschaffen gegen compassion fatigue, das sie aber – und dieser Gedanke kam ihr wirklich erst jetzt – nicht erwidern durfte. Sie wich seinem Blick aus und sah an ihm hinunter.

»Schade, dass ich keine guten Schuhe für dich habe.«

»Die werden schon reichen«, antwortete er und trat mit der Hacke des blauen Joggingschuhs auf.

Sie lächelte, aber ohne ihn anzusehen. »Und dann brauchst du noch einen Haarschnitt. Komm!«

Sie gingen zurück in die Rezeption. Martha setzte ihn auf ­einen Stuhl, legte ihm zwei Handtücher über die Schultern und nahm eine der Küchenscheren. Dann holte sie außerdem noch Wasser aus der Küche, befeuchtete seine Haare damit und kämmte sie mit ihrem eigenen Kamm. Unter dem großen Hallo der Umstehenden in der Rezeption fielen dann seine noch verbliebenen Haare. Ein paar Bewohner blieben draußen vor der Rezeption stehen und beschwerten sich, dass ihnen nie die Haare geschnitten worden waren.

Martha scheuchte sie weg und konzentrierte sich wieder auf das Schneiden.

»Wo willst du mit der Jobsuche anfangen?«, fragte sie und betrachtete die feinen, fast weißen Härchen in seinem Nacken. Dafür brauchte sie einen Rasierapparat oder ein Rasiermesser.

»Ich habe ein paar Kontakte, allerdings nicht die aktuellen Adressen. Aber vielleicht finde ich die ja im Telefonbuch.«

»Im Telefonbuch«, schnaubte eine von Marthas Kolleginnen und lachte, »such die lieber im Internet.«

»Echt?«, fragte der junge Mann.

»Aber sicher!«, lachte sie. Etwas zu laut. Und dann taxierte sie Martha mit blitzenden Augen.

»Ich habe ein Telefon gekauft, mit dem ich ins Internet kann«, sagte der Mann. »Aber ich weiß nicht, wie man das macht …«

»Das kann ich dir zeigen«, sagte die junge Frau, trat vor ihn und streckte die Hand aus.

Er gab ihr das Handy, und sie tippte sogleich souverän darauf herum. »Du kannst hier einfach googeln. Wie lautet der Name?«

»Der Name?«

»Ja, der Name. Ich zum Beispiel heiße Maria.«

Martha warf ihr einen warnenden Blick zu. Sie war noch sehr jung, kam frisch von der Uni und hatte noch wenig Erfahrung. Zu wenig, um zu wissen, wo die Grenze zwischen professio­neller Fürsorge und zu engem Umgang mit den Bewohnern verlief.

»Iversen«, sagte der Mann.

»Oh, da werden wir viele Treffer kriegen. Hast du auch einen Vornamen …?«

»Zeig mir einfach, wie man das macht, dann kriege ich das schon selbst hin«, sagte der Mann.

»Okay.« Maria tippte etwas ein und reichte ihm das Telefon. »So. Jetzt sucht es.«

»Danke.«

Martha war fertig, nur die feinen Härchen im Nacken musste sie noch ausrasieren. Dafür brauchte sie die Rasierklinge, die sie in einem der Zimmer, die sie ausgeräumt hatte, vor dem Fenster gefunden und auf den Küchentisch gelegt hatte, um sie mit den ersten gebrauchten Spritzen wegzuwerfen. Manche Bewohner nutzten die Klingen beim Schniefen, um damit die Drogen feinzuhacken. Sie griff nach einem Feuerzeug und hielt die Klinge ein paar Sekunden über die Flamme. Dann spülte sie sie unter kaltem Wasser ab und nahm sie zwischen Daumen und Zeige­finger.

»Jetzt ganz still sitzen«, sagte sie.

»Hm«, sagte der Mann und tippte auf seinem Telefon herum.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als der dünne Stahl über die weiche Haut im Nacken kratzte und die Haare zu Boden fielen. Ganz automatisch kam ihr ein Gedanke in den Sinn. Wie wenig es brauchte. Wie wenig das Leben vom Tod trennte. Das Glück vom Unglück. Das Sinnvolle vom Sinnlosen.

Dann war sie fertig. Zufällig fiel ihr Blick auf den Namen, den er gerade eintippte. Das weiße Suchsymbol drehte und drehte sich im Kreis.

»So«, sagte sie.

Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zu ihr auf.

»Danke.«

Sie nahm die Handtücher und brachte sie schnell in die Waschküche, damit die Haare nicht überall herumflogen.

Johnny Puma lag mit dem Gesicht zur Wand im Dunkeln und hörte, wie leise die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Jemand schlich in den Raum. Aber Johnny war wach und bereit. Dieser Typ würde seine eiserne Kralle kennenlernen, sollte er sich an seinem Dope vergreifen.

Aber er kam nicht näher. Stattdessen hörte Johnny, wie die Schranktüren geöffnet wurden.

Er drehte sich im Bett um, aber es war nicht sein Schrank. Vermutlich hatte der andere ihn bereits durchsucht, als Johnny noch geschlafen hatte, aber da war ja ohnehin nichts zu holen.

Ein schmaler Streifen Licht fiel durch die Gardinen auf das Gesicht des Neuen, und Puma zuckte zusammen.

Der junge Mann hatte einen Gegenstand aus der roten Tasche genommen, sich auf die Zehenspitzen gestellt und ihn in den leeren Karton der Joggingschuhe gelegt, der auf dem obersten Brett des Schranks stand. Puma hatte sofort erkannt, was es war.

Als der Mann den Schrank schloss und sich umdrehte, beeilte Johnny Puma sich, die Augen zu schließen.

Verdammt, dachte er und presste die Lider zusammen, in dieser Nacht würde er nicht schlafen.

Markus gähnte. Er schaute durch das Fernrohr und studierte den Mond, der über dem Dach des gelben Hauses stand. Dann richtete er das Fernrohr wieder auf die Fenster. Jetzt war es da drüben vollkommen still. Würde der Sohn noch einmal auftauchen? Markus hoffte es. Vielleicht erfuhr er dann ja auch, was er mit dem alten Ding wollte, das in der Schublade gelegen hatte. Dunkel geglänzt hatte es und nach Öl und Metall gerochen. Vielleicht hatte sein Vater sich ja sogar damit …?

Markus gähnte wieder. Es war ein verdammt aufregender Tag gewesen, und in dieser Nacht würde er schlafen wie ein Stein.


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