Kapitel 29

»Es ist mitten in der Nacht«, sagte der Arzt und rieb sich die Augen. »Wollen Sie nicht nach Hause fahren und ein bisschen schlafen, Herr Kefas, wir können das doch auch morgen besprechen?«

»Nein«, sagte Simon.

»Okay«, sagte der Arzt und gab Simon ein Zeichen, auf einem der Stühle Platz zu nehmen, die auf dem kahlen Krankenhausflur standen. Als der Arzt sich neben ihn setzte und eine Pause machte, bevor er sich vorbeugte, wusste Simon, dass er schlechte Nachrichten hatte:

»Ihre Frau hat nicht mehr viel Zeit. Wenn die Operation erfolgreich sein soll, muss sie im Laufe der nächsten Tage unters Messer.«

»Und Sie können nichts tun?«

Der Arzt seufzte. »Für gewöhnlich empfehlen wir unseren Patienten nicht, ins Ausland zu gehen und sich einer teuren privaten Behandlung zu unterziehen. Ganz sicher nicht, wenn der Ausgang der Operation so unsicher ist. Aber in diesem Fall …«

»Sie sagen also, dass ich sie auf schnellstem Wege in die Howell-Klinik bringen muss?«

»Sie müssen gar nichts. Das habe ich nicht gesagt. Viele Blinde leben mit ihrer Behinderung ein vollwertiges Leben.«

Simon nickte, während seine Finger über die Blendgranate strichen, die er noch immer in der Tasche hatte. Er versuchte nachzudenken, aber seine Gedanken verloren sich in der Frage, ob man heute überhaupt noch von Behinderungen sprach oder ob das wie so vieles im Gesundheitswesen auch schon einen neuen Namen bekommen hatte.

Der Arzt räusperte sich.

»Ich …«, begann Simon, als sein Handy knisterte. Er griff danach, er brauchte die Auszeit. Die Nummer, von der die SMS geschickt worden war, kannte er nicht.

Der Text war relativ kurz.

Du findest Nestors Gefangene in der Enerhauggata 96. Es eilt.

Der Sohn.

Der Sohn.

Simon wählte eine Nummer.

»Hören Sie«, sagte der Arzt, »ich habe jetzt nicht die Zeit …«

»Dann nehmen Sie sie sich«, sagte Simon und hob eine Hand, um ihm zu signalisieren, dass er den Mund halten sollte, als sich eine verschlafene Stimme am Telefon meldete:

»Falkeid.«

»Hallo, Sivert, hier ist Simon Kefas. Du musst das Delta Team zusammentrommeln und gleich losschlagen. Das Objekt ist die Enerhauggata 96. Wie schnell könnt ihr da sein?«

»Es ist mitten in der Nacht.«

»Danach habe ich nicht gefragt.«

»Fünfunddreißig Minuten. Hast du die Autorisierung des Polizeipräsidenten?«

»Pontius ist im Moment nicht erreichbar«, log Simon. »Aber du kannst ganz ruhig bleiben, die Aktionsgrundlage ist bombensicher. Trafficking. Der Zeitfaktor ist entscheidend. Legt einfach los, ich nehme das auf meine Kappe.«

»Ich hoffe, du weißt, was du tust, Simon.«

Simon legte auf und sah zu dem Arzt hinüber. »Danke, Doktor, ich denke darüber nach. Jetzt muss ich arbeiten.«

Betty hörte die Paarungslaute schon, als sie in der obersten Etage aus dem Fahrstuhl traten.

»Wirklich?«, fragte Betty.

»Pay-TV«, sagte der Sicherheitsassistent, der sie begleitete.

Aus den Nachbarsuiten war eine Beschwerde gekommen, und Betty hatte das routinemäßig im Rezeptionsprotokoll notiert. »02.13 Uhr, Klage wegen Lärms aus Suite 4.« Dann hatte sie in der Suite angerufen, aber niemanden erreicht, so dass ihr nichts anderes übriggeblieben war, als sich an die Sicherheitsabteilung zu wenden.

Sie ignorierten das »Bitte-nicht-stören«-Schild, das draußen am Türknauf hing, und klopften fest an. Warteten. Klopften noch einmal. Betty verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein.

»Sie sehen nervös aus«, sagte der Sicherheitsassistent.

»Ich habe so ein Gefühl, dass der Gast dieser Suite … etwas am Laufen hat.«

»Etwas?«

»Drogen oder was weiß ich.«

Der Sicherheitsassistent löste den Knopf seines Schlagstocks und richtete sich auf, als Betty die Personalkarte in das Schloss steckte und öffnete.

»Herr Lae?«

Das Wohnzimmer war leer. Die Paarungslaute kamen von ­einer Frau in einem roten Lederkorsett mit weißem Kreuz, das vermut­lich andeuten sollte, dass sie Krankenschwester war. Betty nahm die Fernbedienung vom Tisch und schaltete den Fernseher aus, während der Sicherheitsassistent ins Schlafzimmer ging. Die Aktenkoffer waren verschwunden. Sie bemerkte die halbleeren Gläser und auf der Bartheke die angeschnittene Zitrone. Sie war ausgetrocknet, und das Fruchtfleisch hatte sich seltsam braun verfärbt. Betty öffnete die Schranktüren. Auch der Anzug, der große Koffer und die rote Tasche waren verschwunden. Es war der älteste Trick, einfach ein »Bitte-nicht-stören«-Schild an die Tür zu hängen und den Fernseher einzuschalten. So deutete ­alles darauf hin, dass der Gast noch im Zimmer war. Aber er hatte die Suite ja im Voraus bezahlt. Und es gab auch keine unbezahlten Restaurant- oder Barrechnungen, das hatte sie bereits überprüft.

»Im Bad ist jemand.«

Sie drehte sich zu dem Sicherheitsassistenten um, der in der Schlafzimmertür stand. Sie folgte ihm.

Der Mann, der auf dem Badezimmerboden lag, schien sich an die Kloschüssel zu klammern. Bei näherem Hinsehen entdeckte sie aber, dass er mit Plastikstrips an den Handgelenken gefesselt war. Er trug einen schwarzen Anzug, hatte blonde Haare und wirkte nicht nüchtern. Er schien irgendetwas genommen zu haben und blinzelte sie träge an.

»Machen Sie mich los«, sagte er mit einem Akzent, den Betty nicht auf dem Globus platzieren konnte.

Betty nickte dem Sicherheitsassistenten zu, der ein Schweizermesser zückte und die Plastikstrips durchschnitt.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

Der Mann kam auf die Beine, blieb etwas schwankend vor ihnen stehen und versuchte, den Blick zu fokussieren. »Wir haben bloß so ein dummes Spielchen gespielt«, murmelte er. »Ich gehe jetzt …«

Der Sicherheitsassistent baute sich vor ihm in der Tür auf und versperrte ihm den Weg.

Betty sah sich um. Kaputt war nichts. Die Rechnung war bezahlt. Sie hatten lediglich die Beschwerde wegen Lärmbelästigung. Jetzt konnten sie nur noch Ärger mit der Polizei bekommen, Aufsehen in der Presse erregen und sich einen schlechten Ruf als Treffpunkt zwielichtiger Elemente einhandeln. Der Chef hatte sie für ihre Diskretion gelobt und dafür, immer als Erstes an die Interessen des Hotels zu denken. Dass sie es weit bringen könne und die Rezeption für Menschen wie sie nur ein Zwischenstopp sei.

»Lassen Sie ihn gehen«, sagte sie.

Lars Gilberg wachte vom Rascheln der Büsche auf. Er drehte sich um und sah die menschlichen Konturen hinter den Zweigen und Blättern. Jemand versuchte, die Sachen des jungen Mannes zu stehlen. Lars kroch aus dem dreckigen Schlafsack und rappelte sich auf.

»He, du da!«

Die Person erstarrte. Drehte sich um. Der junge Mann sah verändert aus. Nicht nur wegen des Anzugs. Auch sein Gesicht wirkte irgendwie geschwollen.

»Danke, dass du auf meine Sachen aufgepasst hast«, sagte er und blickte auf die Tüte, die er sich unter den Arm geklemmt hatte.

»Hm«, sagte Lars und legte den Kopf zur Seite, um vielleicht so erkennen zu können, was anders war. »Bist du in Schwierigkeiten?«

»Klar doch«, sagte der Mann mit einem Lächeln. Aber irgendwas war hinter diesem Lächeln verborgen. Etwas Blasses. Seine Lippen zitterten. Er sah aus, als hätte er geweint.

»Brauchst du Hilfe?«

»Nein, aber danke.«

»Hm, dann sehen wir uns wohl nicht wieder?«

»Nein, das glaube ich nicht. Leb wohl, Lars.«

»Versprochen. Und du …« Er trat einen Schritt vor und legte dem Mann die Hand auf die Schulter. »Leb lang. Versprichst du mir das auch?«

Der junge Mann nickte schnell. »Guck mal unter dein Kopfkissen«, sagte er.

Lars drehte sich automatisch zu seinem Schlafplatz unter der Brücke um, und als er sich dann wieder zu dem Mann umwandte, sah er ihn gerade noch im Dunkeln verschwinden.

Er ging zurück zu seinem Schlafsack. Sah etwas unter dem Kopfkissen hervorgucken. Er zog es heraus. »Für Lars« stand auf dem Umschlag. Er öffnete ihn.

Lars Gilberg hatte nie zuvor in seinem Leben so viel Geld auf einmal gesehen.

»Sollte Delta nicht langsam hier sein?«, fragte Kari, gähnte und warf einen Blick auf die Uhr.

»Doch«, erwiderte Simon und sah nach draußen. Sie hatten auf halber Höhe in der Enerhauggata geparkt, so dass die Nummer 96 noch gut fünfzig Meter vor ihnen auf der anderen Straßenseite lag. Es war ein weißes zweigeschossiges Holzhaus, ­eines der wenigen, die verschont geblieben waren, als die pit­toreske Holzhausbebauung in den sechziger Jahren vier Hochhäusern hatte weichen müssen. Das kleine Haus stand so still und friedlich in der Sommernacht, dass Simon sich nur schwer ­vorstellen konnte, dass dort Menschen gefangen gehalten wurden.

»›Wir haben ein etwas schlechtes Gewissen‹«, sagte Simon, »›aber ich glaube, Glas und Beton passen besser zu den Menschen unserer Zeit.‹«

»Hä?«

»Das waren die Worte des Direktors der OBOS-Wohnungsbaugenossenschaft, 1960.«

»Ach so«, sagte Kari und gähnte wieder. Simon fragte sich, ob auch er ein etwas schlechtes Gewissen haben sollte, weil er sie mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hatte. Es war durchaus zu diskutieren, ob eine solche Aktion überhaupt nötig war. »War­um ist Delta nicht hier?«, fragte sie.

»Keine Ahnung«, sagte Simon. Im selben Moment erleuchtete das Display des Handys, das zwischen den Sitzen lag, den Wa­gen­innenraum. Er sah die Nummer.

»Gleich wissen wir’s«, sagte er und legte das Telefon ans Ohr. »Ja?«

Simon sah in den Rückspiegel. Ein Psychologe hätte vielleicht erklären können, weshalb jemand als Reaktion auf die Stimme des anderen einen Blick nach hinten warf.

»Warum nicht?«

»Weil der Einsatz weder begründet noch seine Notwendigkeit plausibel belegt worden ist. Außerdem wurde nicht einmal der Versuch unternommen, die Stellen zu erreichen, die einen Einsatz von Delta autorisieren könnten.«

»Du kannst das autorisieren, Pontius.«

»Ja, und ich habe nein gesagt.«

Simon fluchte leise. »Hör mal, das …«

»Nein, jetzt hörst du mir mal zu! Ich habe Falkeid gebeten, die Aktion abzubrechen, seine Männer sollen ruhig etwas Schlaf ­bekommen. Was treibst du eigentlich, Simon?«

»Ich habe Grund zur Annahme, dass in dem Haus Enerhauggata 96 Menschen gefangen gehalten werden. Ehrlich gesagt, Pontius, das …«

»Ehrlich gesagt, ist gut, Simon. Auch wenn man mit dem Leiter von Delta spricht.«

»Wir hatten nicht die Zeit für Diskussionen. Wir haben überhaupt keine Zeit. Verdammt! Du hast doch früher meiner Einschätzung vertraut.«

»Gut, dass du früher gesagt hast, Simon.«

»Dann vertraust du mir nicht mehr?«

»Du hattest all dein Geld verspielt, erinnerst du dich? Und das Geld deiner Frau. Was meinst du, sagt das über deine Einschätzungsgabe aus?«

Simon biss die Zähne zusammen. Es gab einmal eine Zeit, in der nicht vorherbestimmt war, wer eine Auseinandersetzung gewann. Wer die besten Noten erhielt, am schnellsten rannte oder die hübschesten Mädchen für sich gewinnen konnte. Damals war nur sicher gewesen, dass sie hinter dem Dritten der Troika landeten. Aber der war jetzt tot. Und dass Pontius Parr immer über alles am längsten nachdachte.

»Wir reden morgen früh darüber«, sagte der Polizeipräsident mit dem natürlichen Selbstvertrauen, das die Menschen heute zu dem Glauben verleitete, Pontius Parr wisse über alles am besten Bescheid. Auch über sich selbst. »Wenn das ein Traffickinghaus ist, wie es in deinem Tipp heißt, wird das morgen früh ja auch noch so sein. Fahr nach Hause und schlaf dich aus.«

Simon öffnete die Autotür, stieg aus und signalisierte Kari sitzen zu bleiben. Er schloss die Tür, ging ein paar Meter nach hinten und sagte leise:

»Ich kann nicht warten. Das eilt, Pontius.«

»Wieso glaubst du das?«

»Der Tipp.«

»Und wo hast du den her?«

»Eine SMS … von einem Unbekannten. Ich gehe selbst rein.«

»Was? Das kommt überhaupt nicht in Frage! Stopp, Simon. Hast du verstanden? Bist du noch da?«

Simon warf einen Blick auf sein Handy und legte es wieder ans Ohr. »Einschätzung des Polizisten vor Ort. Erinnerst du dich noch, dass wir das mal gelernt haben, Pontius? Und dass das immer entscheidender war als der Befehl von Außenstehenden?«

»Simon! Es herrscht schon genug Chaos in der Stadt. Der Senat und die Presse rücken uns wegen all dieser Morde verdammt auf die Pelle. Bring jetzt keine Lawine ins Rollen, okay? Simon?«

Simon legte auf, schaltete das Handy aus und öffnete den ­Kofferraum. Er nahm das Gewehr heraus, die Pistole und die Schachtel mit der Munition. Dann griff er sich die beiden schusssicheren Westen, die lose im Kofferraum lagen, und stieg wieder ein.

»Wir gehen rein«, sagte er und reichte Kari das Gewehr und eine Weste.

Sie sah ihn an. »Haben Sie mit dem Polizeipräsidenten gesprochen?«

»Ja«, sagte Simon und überprüfte, ob das Magazin der Glock 17 gefüllt war, bevor er es wieder in den Schaft drückte. »Können Sie mir die Handschellen und die Blendgranate geben? Sie liegen im Handschuhfach.«

»Eine Blendgranate?«

»Fallobst von der Razzia im Ila.«

Sie reichte Simon die Peerless-Handschellen und die Granate. »Hat er den Einsatz genehmigt?«

»Er ist einverstanden«, sagte Simon und zog sich die Weste über.

Kari klappte das Schrotgewehr auf und lud es schnell und routiniert.

»Schneehuhnjagd«, sagte sie, »seit ich neun war.« Sie hatte ganz offensichtlich Simons Blick bemerkt. »Aber die anderen Gewehre mag ich lieber. Wie machen wir es?«

»Auf drei«, sagte Simon.

»Ich meine, wie greifen wir an …«

»Drei«, sagte Simon und öffnete die Autotür.

Das kleine Hotel Bismarck lag mitten in Oslo, im Herzen von Kvadraturen, dem Geburtsort der Stadt, an der Straßenkreuzung zwischen Drogen- und Prostitutionsmarkt. Die Zimmer wurden folglich auf Stundenbasis vermietet, inklusive vom vielen Waschen steif gewordener Handtücher. Die Zimmer waren nicht mehr renoviert worden, seit der jetzige Besitzer das Hotel vor sechzehn Jahren übernommen hatte, nur die Betten wurden alle zwei Jahre wegen akuter Abnutzungserscheinungen ausgetauscht.

Als der Sohn des Besitzers, Ola, der seit seinem sechzehnten Lebensjahr an der Rezeption saß, um 03.02 Uhr vom PC aufblickte und den Mann vor dem Tresen musterte, war sein erster Gedanke, dass dieser Gast sich verlaufen haben musste. Nicht nur, weil er einen teuren Anzug trug und zwei Aktenkoffer, außerdem noch eine rote Tasche in der Hand hielt, sondern auch, weil er weder in männlicher noch in weiblicher Begleitung war. Der Mann bestand aber auf einem Zimmer und wollte eine Woche im Voraus bezahlen. Dann nahm er mit fast demütigem Dank das Handtuch, das Ola ihm reichte, und verschwand über die Treppe nach oben.

Ola widmete sich daraufhin wieder der Online-Ausgabe der Aftenposten und las den Artikel über die Mordwelle in Oslo. Diskutiert wurde wieder einmal die Frage, ob es sich um einen Bandenkrieg handelte oder ob die Vorfälle etwas mit dem Mörder zu tun haben konnten, der aus dem Staten ausgebrochen war. Einen Moment zögerte Ola bei dem Bild, dann wies er den Gedanken von sich.

Simon blieb vor der Treppe des Hauses stehen und gab Kari das Zeichen, ihre Waffe zu ziehen und die Fenster im Obergeschoss im Auge zu behalten. Dann ging er die drei Stufen nach oben, klopfte mit dem Zeigefingerknöchel vorsichtig an die Tür und flüsterte »Polizei«. Er sah zu Kari, um sich zu vergewissern, dass sie die korrekte Prozedur bezeugen konnte. Klopfte und flüsterte noch einmal »Polizei«. Er legte die Finger fester um den Schaft der Waffe und beugte sich zur Seite, um die Scheibe neben der Tür einzuschlagen. Die Blendgranate hielt er bereits in der anderen Hand. Er hatte einen Plan. Natürlich hatte er einen Plan. Eine Art Plan. Und in diesem Plan kam es in erster Linie auf das Überraschungsmoment und ihre Schnelligkeit an. Sie mussten alles auf eine Karte setzen. Wie Simon es immer getan hatte, und das war, nach Meinung des jungen Psychologen, seine Krankheit. Nach neuen Forschungsergebnissen überschätzten die Menschen ständig die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Unwahrscheinliches geschehen konnte … Zum Beispiel, dass man bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Dass das eigene Kind vergewaltigt oder auf dem Schulweg entführt wurde, oder dass das Pferd, auf das man das Ersparte seiner Frau gesetzt hatte, zum ersten Mal in seiner Karriere komplett versagte. Der Psychologe war seinerzeit überzeugt davon gewesen, dass es in Simons Unterbewusstsein etwas gab, das stärker war als die Vernunft, und dass er dieses Kranke, diesen verrückten Dik­tator, der ihn terrorisierte und sein Leben zerstörte, nur identifizieren und ansprechen musste. Simon sollte sich immer darüber im Klaren sein, was in seinem Leben wirklich wichtig war. Wichtiger als dieser Diktator. Was er mehr liebte als das Spiel. Schließlich gab es das ja. Else. Und er hatte es geschafft. Hatte über das Tier gesprochen, das Übel, und es gezähmt. Ohne einen einzigen Ausrutscher. Bis jetzt.

Er hielt die Luft an. Wollte mit der Pistole das Glas einschlagen, als die Tür aufging.

Simon wirbelte mit der Pistole in der Hand herum. Aber er war nicht so schnell, wie er es sonst war. Chancenlos. Das heißt, er wäre chancenlos gewesen, hätte der Mann, der vor ihm in der Tür stand, eine Waffe gehabt.

»Guten Abend«, sagte der Mann ganz einfach.

»Guten Abend«, erwiderte Simon und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. »Polizei.«

»Womit kann ich Ihnen dienen?« Der Mann öffnete weit die Tür. Er war vollständig angezogen. Enge Jeans. T-Shirt. Nackte Füße. Keine Stelle, an der er eine Waffe verbergen konnte.

Simon steckte die Granate in die Tasche und zeigte seinen Ausweis. »Ich muss Sie bitten, vors Haus zu treten und sich an die Wand zu stellen. Jetzt.«

Der Mann zuckte ruhig mit den Schultern und tat, was Simon sagte.

»Wie viele Leute sind im Haus, abgesehen von den Mädchen?«, fragte Simon, während er bei einer raschen Durchsuchung feststellte, dass der Mann unbewaffnet war.

»Was für Mädchen? Ich bin allein. Worum geht es denn?«

»Zeigen Sie mir, wo sie sind«, sagte Simon, legte dem Mann Handschellen an, schob ihn vor sich her und signalisierte Kari, dass sie mitkommen sollte. Der Mann sagte etwas.

»Was?«, fragte Simon.

»Ihre Kollegin darf gerne mit ins Haus kommen, ich habe nichts zu verbergen.«

Simon blieb hinter dem Mann stehen. Starrte auf seinen ­Nacken und sah das leichte Zittern, wie bei einem nervösen Pferd.

»Kari?«, rief Simon.

»Ja?«

»Bleiben Sie doch draußen. Ich gehe allein rein.«

»Okay.«

Simon legte eine Hand auf die Schulter des Mannes. »Gehen Sie langsam ins Haus. Keine schnellen Bewegungen, ich habe eine Waffe auf Ihren Rücken gerichtet.«

»Was ist denn …«

»Finden Sie sich damit ab, dass wir Sie vorerst für einen Kri­minellen halten, auf den geschossen werden darf, eine vorbehaltlose Entschuldigung von uns können Sie später noch kriegen.«

Der Mann ging ohne weitere Proteste über den Flur. Simon registrierte automatisch die Dinge, die darauf hinweisen konnten, was ihn erwartete. Vier Paar Schuhe auf dem Boden. Also wohnte der Mann nicht allein im Haus. Eine Plastikschale mit Wasser und ein kleiner Teppich neben der Küchentür.

»Was ist mit dem Hund?«, fragte Simon.

»Welchem Hund?«

»Trinken Sie aus dem Napf?«

Der Mann antwortete nicht.

»Hunde haben die Angewohnheit zu bellen, wenn sich Fremde dem Haus nähern. Also ist das entweder ein schlechter Wachhund oder …«

»Er ist im Zwinger. Wohin wollen Sie denn?«

Simon sah sich um. Die Fenster waren nicht vergittert, und die Eingangstür hatte nur ein einfaches Schloss und eine Klinke auf der Außenseite. Hier wurde niemand gefangen gehalten.

»In den Keller«, sagte Simon.

Der Mann zuckte mit den Schultern. Ging weiter über den Flur. Simon war klar, dass er ins Schwarze getroffen hatte, als der Mann zwei Schlösser aufschloss.

Der Geruch, den Simon schon auf der Treppe wahrnahm, bestätigte, was er schon wusste. Hier hielten sich Menschen auf. Viele Menschen. Er umklammerte seine Pistole noch fester.

Aber es war niemand da.

»Wozu haben Sie die hier?«, fragte Simon, als sie an den Kellerverschlägen vorbeigingen, die anstelle von Holzwänden Stahlgitter hatten.

»Ach, nicht für viel«, sagte der Mann. »Der Hund wohnt manchmal hier unten. Und wie Sie sehen, bewahren wir hier ein paar Matratzen auf.«

Der Geruch war unten noch stärker. Die Mädchen mussten also noch bis vor kurzem hier gewesen sein. Verflucht, sie kamen zu spät. Andererseits musste es möglich sein, aus den Ma­tratzen biologische Spuren zu gewinnen. Nur was bewies das? Dass jemand die Matratzen benutzt hatte, bevor sie in den Keller gebracht worden waren?

Eigentlich wäre es seltsam, wenn man an alten Matratzen keine DNA fand. Sie hatten also nichts. Nur einen nicht genehmigten Einsatz. Verdammter Mist. Verdammter …

Simon sah einen kleinen Schuh ohne Schnürsenkel neben einer Tür auf dem Boden liegen.

»Wohin führt diese Tür?«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Nur zum Parkplatz.«

Nur. Dieser Mann wollte ihm einreden, wie unbedeutend diese Tür war. Ebenso beiläufig hatte er vorgeschlagen, dass Kari mit ins Haus kam.

Simon ging zu der Tür, öffnete sie und starrte auf die weiße Seite eines Lieferwagens. Er stand auf der asphaltierten Straße zwischen dem Haus und seinem Nachbarhaus.

»Wozu brauchen Sie den?«, fragte Simon.

»Ich bin Elektriker«, sagte der Mann.

Simon ging ein paar Schritte zurück. Bückte sich und hob den Turnschuh vom Kellerboden auf. Größe sechsunddreißig, vielleicht. Kleiner als Elses Schuhe. Er schob die Hand hinein, der Schuh war noch warm. Seine Besitzerin konnte ihn erst vor wenigen Minuten verloren haben. Im selben Moment hörte er ein Geräusch. Gedämpft, wie aus einem verschlossenen Raum, aber eindeutig. Bellen. Simon starrte auf den Lieferwagen. Als er sich aufrichten wollte, bekam er einen Tritt in die Seite und stürzte zu Boden. Der Mann schrie: »Fahr! Fahr los!«

Simon gelang es, sich umzudrehen. Er richtete die Pistole auf den Mann, aber sein Gegenüber hatte sich bereits auf die Knie fallen lassen und die Hände hinter den Kopf gelegt, lieferte sich widerstandslos aus. Der Motor des Wagens startete, die Drehzahl nahm zu, die Reifen quietschten. Simon wandte sich in die andere Richtung und sah Köpfe im Fahrerhäuschen. Vermutlich waren sie vorher abgetaucht, um nicht gesehen zu werden.

»Stopp! Polizei!« Simon versuchte, sich aufzurappeln, aber er hatte fürchterliche Schmerzen, der Kerl musste ihm eine Rippe geprellt haben. Und noch ehe Simon seine Waffe in Anschlag hatte, fuhr der Wagen los und war aus seiner Position nicht mehr zu sehen. Verdammte Scheiße!

Dann knallte es. Glas splitterte.

Das Heulen des Motors verstummte.

»Sie bleiben hier«, sagte Simon, kam stöhnend auf die Beine und taumelte durch die Tür.

Der Lieferwagen war stehen geblieben. Aus dem Inneren kamen Schreie und wildes Hundegebell.

Was sich jedoch in Simons Netzhaut einbrannte, befand sich vor dem Lieferwagen. Kari Adel in einem langen schwarzen ­Ledermantel, im Schweinwerferlicht des Lieferwagens ohne Windschutzscheibe. Den Schaft der Flinte in der Achselhöhle, Unterhandgriff, während aus dem Lauf noch immer Rauch quoll.

Simon trat an die Seite des Wagen und riss die Fahrertür auf: »Polizei!«

Der Mann auf dem Fahrersitz antwortete nicht, sondern starrte schockiert nach vorn, während das Blut ihm aus dem Haaransatz sickerte. Sein Schoß lag voller Glassplitter. Simon unterdrückte seine Schmerzen und zog den Mann nach draußen. »Gesicht auf den Boden und Hände über den Kopf! Sofort!«

Simon ging um den Wagen herum, holte den ebenso apathischen Mann auf dem Beifahrersitz aus dem Wagen und beorderte ihn ebenfalls auf den Boden.

Anschließend stellten Simon und Kari sich vor die Seitentür des Laderaums. Sie hörten das Knurren und Bellen des Hundes. Simon packte den Türgriff, und Kari stellte sich mit angelegter Schrotflinte neben ihn.

»Der hört sich groß an«, sagte Simon. »Vielleicht sollten Sie einen Meter zurücktreten.«

Sie nickte und tat, was er sagte. Dann öffnete er.

Das weiße Monster schoss aus dem Wagen und flog mit weit aufgerissener Schnauze auf Kari zu. Das alles geschah so schnell, dass sie es nicht schaffte, die Waffe abzufeuern, trotzdem schlug das Tier vor ihr auf den Boden und blieb liegen.

Simon blickte verblüfft auf seine eigene rauchende Pistole.

»Danke«, sagte Kari.

Sie drehten sich zum Auto um. Aus dem Wageninneren starrten sie ängstliche Gesichter mit weit aufgerissenen Augen an.

»Police«, sagte Simon, fügte dann aber rasch »good police« hinzu, weil er sah, dass seine erste Äußerung nicht nur als gute Nachricht aufgefasst wurde. »We will help you.«

Er nahm das Telefon, wählte eine Nummer, legte es ans Ohr und sah Kari an.

»Können Sie die Einsatzzentrale anrufen und sie bitten, ein paar Streifenwagen zu schicken?«

»Und wen rufen Sie an?«

»Die Presse.«


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