Kapitel 39

Markus saß auf dem Bett im gelben Haus.

Die Frau war, nur zwanzig Minuten nachdem der Sohn eilig das Weite gesucht hatte, aus dem Haus gestürmt. Markus wartete erst einmal, doch irgendwann war klar, dass sie nicht mehr zurückkommen würden.

Zehn Minuten später lief er über die Straße. Der Schlüssel befand sich am alten Platz.

Das Bett war gemacht, die Scherben der Lampe lagen im Papierkorb. Darunter entdeckte er das zusammengeknüllte Blatt Papier.

Beschrieben mit einer sauberen, fast mädchenhaften Handschrift.

Liebe Martha,

mein Vater hat mir einmal von einem Mann erzählt, der vor seinen Augen ertrunken ist. Mein Vater war Streife gefahren, es war mitten in der Nacht, und ein Junge hatte vom Bootshafen Kongen die Notrufzentrale angerufen. Der Papa des Jungen war beim Anlegen ins Wasser gefallen. Er konnte nicht schwimmen und klammerte sich an den Bootsrand, aber der Junge schaffte es nicht, ihn wieder an Bord zu ziehen. Als die Streife kam, verließen den Mann die Kräfte. Er ließ los und ging unter. Minuten vergingen, der Junge schluchzte, und mein Vater alarmierte die Taucher. Und während sie dastanden, kam der Mann plötzlich wieder an die Oberfläche, mit bleichem Gesicht, nach Luft schnappend. Der Freudenschrei des Jungen. Dann ging der Mann wieder unter. Mein Vater sprang ihm hinterher, aber es war zu dunkel. Und als er wieder hochkam, sah er direkt in das freudestrahlende Gesicht des Jungen, der natürlich glaubte, alles sei in Ordnung, sein Vater hatte ja geatmet, und die Polizei war da. Mein Vater erzählte mir, wie es dem Jungen das Herz in der Brust zerriss, als er begriff, dass Gott bloß mit ihm gespielt und nur so getan hatte, als wollte er ihm zurückgeben, was er ihm genommen hatte. Mein Vater sagte damals, Gott, sollte es ihn wirklich geben, ist grausam. Ich glaube, ich weiß jetzt, wie er das gemeint hat. Denn ich habe endlich das Tagebuch meines Vaters gefunden. Vielleicht wollte er, dass wir es erfuhren. Vielleicht war er einfach nur grausam. Warum schreibt man sonst ein Tagebuch und versteckt es an einem derart augenfälligen Platz wie unter der Matratze?

Vor Dir liegt Dein Leben, Martha. Ich glaube, Du kannst es zu etwas Wunderbarem machen. Ich könnte das nicht.

Vergib mir, aber ich verschwinde jetzt.

Ich liebe Dich in alle Ewigkeit. Sonny.

Markus sah auf den Tisch. Dort lag das Buch, in dem der Sohn gelesen hatte.

Schwarzer Ledereinband, vergilbte Seiten. Er blätterte darin.

Verstand schnell, dass es ein Tagebuch war, obwohl nicht ­jeden Tag etwas notiert worden war. Manchmal lagen Monate zwischen den Einträgen. Manchmal standen nur ein Datum und ein paar Sätze da. An einer Stelle las er, die Troika habe sich aufgespalten, weil etwas zwischen sie gekommen war. Eine Woche später hieß es, Helene sei schwanger und sie hätten sich ein Haus gekauft. Aber es sei nicht leicht, mit einem Polizistenlohn auszukommen. Leider waren sowohl Helenes als auch seine ­Eltern aus einfachen Verhältnissen und konnten ihnen nicht helfen. Weiter unten hatte er geschrieben, wie froh er darüber war, dass Sonny mit dem Ringen angefangen hatte. Dann folgte eine Seite, auf der notiert war, die Bank habe die Zinsen erhöht und sie könnten den Kredit nicht mehr zahlen. Er müsse etwas tun, wollten sie nicht auf die Straße gesetzt werden. Eine Lösung finden. Er habe Helene versprochen, dass alles gut werden würde. Glücklicherweise schien der Junge nichts von alldem mitzubekommen.

19. März

Sonny hat gesagt, dass er in meine Fußstapfen treten und Polizist werden will. Helene meint, er wäre zu fixiert auf mich, würde mich vergöttern. Ich habe nur gesagt, Söhne sind eben so, ich war auch nicht anders. Sonny ist ein guter Junge, vielleicht zu gut, die Welt ist hart, aber auf jeden Fall ist so ein Junge ein Geschenk für einen Vater.

Dann kamen Seiten, die Markus nicht ganz verstand. Worte wie drohender privater Konkurs und seine Seele dem Teufel verkaufen. Und der Name Zwilling.

Markus blätterte weiter.

4. August.

Heute haben sie im Dezernat wieder über den Maulwurf geredet, dass der Zwilling einen Verbündeten bei der Polizei haben müsse. Es ist seltsam, wie sehr die Menschen in den immer gleichen Bahnen denken, sogar Polizisten. Es gibt immer nur einen Mörder, einen Verräter. Ist es denn so schwer, sich vorzustellen, wie genial die Dynamik ist, wenn man zu zweit operiert? Dass der eine sich immer ein Alibi verschaffen kann, wenn der andere aktiv ist, und auf diese Weise beide keinen Verdacht erregen, weil sie für viele Fälle nicht in Frage kommen, man sie gar nicht erst als potentielle Maulwürfe in Betracht zieht? Ja, wir haben es gut eingerichtet. Perfekt. Wir sind korrupte, verkommene Polizisten, die für ein paar Silberlinge alles verkauft haben, was ihnen einmal heilig war. Drogen, Menschenhandel, ja sogar Mord lassen wir durchgehen. Nichts hat mehr Geltung. Gibt es einen Weg zurück? Gibt es eine Möglichkeit zu gestehen, eine Möglichkeit, Buße und Vergebung zu erlangen, ohne alles und alle um mich herum zu zerstören? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, ich muss da irgendwie raus.

Markus gähnte. Er wurde vom Lesen immer so müde, besonders wenn er so viele Wörter nicht verstand. Er blätterte ein paar Seiten weiter.

15. September

Wie lange können wir weitermachen, ohne dass der Zwilling herausfindet, wer wir sind? Wir kommunizieren über Hotmail-Adressen von den gebrauchten, gestohlenen PCs, die wir uns aus der Asservatenkammer »ausgeliehen« haben. Aber idiotensicher ist das nicht. Andererseits könnte er auch die Übergabeorte überwachen, wenn wir unser Geld bekommen. Als ich in der vergangenen Woche den Umschlag geholt habe, der auf der Unterseite der hintersten Bank im Broker im Bogstadveien festgeklebt war, war ich mir sicher, entlarvt worden zu sein. Ein Kerl am Tresen beobachtete mich die ganze Zeit. Dass er kriminell war, war wirklich schon von weitem zu erkennen. Und ich hatte recht. Irgendwann kam er zu mir und sagte, ich hätte ihn vor zehn Jahren wegen Hehlerei geschnappt. Und das war das Beste, was ihm je passiert ist, denn danach hat er all den Blödsinn sein lassen. Jetzt betreibt er zusammen mit seinem Bruder eine Fischzucht. Er bedankte sich mit Handschlag und ging seines Wegs. Wirklich eine ­positive Geschichte. Im Umschlag war auch ein Brief, in dem der Zwilling den Wunsch äußerte, ich müsse – offensichtlich ging er noch immer davon aus, dass ich allein war – Karriere machen und eine der Topstellungen bekommen, um für ihn von noch größerem Nutzen zu sein. Das wäre für uns beide gut. Wertvolle Informationen gegen große Summen. Er meinte, er könne mir helfen und die richtigen Strippen ziehen. Ich habe nur laut gelacht. Der Kerl ist wirklich verrückt, einer dieser Wahnsinnigen, die erst aufhören, wenn sie sich die ganze Welt unterworfen haben. Die nicht von selbst aufhören, sondern gestoppt werden müssen. Ich zeigte Z den Brief. Ich weiß nicht, warum, aber er hat nicht gelacht.

Durch das offene Fenster hörte Markus seine Mutter rufen. Wahrscheinlich brauchte sie ihn für irgendetwas. Er hasste es, wenn sie das tat, wenn sie einfach das Fenster öffnete und seinen Namen brüllte, als wäre er ein Hund. Er blätterte weiter.

6. Oktober

Etwas ist passiert. Z meint, wir sollten aufhören, solange das Spiel noch gut läuft, wir müssten das Ganze auf Eis legen. Und der Zwilling antwortet seit Tagen nicht mehr auf meine Mails. Das ist bis jetzt noch nie passiert. Haben die beiden miteinander geredet? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass wir aus diesem Spiel nicht einfach aussteigen können. Ich weiß, Z traut mir nicht mehr. Aus dem gleichen Grund, aus dem auch ich ihm nicht mehr traue. Wir haben uns unsere wahren Gesichter gezeigt.

7. Oktober

Heute Nacht habe ich es plötzlich verstanden. Der Zwilling braucht nur einen von uns, und genau das ist sein Plan. Und der andere ist ein Zeuge, den er eliminieren muss. Z hat das vor mir verstanden. Deshalb eilt es, ich muss ihn erledigen, bevor er mich erledigt. Ich habe Helene gefragt, ob sie mit Sonny morgen zu einem Ringerwettkampf fahren kann, und vorgegeben, noch etwas fertigmachen zu müssen. Ich habe Z gefragt, ob wir uns gegen Mitternacht an den mittelalterlichen Ruinen im Maridalen treffen können, um über gewisse Dinge zu reden. Er war überrascht, dass ich ihn an einem derart einsamen Ort treffen wollte und noch dazu so spät, willigte aber ein.

8. Oktober

Es ist still. Ich habe die Pistole geladen. Es ist ein seltsames Gefühl, genau zu wissen, dass ich gleich einen Menschen umbringen werde. Und ich frage mich, was mich an diesen Punkt geführt hat. Die Rücksicht auf die Familie? Oder die Verlockung, etwas zu erreichen, was meine Eltern nie ­erreichen konnten, eine Position, ein Leben, wie es andere, unwürdige Idioten auf dem Silbertablett serviert bekommen? Ist es Tatkraft und Mut oder Schwäche und Charakterlosigkeit? Bin ich ein schlechter Mensch? Eine Frage habe ich mir immer wieder gestellt: Wäre mein Sohn in der gleichen Situation, sähe ich es dann gern, dass er so handelt wie ich? Die Antwort ist ziemlich klar.

Ich fahre gleich ins Maridalen. Mal sehen, ob ich verändert zurückkehre. Als Mörder.

Mag sein, das ist komisch, aber manchmal – vermutlich sind wir Menschen einfach so – wünsche ich, jemand würde dieses Tagebuch finden.

Nach diesem Eintrag kam nichts mehr. Markus blätterte durch die leeren Seiten. Die letzten waren ausgerissen. Er legte das Buch zurück auf den Tisch und ging langsam die Treppe hinunter, während seine Mutter wieder und wieder seinen Namen brüllte.


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