Kapitel 4

Simon Kefas führte die Kaffeetasse zum Mund. Vom Küchentisch aus blickte er in den kleinen Garten vor dem Haus im Fagerliveien in Disen. In der Nacht hatte es geregnet, und das Gras glänzte in der Morgensonne. Er glaubte fast, es wachsen sehen zu können. Bald schon würde er wieder den Rasenmäher hervorholen. Dieses alte, mechanische Teil, das einem jedes Mal aufs Neue die Laune vermieste und den Schweiß auf die Stirn trieb. Aber sei’s drum. Else hatte ihn gefragt, warum er nicht wie die Nachbarn einen elektrischen Rasenmäher kaufte. Seine Antwort war simpel gewesen: Diese Dinger kosteten Geld. Ein Argument, mit dem in seiner Kindheit und Jugend die meisten Auseinandersetzungen entschieden worden waren, in diesem Haus und im ganzen Viertel. Doch damals hatten hier auch noch normale Leute gewohnt. Lehrer, Friseure, Taxifahrer, Angestellte im Öffentlichen Dienst. Oder Polizisten, wie er selbst. Nicht, dass die Leute heute nicht normal waren, aber sie arbeiteten in der Werbung, waren IT-Spezialisten, Journalisten, Ärzte, hatten Agen­turen für die seltsamsten Sachen oder so viel Geld geerbt, dass sie sich eines der kleinen idyllischen Häuschen leisten und die Preise damit noch weiter in die Höhe treiben konnten. Das Viertel war dadurch auf der sozialen Rangliste deutlich gestiegen.

»An was denkst du?«, fragte Else, die hinter ihn getreten war und ihm über die Haare strich. Dünner waren sie geworden, und bei ungünstigem Licht schimmerte manchmal sogar die Kopfhaut durch. Else behauptete aber, das zu mögen. Es gefiel ihr, dass er der war, der er war, und auch äußerlich dazu stand: ein bald pensionierter Polizist. Auch sie würde älter werden, seinen Vorsprung von mehr als zwanzig Jahren allerdings nie einholen. Einer der neu hinzugezogenen Nachbarn, ein halbprominenter Filmproduzent, hatte geglaubt, sie wäre Simons Tochter. Na klasse.

»Ich denke darüber nach, was ich für ein Glück habe«, sagte er. »Mit dir. Mit dem hier.«

Sie küsste ihn mitten auf den Kopf, und er spürte ihre Lippen auf seiner Kopfhaut. In der letzten Nacht hatte er geträumt, er könnte ihr sein Augenlicht schenken. Und als er wach geworden war und nichts gesehen hatte, war er eine Sekunde lang ein glücklicher Mann gewesen. Dann war ihm klargeworden, dass er noch die Schlafbrille trug, die er in den hellen Sommernächten immer aufsetzte.

Es klingelte.

»Das ist Edith«, sagte Else. »Ich gehe mich umziehen.«

Sie öffnete ihrer Schwester und verschwand nach oben.

»Hallo, Onkel Simon!«

»He, wer kommt denn da?«, sagte Simon und sah in das vor Erwartung strahlende Gesicht eines Jungen.

Edith kam in die Küche. »Tut mir leid, Simon, aber er hat mich so bedrängt, ein bisschen früher zu kommen, damit er noch Zeit hat, deine Mütze aufzusetzen.«

»Klar«, sagte Simon. »Aber solltest du heute nicht in der Schule sein, Mats?«

»Planungskonferenz«, seufzte Edith. »Die haben ja keine Ahnung, was das für eine alleinerziehende Mutter dann wieder bedeutet.«

»Umso netter von dir, dass du angeboten hast, Else zu fahren.«

»Das ist doch wohl das mindeste. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist er ja nur heute und morgen in Oslo.«

»Wer?«, fragte Mats und zerrte am Arm seines Onkels, damit dieser endlich aufstand.

»Ein amerikanischer Arzt, der sich sehr gut mit Augen auskennt«, sagte Simon und tat beim Aufstehen so, als wäre er noch steifer, als er es in Wirklichkeit war. »Komm, dann gucken wir mal, ob wir hier irgendwo eine richtige Polizeimütze finden. Nimmst du dir einen Kaffee, Edith?«

Die beiden gingen in den Flur. Als Simon die schwarzweiße Uniformmütze vom Schrank nahm, stieß Mats einen Freudenschrei aus. Er verstummte aber gleich wieder andächtig, als sein Onkel ihm die Mütze auf den Kopf setzte. Sie standen vor dem Spiegel. Der Junge zielte mit dem Zeigefinger auf Simons Spiegelbild und ahmte mit dem Mund Schüsse nach.

»Auf wen schießt du?«

»Auf Banditen!«, zischte der Junge. »Pchiu! Pchiu!«

»Schieß lieber auf eine Zielscheibe«, sagte Simon. »Die Polizei schießt nicht auf Banditen, wenn es nicht unbedingt nötig ist.«

»Doch! Pchiu! Pchiu!«

»Du, dafür würden wir ins Gefängnis kommen, Mats!«

»Wir?« Der Junge hielt inne und sah seinen Onkel verwundert an. »Warum denn? Wir sind doch die Polizei.«

»Wir sind nicht besser als die Banditen, wenn wir sie einfach erschießen, statt sie festzunehmen.«

»Aber … aber wenn wir sie gefangen haben, dann dürfen wir doch wohl auf sie schießen, oder?«

Simon lachte. »Nein. Dann erst recht nicht, dann entscheidet ein Richter darüber, wie lange die Verbrecher ins Gefängnis müssen.«

»Ich dachte, du würdest das entscheiden, Onkel Simon?«

Simon sah die Enttäuschung in den Augen des Jungen. »Weißt du was, Mats? Ich bin ganz glücklich darüber, dass ich das nicht zu entscheiden habe. Ich bin froh, sie nur fangen zu müssen. Denn das ist der wirklich spannende Teil der Arbeit.«

Mats kniff ein Auge zu, und die Mütze rutschte ihm in den ­Nacken.

»Du, Onkel Simon …«

»Ja?«

»Warum haben du und Tante Else eigentlich keine Kinder?«

Simon stellte sich hinter seinen Neffen, legte ihm die Hände auf die Schultern und lächelte ihn im Spiegel an. »Wir brauchen keine Kinder, wir haben doch dich. Oder?«

Mats sah seinen Onkel ein paar Sekunden lang nachdenklich an. Dann öffnete sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Okay!«

Simon schob die Hand in die Tasche und holte das Handy hervor, das zu vibrieren begonnen hatte.

Es war die Einsatzzentrale. Simon hörte zu.

»Wo am Akerselva?«, fragte er.

»Oberhalb vom Kuba, an der Kunsthochschule. Da ist eine Brücke …«

»Ich weiß, wo die ist«, sagte Simon. »Ich bin in dreißig Minuten da.«

Simon zog sich gleich im Flur die Schuhe an und warf sich das Sakko über.

»Else!«, rief er.

»Ja?« Ihr Gesicht kam oben an der Treppe zum Vorschein. Wieder war er von ihrer Schönheit beeindruckt. Ihre langen roten Haare umspülten das kleine blasse Gesicht wie ein Fluss. Die Sommersprossen auf der winzigen Nase … würde sie vermutlich auch noch haben, wenn es ihn nicht mehr gab, dachte er. Wieder meldete sich der Gedanke, den er immer zu vermeiden suchte: Und wer kümmerte sich dann um sie? Er wusste, dass sie ihn von dort, wo sie stand, vermutlich gar nicht sehen konnte. Sie tat nur so als ob. Er räusperte sich.

»Ich muss los, Liebes. Rufst du mich an und erzählst mir, was der Doktor gesagt hat?«

»Ja, mache ich. Fahr vorsichtig.«

Die beiden älteren Polizisten gingen durch die parkähnliche Anlage, die im Volksmund nur Kuba hieß. Die meisten glaubten, der Name habe etwas mit dem Land zu tun. Vielleicht weil hier früher politische Versammlungen stattgefunden hatten und Grünerløkka immer schon ein Arbeiterviertel gewesen war. Man musste schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben, um die wahre Herkunft des Namens zu kennen, denn hier hatte einmal ein großer Gasbehälter gestanden, mit einem Überbau in Form eines Kubus.

Die Männer gingen über die Brücke, die zu den alten Fabrikgebäuden führte, in denen die Kunsthochschule untergebracht war. An dem Gitter des Geländers hingen Vorhängeschlösser mit Datum und den Initialen der Liebenden. Simon blieb stehen und sah sich eines davon genauer an. Er hatte Else jeden Tag der zehn Jahre, die sie zusammen waren, geliebt. Mehr als dreieinhalbtausend Tage. In seinem Leben würde es keine andere Frau mehr geben, um das zu wissen, brauchte er kein symbolisches Vorhängeschloss. Und sie auch nicht. Wobei er insgeheim hoffte, dass sie ihn so lange überlebte, dass in ihrem Leben noch reichlich Zeit für neue Männer war, wenn er erst einmal Platz gemacht hatte.

Von ihrem Standort aus sahen sie weiter oberhalb die Åmotbrua, eine bescheidene Brücke über einem bescheidenen Fluss, der die bescheidene Hauptstadt in Ost und West teilte. Vor langer Zeit, als er noch jung und dumm gewesen war, hatte er sich einmal von dieser Brücke kopfüber ins Wasser gestürzt. Drei besoffene Jungs, von denen zwei einen unerschütterlichen Glauben an sich selbst und die Zukunft hatten und davon überzeugt waren, der Beste von ihnen Dreien zu sein. Der Dritte im Bunde, er selbst, hatte schon damals erkannt, dass er mit den anderen nicht mithalten konnte. Weder an Intelligenz noch an Stärke, auch nicht, was Beziehungen anging, oder in Sachen Frauen. Aber er war der Mutigste. Man hätte auch sagen können, der Risikofreudigste. Es brauchte keinen großen Intellekt oder besondere körperliche Fähigkeiten, um von einer Brücke in dreckiges Wasser zu springen. Allenfalls eine gewisse Dummdreistigkeit. Simon Kefas hatte oft gedacht, dass sein jugendlicher Pessimismus seine Chance gewesen war. Er hatte ihm die Kraft gegeben, um die Zukunft zu spielen, die er nicht wirklich hochschätzte. Er hatte weniger zu verlieren als die anderen, alles auf eine Karte gesetzt und war so lange auf dem Geländer stehen geblieben, bis die beiden anderen geschrien hatten, er solle das nicht tun, er sei wahnsinnig. Und dann war er gesprungen. Von der Brücke, aus dem Leben, hinein in das surrende Kasinorad namens Schicksal. Er war ins Wasser eingetaucht, in den weißen Schaum, und war von der Kälte umarmt worden. Und in dieser Umarmung hatten Stille, Einsamkeit und Frieden gelegen. Und als er unverletzt wieder an die Oberfläche gekommen war, hatten sie gejubelt. Auch Simon selbst. Obwohl er schon ein bisschen enttäuscht war, wieder zurück zu sein. Was Liebeskummer doch mit einem jungen Mann anstellen konnte.

Simon schüttelte die Erinnerungen ab und richtete seinen Blick auf den Wasserfall zwischen den beiden Brücken. Genauer gesagt, auf die Gestalt, die darin hing, als wäre sie im Wasser festgefroren, wie auf einer Fotografie.

»Vermutlich hat die Strömung ihn mitgerissen«, sagte der Kriminaltechniker neben Simon. »Und dann haben seine Kleider sich an irgendetwas in dem Wasserfall verhakt. Der Fluss ist ja überall so flach, dass man ihn durchwaten kann.«

»Gut möglich«, sagte Simon, saugte an dem Päckchen Snus, das unter seiner Oberlippe steckte, und legte den Kopf schief. Die Gestalt hing falsch herum, die Arme zur Seite, während das Wasser wie ein Strahlenkranz ihren Kopf und Körper umspülte. Wie Elses Haare, dachte er.

Die Spurensicherung hatte endlich ein Boot zu Wasser gelassen und versuchte den Toten aus dem Wasserfall zu befreien.

»Ich wette um ein Bier, dass das ein Selbstmord ist.«

»Keine Chance, Elias«, sagte Simon, schob den Zeigefinger unter die Oberlippe und fischte das Snuspäckchen heraus. Er wollte es unter sich fallen lassen, ins Wasser, hielt sich aber im letzten Augenblick zurück. Neue Zeiten. Er sah sich nach einem Abfalleimer um.

»Dann hältst du dagegen?«

»Nein, Elias, ich wette nicht um Bier.«

»Oh, sorry, das hatte ich ganz vergessen …« Der Kriminaltechniker sah betreten zu Boden.

»Schon okay«, sagte Simon und ließ ihn stehen. Im Vorbei­gehen nickte er einer großen blonden Frau zu. Sie trug einen schwarzen Rock und eine kurze schwarze Jacke. Ohne den Polizeiausweis, der an einem Band um ihren Hals hing, hätte er sie sicher für eine Bankerin gehalten. Er warf das Snuspäckchen in den grünen Abfalleimer am Ende der Brücke, ging zum Fluss hin­unter und folgte dem Ufer, den Blick konzentriert auf den Boden gerichtet.

»Hauptkommissar Simon Kefas?«

Elias blickte auf. Die Frau, die ihn angesprochen hatte, sah genau so aus, wie sich Ausländer immer skandinavische Frauen vorstellten. Sie schien sich selbst für recht groß zu halten, denn sie stand leicht vornübergebeugt und trug keine Absätze.

»Nein, wer will das wissen?«

»Kari Adel.« Sie hielt ihm den Ausweis hin, den sie um den Hals trug. »Ich bin neu bei der Mordkommission, man hat mir gesagt, ich würde ihn hier finden.«

»Willkommen. Was wollen Sie von Simon?«

»Er soll mich einweisen, mir zeigen, wie man bei so einem Fall vorgeht.«

»Oh, da kann ich Ihnen nur gratulieren«, sagte Elias und zeigte auf einen kleinen Mann, der am Flussufer entlangging. »Da drüben ist Ihr Mann.«

»Nach was sucht er?«

»Spuren.«

»Die sollten doch wohl eher oberhalb am Flussufer zu finden sein und nicht unterhalb.«

»Ja, er nimmt wohl an, dass wir da schon geschaut haben. Womit er recht hat.«

»Die Techniker tippen auf Selbstmord?«

»Ja, ich habe den Fehler gemacht, mit ihm darum zu wetten. Um ein Bier.«

»Fehler?«

»Er ist süchtig«, sagte Elias. »War süchtig.« Als er die hochgezogenen Augenbrauen der Frau sah, fügte er hinzu: »Das ist kein Geheimnis. Und nicht unwichtig, wenn Sie zusammenarbeiten sollen.«

»Mir hat niemand gesagt, dass ich mit einem Alkoholiker zusammenarbeiten muss.«

»Nicht Alkoholiker«, sagte Elias. »Er war spielsüchtig.«

Sie schob die blonden Haare hinter ein Ohr zurück und kniff ein Auge zusammen. »Was für ein Spiel?«

»Egal. Hauptsache, man kann dabei verlieren. Aber wenn Sie seine neue Partnerin sind, werden Sie noch oft genug Gelegenheit haben, ihn danach zu fragen. Wo waren Sie vorher?«

»Im Drogendezernat.«

»Na ja, dann kennen Sie sich hier am Fluss ja bestens aus.«

»Stimmt.« Sie sah blinzelnd zu dem Toten hinüber. »Kann natürlich auch ein Drogenmord gewesen sein, wobei der Fundort dann nicht passen würde. So weit oben verkaufen die keine harten Drogen mehr, dafür muss man runter hinter den Schous plass oder die Nybrua. Und wegen Hasch wird in der Regel niemand umgebracht.«

»Schon klar«, sagte Elias und nickte in Richtung Boot. »Jetzt haben sie ihn abgehängt. Wenn der einen Ausweis dabeihat, wissen wir gleich, wer es ist …«

»Ich weiß, wer das ist«, sagte Kari Adel. »Der Gefängnispastor. Per Vollan.«

Elias musterte sie. Sie würde sicher bald die Bürokluft ablegen und wie alle anderen herumlaufen. Vielleicht hatte sie ja nur zu viele amerikanische Fernsehserien gesehen. Abgesehen von den Klamotten hatte sie was. Vielleicht war sie ja eine von denen, die tatsächlich blieben. Eine der wenigen. Aber das hatte er auch schon von anderen gedacht. Also abwarten.


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