Kapitel 19

»So, so, du bist jetzt also beim Morddezernat«, sagte Fredrik und lächelte hinter seiner Sonnenbrille. Der Schriftzug am Gestell war so klein, dass man schon Simons Falkenblick brauchte, um ihn zu erkennen. Und ein größeres Markenwissen, als Simon es hatte, um einschätzen zu können, wie exklusiv sie war. Aber aus Fredriks Hemd, seiner Krawatte, den manikürten Fingernägeln und dem neuen Haarschnitt schloss er, dass wohl auch die Brille teuer gewesen war. Aber trug man jetzt wirklich braune Schuhe zu hellgrauen Anzügen?

»Ja«, sagte Simon blinzelnd. Er hatte sich in den Wind gesetzt, die Sonne im Rücken, aber das Licht wurde von der neuen Glasfassade auf der anderen Seite des Kanals reflektiert. Simon hatte Fredrik zum Mittagessen eingeladen, aber die Idee, in das japanische Restaurant in Tjuvholmen im Zentrum des Finanzviertels zu gehen, war nicht seine gewesen.

»Und du verwaltest jetzt das Geld von Leuten, die so reich sind, dass sie keine Lust mehr haben, sich selbst darum zu kümmern?«

Fredrik lachte. »So in etwa, ja.«

Der Kellner hatte ihnen beiden einen kleinen Teller mit etwas Quallenartigem gebracht. Simon fragte sich, ob dieses Ding wirklich eine kleine Qualle war. In Tjuvholmen war Sushi wohl so normal wie andernorts eine Pizza.

»Und, vermisst du auch das Wirtschaftsdezernat?« Simon trank einen Schluck Wasser. Angeblich Gletscherwasser, das in Voss abgefüllt und in die USA exportiert worden war, um es von dort wieder zurück nach Norwegen zu importieren. Gereinigt von all den wichtigen Mineralien, die der Körper brauchte, und die man in dem ebenso sauberen wie wohlschmeckenden Wasser fand, das aus jedem Wasserhahn kam. Sechzig Kronen die Flasche. Simon hatte jeden Versuch aufgegeben, den Markt zu verstehen. Oder die Psychologie dahinter und das Machtspiel. Fredrik war da ganz anders. Er verstand all das und mischte eifrig mit. Wohl schon immer, fürchtete Simon. Er war wie Kari zu gut ausgebildet, zu ehrgeizig und wusste zu gut, was zu seinem Besten war, als dass sie ihn hätten halten können.

»Manchmal vermisse ich die Kollegen und die Aufregung.« Fredrik log. »Aber nicht die Schwerfälligkeit und Bürokratie. Wahrscheinlich hast du auch deshalb aufgehört, oder?«

Er führte sein Glas so schnell an den Mund, dass Simon sein Gesicht nicht lesen konnte. Wusste er wirklich nichts, oder tat er nur so? Der ganze Ärger hatte ja gleich nach Fredriks Wechsel auf die andere Seite angefangen. Auf die Seite des Feindes, wie viele dachten. Dabei hatte auch Fredrik an dem Fall gearbeitet. Andererseits war es durchaus möglich, dass er gar keine Verbindung mehr zur Polizei hatte.

»In etwa«, sagte Simon.

»Mord ist eine viel klarere Nummer, da geht es gleich zur Sache.« Fredrik sah diskret auf seine Uhr.

»Apropos gleich zur Sache«, sagte Simon. »Ich wollte mit dir reden, wegen eines Kredits. Meine Frau braucht eine Augenoperation. Else, du erinnerst dich?«

Fredrik kaute auf der Qualle herum und machte ein Geräusch, das ebenso gut »ja« wie »nein« bedeuten konnte.

Simon wartete.

»Tut mir leid, Simon, wir investieren das Geld unserer Kunden nur in Eigenkapital über die entsprechenden Gesellschafter oder in staatlich gesicherte Obligationen, nie in Kredite auf dem privaten Markt.«

»Das weiß ich. Ich bin zu dir gekommen, weil ich nicht die üblichen Sicherheiten habe.«

Fredrik wischte sich vorsichtig die Mundwinkel ab und legte die Serviette auf den Teller. »Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann. Eine Augenoperation, sagst du? Hört sich ernst an.«

Der Kellner kam, nahm Fredriks Teller und sah Simon fragend an, der sein Essen nicht angerührt hatte. Simon gab ihm zu verstehen, dass er den Teller mitnehmen konnte.

»Hat’s dir nicht geschmeckt?«, fragte Fredrik und bat mit ein paar Worten, die möglicherweise Japanisch waren, um die Rechnung.

»Weiß nicht, aber was Wirbellose angeht, bin ich generell skeptisch. Die rutschen zu leicht runter, wenn du verstehst, was ich meine. Ich mag es eigentlich nicht, Essen wegzuwerfen, aber dieses Tier sah noch verdammt lebendig aus. Vielleicht kommt es ja wieder ins Aquarium.«

Fredrik lachte unnötig laut über Simons Witz. Vielleicht war er erleichtert, weil der andere Teil des Gesprächs damit beendet war. Als die Rechnung kam, griff er sofort zu.

»Lass mich das machen …«, begann Simon, aber Fredrik hatte seine Kreditkarte bereits in das Lesegerät gesteckt, das der Kellner mitgebracht hatte, und tippte los.

»Nett, dass wir uns mal wieder getroffen haben, nur schade, dass ich nicht helfen konnte«, sagte Fredrik, als der Kellner verschwand. Simon ahnte, dass Fredrik schon gar nicht mehr richtig auf seinem Stuhl saß.

»Hast du das gestern vom Iversen-Mord gehört?«

»Oh, ja, mein Gott!« Fredrik schüttelte den Kopf, nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen. »Iver Iversen ist Kunde bei uns. Eine Tragödie.«

»Ja, der war doch schon damals, als du noch im Wirtschafts­dezernat warst, dein Kunde.«

»Was?«

»Dein Verdächtiger, meine ich. Schade, dass immer alle auf­hören, die wirklich was draufhaben. Mit euch im Team hätten wir vielleicht auch noch die letzte Runde für uns entschieden. Die Immobilienbranche bräuchte wirklich mal einen richtigen Frühjahrsputz. Damals waren wir uns da eigentlich ziemlich einig, weißt du noch, Fredrik?«

Fredrik setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Es ist immer ein riskantes Spiel, wenn man sich so hohe Ziele setzt wie du, Simon.«

Simon nickte. Dann wusste Fredrik also, warum Simon die Abteilung verlassen hatte. »Apropos Spiel«, sagte Simon. »Ich bin ja bloß ein Polizist ohne eine irgendwie geartete Wirtschaftsausbildung, aber bei den Bilanzen von Iversen habe ich mich schon immer gefragt, wie die überhaupt überleben konnten. Ihre Immobilienan- und verkäufe waren so schlecht, dass sie fast immer rote Zahlen geschrieben haben. Verdammt große Summen.«

»Ja, aber die Verwaltung und Bewirtschaftung der Immobilien lief dafür umso besser.«

»Dank der Abschreibungen. Die Verluste aus den Verkäufen sorgten ja dafür, dass Iversen für die Betriebsgewinne zum Schluss kaum noch Steuern gezahlt hat.«

»Oh, hört sich beinahe an, als wärst du zurück im Wirtschaftsdezernat?«

»Mein Passwort ist noch nicht gelöscht, ich habe immer noch Zugang zu den alten Files. Gestern Abend habe ich ziemlich lange am PC gesessen.«

»Nun ja. Aber ungesetzlich ist das nicht, das entspricht unserem Steuerrecht.«

»Ja«, sagte Simon, stützte sein Kinn in die Hand und schaute in den blauen Mittagshimmel. »Du musst es ja wissen, schließlich hast du damals die Iversen-Dokumente überprüft. Vielleicht hat ja ein wütender Steuerzahler Frau Iversen ermordet.«

»Was?«

Simon lachte kurz und stand auf. »Ach, nur die Gedanken eines alten Mannes. Danke fürs Essen.«

»Simon?«

»Ja.«

»Sei nicht zu optimistisch, aber ich höre mich mal um, was diesen Kredit angeht.«

»Das weiß ich wirklich zu schätzen«, sagte Simon und knöpfte seine Jacke zu. »Mach’s gut.«

Er brauchte sich nicht umzudrehen, er wusste, dass Fredrik ihm sehr nachdenklich nachsah, als er ging.

Lars Gilberg legte die Zeitung weg, die er im Mülleimer vor dem 7-Eleven gefunden hatte und die sein nächtliches Kopfkissen werden sollte. Seitenweise ging es um den Mord an dieser stinkreichen Nobeltussi. Wenn einer der Armen an einer Überdosis starb, weil wieder mal einer hier unten am Fluss oder in der Skippergata vergiftetes Dope verkauft hatte, kümmerte sich kein Schwein darum. Ein junger Ermittler des Kriminalamts, Bjørnstad hieß er, hatte sogar gesagt, dass alle zur Verfügung stehenden Ressourcen genutzt werden sollten. Ach ja? Warum nicht erst den Massenmörder finden, der hier unten Arsen und Rattengift in seine Drogen mischte? Gilberg blinzelte. Die Gestalt jenseits seines Schattenreiches hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen und sah wie ein Jogger aus, dessen Trainingsroute hier unten am Fluss entlangführte. Aber der Mann war langsamer geworden, als er ihn entdeckt hatte. Gilberg ging davon aus, dass er ein Drogenfahnder war oder irgendein Yuppie, der dringend Speed brauchte. Erst als er unter der Brücke angekommen war und die Kapuze vom Kopf zog, erkannte Gilberg den jungen Mann. Er war verschwitzt und außer Atem.

Gilberg erhob sich rasch von seiner Unterlage. Er war froh, ihn zu sehen.

»Hey. Ich hab aufgepasst«, sagte er. »Deine Sachen liegen noch immer da.« Er nickte in Richtung der Büsche.

»Danke«, sagte der junge Mann, hockte sich hin und maß seinen eigenen Puls. »Ich wollte dich aber was anderes fragen. Vielleicht kannst du mir helfen?«

»Klar, Mann, wobei denn?«

»Danke. Wer von den Dealern hier unten verkauft Superboy?«

Lars Gilberg schloss die Augen. Verflucht. »Nimm nicht das, Junge! Nicht Superboy!«

»Warum nicht?«

»Weil ich dir gleich drei Leute nennen kann, die in diesem Sommer an dem Zeug gestorben sind.«

»Wer hat die reinste Ware?«

»Davon habe ich keine Ahnung, ich nehm das Zeug ja nicht. Aber was soll’s, das Zeug verkauft eh nur einer in der Stadt. Genauer gesagt, zwei, aber die sind immer zusammen. Einer mit dem Dope, der andere mit dem Geld. Sie stehen unter der Ny­brua.«

»Wie sehen sie aus?«

»Die wechseln sich ab, aber in der Regel ist der Geldmann der kleine untersetzte Kerl mit den kurzen Haaren und den Pockennarben. Das ist der Chef, aber er ist gern selbst auf der Straße und kümmert sich um das Geld. Er ist verdammt misstrauisch und verlässt sich nicht einmal auf seine eigenen Dealer.«

»Klein und mit Pockennarben?«

»Ja, am besten erkennt man ihn aber an seinen Augenlidern. Die hängen immer irgendwie auf Halbmast, er sieht ständig müde aus. Kannst du dir ein Bild machen?«

»Du meinst doch nicht etwa Kalle?«

»Du kennst den?«

Der junge Mann nickte langsam.

»Dann weißt du auch, warum der so Augenlider hat?«

»Kennst du die Öffnungszeiten?«, fragte der Mann.

»Die stehen da etwa von vier bis neun. Ihre ersten Kunden kommen gut eine halbe Stunde vorher hier vorbei. Und die letzten rennen kurz vor neun hier runter. So verzweifelt und scharf auf das Zeug, dass ihre Blicke fast den Weg beleuchten.«

Der junge Mann setzte die Kapuze wieder auf. »Danke, Kumpel.«

»Lars. Mein Name ist Lars.«

»Danke, Lars. Brauchst du was? Geld?«

Lars brauchte immer Geld. Er schüttelte den Kopf. »Wie heißt du?«

Der junge Mann zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, wen interessiert’s schon? Dann rannte er weiter.

Martha saß an der Rezeption, als er die Treppe hochkam und an ihr vorbeilief.

»Stig!«, rief sie.

Es dauerte einen Augenblick zu lange, bis er reagierte. Natürlich konnte das an der generell verminderten Reaktionsfähigkeit liegen. Oder daran, dass er gar nicht Stig hieß. Er war verschwitzt, und es sah so aus, als wäre er joggen gewesen. Wenn er nur nicht in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte, dachte sie.

»Ich habe etwas für dich«, sagte sie. »Warte!«

Sie nahm den Karton, rief Maria zu, dass es nur ein paar Minuten dauern würde, und ging rasch zu ihm. Mit einem leichten Druck auf seinen Ellenbogen sagte sie: »Komm, gehen wir zu dir und Johnny nach oben.«

Als sie in den Raum kamen, war der Anblick ungewohnt. Die Gardinen waren zur Seite gezogen, und der Raum badete im Licht. Johnny war nicht da, und die Luft war frisch, da die Fenster so weit geöffnet waren, wie es der Sicherheitsriegel zuließ. Auf Kosten der Gemeinde waren alle Fenster gesichert worden, da es immer wieder vorgekommen war, dass Passanten nur um ein Haar von größeren Gegenständen verfehlt worden waren, die aus den Fenstern geworfen wurden, darunter Radios, Lautsprecher, Stereoanlagen und Fernseher. Elektrische Geräte waren fast schon an der Tagesordnung gewesen, aber den Ausschlag hatte etwas anderes gegeben. Bei der weitverbreiteten Sozial­angst war es logisch, dass sich einige Bewohner weigerten, die Gemeinschaftstoiletten zu benutzen. Manchen wurde ein Eimer auf dem Zimmer erlaubt, den sie selbst in regelmäßigen Abständen leeren sollten, was sie zum Leidwesen aller nicht unbedingt taten. Einer hatte seinen Eimer auf das Fensterbrett gestellt, ­damit der schlimmste Gestank nach draußen zog. Als dann jemand das Zimmer betreten hatte, war der Eimer durch den Luftzug umgekippt. Die neue Konditorei wurde gerade hergerichtet, und das Schicksal wollte es, dass ein Anstreicher unmittelbar unter dem Fenster auf einer Leiter stand. Er hatte den Vorfall ohne bleibende körperliche Schäden überstanden, aber Martha – die als Erste vor Ort gewesen und dem Handwerker zu Hilfe geeilt war – wusste, dass so etwas Narben hinterlassen konnte.

»Setz dich«, sagte sie und zeigte auf den Stuhl. »Und zieh die Schuhe aus.«

Er tat, was sie verlangte, und sie öffnete den Karton.

»Ich wollte nicht, dass die anderen das sehen«, sagte sie und holte ein Paar Schuhe aus weichem schwarzem Leder heraus.

»Die sind von meinem Vater«, sagte sie. »Ihr solltet ungefähr die gleiche Schuhgröße haben.«

Sie reichte ihm die Schuhe.

Er war so vollkommen perplex, dass sie rot wurde.

»Wir können dich doch nicht in Joggingschuhen zu einem Vorstellungsgespräch schicken«, sagte sie schnell.

Sie sah sich im Zimmer um, während er die Schuhe anprobierte. Sie war sich nicht sicher, aber roch es nicht nach Neutralseife? Dabei war hier offiziell gar nicht geputzt worden. Jedenfalls nicht an diesem Tag. Dann trat sie vor die Fotografie, die mit Reißnägeln an die Wand geheftet war.

»Wer ist das?«

»Mein Vater«, sagte er.

»Wirklich, ein Polizist?«

»Ja. So.«

Sie drehte sich zu ihm um. Er war aufgestanden und trat auf der Stelle.

»Und?«

»Die passen perfekt.« Er lächelte. »Vielen, vielen Dank, Martha.«

Sie zuckte zusammen, als er ihren Namen sagte. Nicht, dass sie es nicht gewohnt war, ihn zu hören. Die Bewohner sprachen sie immer mit dem Vornamen an. Nachnamen, Privatadressen und die Namen anderer Familienmitglieder waren vertraulich, schließlich waren sie täglich Zeuge irgendwelcher Drogengeschäfte. Es war eher die Art, wie er ihren Namen gesagt hatte. Wie eine Berührung. Vorsichtig, unschuldig, aber doch spürbar. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass es unpassend war, allein mit ihm in diesem Raum zu sein. Sie war davon ausgegangen, dass auch Johnny anwesend sein würde. Sie fragte sich nicht, wo Johnny sein konnte, war er nicht im Bett, konnte er nur auf der Jagd nach Drogen, auf dem Klo oder beim Essen sein. In dieser Reihenfolge. Trotzdem ging sie nicht gleich.

»Nach was für einem Job siehst du dich denn um?« Sie klang etwas kurzatmig.

»Nach etwas im Gerichtswesen«, sagte er ernst, und dieser Ernst gefiel ihr gut. Er wirkte fast etwas altklug.

»Also wie dein Vater?«

»Nein, Polizisten arbeiten für die Exekutive, die ausführende Macht. Ich will für die Judikative arbeiten.«

Sie lächelte. Wie anders er aussah, ja, wie sehr er sich von allen, die sie kannte, unterschied. Besonders von Anders. Während der immer alles unter Kontrolle hatte, wirkte dieser Junge offen und verletzlich. Und während Anders misstrauisch und abweisend war, wenn er jemanden nicht kannte, strahlte Stig etwas Positives, Nettes, ja fast Naives aus.

»Ich muss jetzt gehen.«

»Ja«, sagte er und lehnte sich an die Wand. Er hatte den Reißverschluss seines Kapuzenpullis aufgezogen. Das T-Shirt darunter war schweißnass und klebte an seinem Körper.

Er wollte etwas sagen, aber im selben Moment knackte ihr Walkie-Talkie.

Sie hielt es sich ans Ohr.

Besuch für sie.

»Was wolltest du sagen?«, fragte sie, nachdem sie kurz geantwortet hatte.

»Das kann warten«, sagte er und lächelte.

Es war wieder der ältere Polizist.

Er stand an der Rezeption und wartete auf sie.

»Ihre Kollegin hat mich hereingelassen«, sagte er entschuldigend.

Martha sah Maria vorwurfsvoll an, aber ihre Kollegin breitete nur vage die Arme aus: What’s the big deal?

»Gibt es hier einen Ort, an dem wir …?«

Martha nahm ihn mit in den Besprechungsraum, bot ihm aber diesmal keinen Kaffee an.

»Sehen Sie das hier?«, fragte er und hielt ihr sein Handy hin.

»Ein Foto von … Erde?«

»Ein Fußabdruck. Vermutlich sagt Ihnen das nicht viel, ich habe mich aber gefragt, warum mir dieser Abdruck so bekannt vorkommt. Und irgendwann bin ich dann darauf gekommen, dass ich den schon an verdammt vielen möglichen Tatorten gesehen habe. Sie wissen, Orte, an denen man Tote findet. Typisch sind Containerlager mit Spuren im Schnee, Drogenlager, ein Dealer irgendwo in einem Hinterhof, ein deutscher Bunker, in dem geschossen wird. Kurz gesagt …«

»Kurz gesagt, Orte, an denen die gleichen Leute verkehren wie hier«, sagte Martha mit einem Seufzen.

»Genau, in der Regel ist der Tod selbstverschuldet. Wir stoßen immer wieder auf Abdrücke der blauen Joggingschuhe aus dem Fundus des Militärs, die über die Heilsarmee und die Stadtmission verteilt wurden und landesweit zum gängigen Schuhwerk von Obdachlosen und Drogenabhängigen geworden sind. Als Spuren sind diese Abdrücke ziemlich unbrauchbar, weil es einfach zu viele von diesen Schuhen an den Füßen bereits vorbestrafter Menschen gibt.«

»Auf was wollen Sie hinaus, Kommissar Kefas?«

»Die Schuhe werden nicht mehr produziert, und die, die jetzt noch getragen werden, sind in der Regel ziemlich abgelaufen. Aber wenn Sie sich dieses Bild genau ansehen, werden Sie erkennen, dass sich das Profil ziemlich scharf abzeichnet, wie bei neuen Schuhen. Ich habe mich bei der Heilsarmee erkundigt, und die haben mir gesagt, dass sie die letzte Partie dieser Schuhe im März letzten Jahres an Sie abgetreten haben. Meine Frage ist deshalb ganz einfach. Haben Sie seit dem letzten Frühjahr Schuhe dieses Typs ausgegeben. Größe 43?«

»Die Antwort lautet: Ja, natürlich.«

»An wen …?«

»An viele.«

»Größe …?«

»Größe 43 ist die durchschnittliche Schuhgröße von Männern in der westlichen Welt, und das gilt in überraschender Weise auch für Drogenabhängige. Mehr kann und will ich nicht sagen.« Martha sah ihn mit zusammengepressten Lippen an.

Der Polizist seufzte. »Ich respektiere die Solidarität mit Ihren Bewohnern. Aber es geht in diesem Fall nicht um ein Gramm Speed, sondern um einen Mordfall. Ich habe diesen Schuhabdruck da gefunden, wo gestern die Frau am Holmenkollen erschossen worden ist. Agnete Iversen.«

»Iversen?« Martha wurde mit einem Mal wieder kurzatmig. Seltsam. Aber der Psychologe, der die Diagnose compassion ­fatigue gestellt hatte, hatte sie gebeten, auf Stresssymptome zu achten.

Kommissar Kefas neigte den Kopf leicht zur Seite. »Iversen, ja. Sie haben bestimmt die Schlagzeilen gesehen. Erschossen auf der Treppe ihres eigenen Hauses …«

»Ja, ja, das habe ich mitbekommen. Aber ich lese so etwas nie, unser Job ist ja schon traurig genug, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Klar. Ihr Name war also Agnete Iversen. 49 Jahre. Früher beruflich aktiv, jetzt Hausfrau. Verheiratet, ein zwanzigjähriger Sohn. Vorsitzende des Wohlfahrtsvereins und eine großzügige Förderin des Norwegischen Fremdenverkehrsverbands. Der Ausdruck ›Stütze der Gesellschaft‹ trifft auf sie durchaus zu.«

Martha hustete. »Woher wollen Sie wissen, dass dieser Abdruck tatsächlich vom Täter ist?«

»Sicher sein können wir uns nicht. Aber wir haben einen Teilabdruck mit dem Blut des Opfers gefunden, der zu diesem passt.«

Martha hustete wieder. Sie sollte mal zum Arzt gehen.

»Und was, wenn ich mich an die Namen derjenigen erinnern würde, die solche Schuhe von uns bekommen haben? In Größe 43. Woher wollen Sie wissen, wer am Tatort war?«

»Auch das können wir noch nicht mit Sicherheit sagen, aber der Täter scheint in Blut getreten zu sein. Wenn das koaguliert ist, müsste davon noch etwas im Profil sein.«

»Verstehe«, sagte Martha.

Kommissar Kefas wartete.

Sie stand auf. »Ich fürchte, ich werde Ihnen keine große Hilfe sein. Aber ich frage mal meine Kollegen, ob die wissen, wer solche Schuhe in Größe 43 bekommen hat.«

Der Polizist blieb noch eine Weile sitzen, als wollte er ihr Gelegenheit geben, es sich doch noch anders zu überlegen und ihm mehr zu erzählen. Dann stand er auf und reichte ihr seine Visitenkarte.

»Danke, ich weiß das zu schätzen. Rufen Sie mich an. Rund um die Uhr.«

Nachdem der Polizist gegangen war, blieb Martha im Besprechungszimmer sitzen und biss sich auf die Unterlippe.

Was sie gesagt hatte, stimmte. Schuhgröße 43 war nicht selten.

»Schluss für heute«, sagte Kalle. Es war gleich neun Uhr, und die Sonne war hinter den Häusern am Flussufer verschwunden. Er nahm die letzten Hunderter entgegen und schob sie in den Geldgürtel, den er um den Bauch trug. Er hatte gehört, dass in St. Petersburg die Geldleute regelmäßig ausgeraubt wurden. Deshalb hatte sie die Mafia mit stählernen Geldgürteln ausgestattet, die vor dem Bauch verschweißt wurden. Die Gürtel hatten einen dünnen Schlitz, durch den man die Geldscheine schob, und ein ko­diertes Schloss, das nur der Mann im Backoffice öffnen konnte. Nur er kannte den Code. Die Geldleute konnten nicht einmal unter Folter etwas verraten und liefen auch nicht Gefahr, schwach zu werden und etwas zu stehlen. Ein Geldmann musste mit diesem verschweißten Gürtel schlafen, essen, scheißen und ficken, aber Kalle hatte trotzdem schon häufiger über diese Lösung nachgedacht. Er war es einfach leid, Abend für Abend hier draußen zu stehen.

»Bitte! Ich flehe dich an!« Wieder eine dieser ausgehungerten Junkiehuren. Nur Haut und Knochen, der reinste Holocaust-Style.

»Morgen«, sagte Kalle und wandte sich zum Gehen.

»Verdammt, ich brauche was!«

»Wir haben nichts mehr«, log er und machte Pelvis, dem Mann mit den Drogen, ein Zeichen zum Aufbruch.

Sie weinte. Kalle hatte kein Mitleid, sie mussten einfach lernen, dass um neun Schluss war und es keinen Sinn hatte, zehn Minuten später zu kommen. Natürlich konnte er auch zehn Minuten oder eine Viertelstunde länger verkaufen, an die, die das Geld nicht schnell genug aufgetrieben hatten. Aber auf lange Sicht war es eine Frage der Lebensqualität zu wissen, wann man nach Hause kam. Und weniger verdiente er dadurch auch nicht, schließlich hatten sie das Monopol auf Superboy. Am nächsten Tag würden sie wieder da sein, kaum dass der Laden geöffnet hatte.

Sie packte seinen Arm, aber Kalle stieß sie weg. Sie stolperte ins Gras und fiel auf die Knie.

»Guter Tag«, sagte Pelvis, während sie über den Uferweg davoneilten. »Was meinst du, wie viel?«

»Was meinst du?«, fragte Kalle ungeduldig. Diese Idioten konnten nicht mal die Anzahl der Tütchen mit dem Preis multiplizieren. Es war in dieser Branche echt schwierig, gute Leute zu finden.

Er drehte sich um, bevor sie über die Brücke gingen, und stellte sicher, dass ihnen niemand folgte. Eine Gewohnheit, das Ergebnis bitter bezahlter Erfahrungen. Wurde man als Drogendealer, die Taschen voller Geld, ausgeraubt, konnte man schließlich nicht zur Polizei gehen. Es war ihn teuer zu stehen gekommen, dass er es einmal an einem ruhigen Sommerabend am Fluss nicht geschafft hatte, die Augen offen zu halten, und auf einer Bank eingeschlafen war – mit Heroin für dreihunderttausend Kronen in der Tasche, das er für Nestor verkaufen sollte. Als er wieder wach wurde, war der Stoff natürlich weg. Nestor erklärte ihm tags darauf, dass der Chef so großzügig sei, ihm eine Wahl zu lassen. Beide Daumen, weil er ein Idiot war, oder beide Augenlider, weil er eingeschlafen war. Kalle entschied sich für die Augenlider. Zwei Anzugtypen, ein dunkelhaariger und ein blonder, hielten ihn fest, während Nestor seine Augenlider packte und mit seinem hässlich krummen Arabermesser abschnitt. Anschließend gab er Kalle – auch auf Weisung von oben – Geld für ein Taxi ins Krankenhaus. Die Chirurgen erklärten ihm, dass sie für neue Augenlider Haut an einer ganz bestimmten Stelle wegnehmen müssten und dass er deshalb von Glück reden könne, kein beschnittener Jude zu sein. Nur die Vorhaut habe nämlich die annähernd gleichen Eigenschaften wie die Augenlider. Die Operation verlief den Umständen entsprechend gut, und seither ­erzählte Kalle immer, er habe die Augenlider durch einen Säureunfall verloren und durch Haut von der Innenseite eines Schenkels ersetzen lassen. Vom Schenkel eines anderen Mannes, behauptete er, wenn eine Frau im Bett die Narbe sehen wollte. Und schob hinterher, dass er Vierteljude sei, wenn sie gar nicht mehr aufhörte zu fragen. Er lebte lange in dem Glauben, das Ganze sei ein gutgehütetes Geheimnis, bis ihn sein Nachfolger in einer Bar lauthals gefragt hatte, ob es nicht nach Schwanz roch, wenn er sich morgens die Augen rieb. Der Kerl und seine Freunde lachten brüllend, woraufhin Kalle seine Bierflasche am Tresen zerschlug und dem anderen ins Gesicht stieß, mehrmals, bis er sich sicher war, dass der Typ keine Augen mehr hatte, die er sich morgens reiben konnte.

Am nächsten Tag bot Nestor Kalle auf Anweisung des Chefs seinen alten Job an. Die Stelle sei nun ja wieder frei und seine Tatkraft habe ihn beeindruckt. Seit jenem Tag schloss Kalle seine Augen erst, wenn er sich ganz sicher war, alles unter Kontrolle zu haben. Aber alles, was er jetzt sah, war eine heulende Frau im Gras und ein Jogger mit Kapuzenpulli.

»Zweihundert Lappen?«, tippte Pelvis.

Idiot.

Nachdem sie fünfzehn Minuten durch Oslos östliches Zen­trum und die etwas zweifelhafteren, aber charakteristischen Straßen der Altstadt gegangen waren, traten sie durch das offene Tor eines verlassenen Fabrikareals. Das Zählen sollte nicht länger als eine Stunde dauern. Außer ihnen waren nur noch Enok und Syff da, die Speed am Elch und in der Tollbugata vertickt hatten. Danach mussten sie Stoff feinhacken, strecken und für den nächsten Tag neue Tütchen packen. Erst dann konnte er nach Hause zu Vera. Sie war in der letzten Zeit ziemlich störrisch gewesen, wohl weil nichts aus der Barcelona-Tour geworden war, die er ihr versprochen hatte. Aber im Frühjahr war einfach zu viel los gewesen. Als Ausgleich hatte er ihr versprochen, im August mit ihr nach Los Angeles zu fliegen, wegen seiner Vorstrafen hatte er aber keine Einreisebewilligung bekommen. Er wusste, dass Frauen wie Vera nicht viel Geduld hatten, schließlich hatten sie Alternativen. Er musste sie also verwöhnen und ihr Karotten vor die Nase und ihre mandelförmigen, gierigen Augen halten. So etwas kostete Energie und Zeit. Und Geld, weshalb er viel arbeiten musste. Eine verdammte Zwickmühle.

Sie überquerten einen offenen Platz mit ölfleckigem Kies und hohem Gras. Auf Steinen am Rand thronten seit Jahren zwei Lastwagen ohne Räder. Vor einem roten Ziegelgebäude sprangen sie auf eine Laderampe. Kalle gab den vierstelligen Code in das dafür vorgesehene Tastenfeld ein und öffnete die Tür, als es summte. Schlagzeug und Bass dröhnten ihnen entgegen. Die Gemeinde hatte das Erdgeschoss des zweistöckigen Fabrikgebäudes zu Probenräumen für junge Bands umfunktioniert. Sie selbst hatten unter dem Vorwand, ein Managementbüro zu betreiben, beinahe gratis ein paar Räume in der ersten Etage bekommen. Bis jetzt war bei ihnen noch nicht ein Gig bestellt worden, aber es stand ja auch nicht gut um die Kultur. Sie gingen über den Flur zum Aufzug, während die Eingangstür langsam von den steifen Federn zurück ins Schloss gezogen wurde. Durch den Lärm glaubte Kalle einen Moment lang das Knirschen des Kieses draußen zu vernehmen.

»Dreihundert?«, fragte Pelvis.

Kalle schüttelte den Kopf und drückte auf den Fahrstuhlknopf.

Knut Schrøder legte die Gitarre auf den Verstärker.

»Zigarette!«, sagte er und ging zur Tür.

Er wusste, dass sich die anderen in der Band resigniert ansahen. Schon wieder Zigarettenpause? Sie hatten in drei Tagen einen Gig im Jugendzentrum, und die traurige Wahrheit war, dass sie wie die Besessenen üben mussten, wollten sie sich nicht komplett blamieren. Verdammte Yuppies, sie rauchten nicht, tranken kaum Bier und hatten noch nie einen Joint gesehen, geschweige denn geraucht. Wie sollte denn so Rock entstehen?

Er zog die Tür hinter sich zu. Sie spielten wieder das gleiche Lied, jetzt halt ohne ihn. Der Sound war tight, hatte aber keinen soul. Nicht wie mit ihm. Bei diesem Gedanken musste er über sich selbst lächeln. Auf dem Weg nach draußen kam er am Fahrstuhl und den beiden leeren Übungsräumen vorbei. Es war exakt wie bei dem Highlight der DVD Hell Freezes Over von den Eagles – Knuts heimliche Lieblings-DVD. Die Szene, in der sie mit dem Burbank Philharmonic Orchestra proben, das hochkonzentriert »New York Minute« vom Blatt spielt, während Don Henley sich zur Kamera umdreht, die Nase rümpft und flüstert: »… but they don’t have the blues …«

Vor dem Übungsraum, dessen Tür immer offen stand, weil das Schloss kaputt und die Scharniere verzogen waren, so dass die Tür sich gar nicht mehr schließen ließ, hielt er inne. Drinnen stand jemand mit dem Rücken zu ihm. Früher war hier ständig eingebrochen worden. Junkies auf der Jagd nach Musikequipment, das sie schnell zu Geld machen konnten. Aber das war besser geworden, seit oben das Managementbüro eingezogen war und die neue solide Tür mit dem Zahlencode spendiert hatte.

»Hallo, Sie da!«

Der Mann drehte sich um. Es war schwer zu sagen, was er für einer war. Jogger? Nein. Er trug zwar einen Kapuzenpulli und eine Jogginghose, aber gute schwarze Schuhe. Und so schlecht kleideten sich nur Junkies. Aber Knut hatte keine Angst, warum auch? Er war so groß wie Joey Ramone und hatte auch die gleiche Lederjacke. »Was machen Sie hier, Mann?«

Der Typ lächelte ihn an. Kein Rocker also. »Versuche hier ein bisschen aufzuräumen.«

Das klang so weit plausibel. In kommunalen Übungsräumen wurde in der Regel alles kaputtgemacht oder geklaut, und niemand kümmerte sich darum. Das Fenster war noch immer mit schallisolierenden Platten verkleidet, aber ansonsten gab es nur noch eine ausrangierte Basstrommel, auf deren Frontseite jemand in gotischen Buchstaben The Young Hopeless geschrieben hatte. Auf dem Boden lagen Kippen, kaputte Gitarrensaiten, ein einsamer Drumstick und eine Rolle Klebeband. Dazwischen stand ein Tischventilator, den der Schlagzeuger bestimmt gebraucht hatte, um nicht zu sehr ins Schwitzen zu kommen. Plus eine Jack Stringsite, die Knut natürlich gecheckt hatte, aber die auch kaputt war. Aber egal, diese Stringsites gehörten der Vergangenheit an und waren unzuverlässig, die Zukunft war drahtlos, und Mama hatte Knut versprochen, ihm ein drahtloses Equipment für seine Gitarre zu kaufen, wenn er mit dem Rauchen aufhörte, was ihn zu dem Song »She Sure Drives A Hard Bargain« inspiriert hatte.

»Wird bei der Stadt so spät noch gearbeitet?«, fragte Knut.

»Wir überlegen, wieder mit den Proben anzufangen.«

»Wir?«

»The Young Hopeless.«

»Oh, gehörst du zu denen?«

»Ich war der Schlagzeuger, vor dem, der zuletzt gespielt hat. Ich dachte, ich hätte zwei von den anderen Bandmitgliedern gesehen, aber die sind irgendwie nach oben verschwunden.«

»Nee, da oben ist so eine Musikmanagementbude.«

»Echt? Vielleicht können die uns ja mal nützlich werden.«

»Ich glaube nicht, dass die neue Kunden annehmen. Wir haben da mal vorgesprochen, sind aber ziemlich schroff zum Teufel gejagt worden«, sagte Knut grinsend, nahm eine Zigarette aus der Packung und steckte sie sich zwischen die Lippen. Vielleicht rauchte der Typ ja auch und würde ihm draußen Gesellschaft leisten, mit ihm über Musik und das alles reden.

»Ich geh trotzdem mal hoch und seh nach«, sagte der Schlagzeuger.

Der Typ wirkte eigentlich eher wie ein Sänger als ein Schlagzeuger. Vielleicht keine schlechte Idee, mit den Leuten da oben zu reden, denn Charisma hatte er … Vielleicht ließen sie ja auch Knut rein, wenn sie diesem Typen die Tür öffneten.

»Ich komme mit hoch und zeig dir, wo das ist.«

Der Mann schien erst etwas zu zögern, nickte dann aber. »Danke.«

In dem großen langsamen Lastenaufzug hatte Knut Zeit genug, dem anderen zu erklären, warum der Mesa/Boogie-Verstärker so genial war. Die erste Vorstufe konnte die zweite übersteuern, und daraus entstand eine geile Verzerrung, die für Rock genau richtig war.

Sie traten aus dem Fahrstuhl, und Knut bog nach links ab und zeigte auf eine blaue Metalltür – die einzige auf der ganzen Etage. Der Typ klopfte an. Es vergingen ein paar Sekunden, dann öffnete sich eine kleine Luke, und ein Paar blutunterlaufene Augen sahen sie an. Genau wie beim letzten Mal.

»Was wollt ihr?«

Der Typ beugte sich zur Luke vor, er wollte wohl sehen, was hinter dem Mann war.

»Könnten Sie sich vorstellen, The Young Hopeless zu vertreten und ein paar Gigs für uns zu buchen? Wir sind eine der Bands, die unten proben.«

»Verpisst euch und lasst euch hier nicht mehr blicken, kapiert?«

Der Typ stand noch immer dicht vor der Luke, seine Augen gingen hin und her.

»Wir sind ziemlich gut, mögen Sie Depeche Mode?«

Aus dem Zimmer hinter den blutunterlaufenen Augen war eine Stimme zu hören. »Wer ist da, Pelvis?«

»Irgendeine Band.«

»Schick sie zum Teufel, Mann! Mach schon, ich will um elf nach Hause!«

»Ihr habt meinen Chef gehört, Jungs.«

Die Luke schloss sich.

Knut ging die vier Schritte zum Fahrstuhl zurück und drückte auf den Knopf. Die Türen öffneten sich widerwillig, und er trat ein, aber der andere war stehen geblieben und betrachtete den Spiegel, den die Leute vom Büro an der Wand oberhalb der Fahrstuhltür angebracht hatten. Er zeigte aus irgendeinem Grund ihre Metalltür. Klar, dies hier war nicht gerade die beste Gegend, aber so was war selbst für Musikmanager ziemlich paranoid. Aber vielleicht lagerten sie da drinnen ja auch ihre fetten Gagen. Er hatte gehört, dass die großen norwegischen Bands für die größten Festivalauftritte bis zu einer halben Million bekamen. Sie mussten einfach üben. Wenn er nur diesen Radiosender von sich überzeugen konnte. Und eine neue Band fand. Was mit Soul. Vielleicht war das ja auch etwas für diesen Typen da? Er war endlich in den Fahrstuhl getreten, hielt jetzt aber die Hand vor den Sensor, so dass sich die Türen nicht schlossen. Dann nahm er sie weg und musterte die Leuchtstoffröhren im Innern des Aufzugs. Nee, vielleicht doch nicht. Er hatte schon mit genug Verrückten gespielt.

Er ging nach draußen, um seine Zigarette zu rauchen, während der Typ zurück in den Probenraum ging, um weiter aufzuräumen.

Er hatte es sich auf der Ladefläche eines Lastwagens bequem gemacht, als der Mann dann doch rauskam.

»Die anderen scheinen sich verdammt zu verspäten, aber ich kann sie nicht erreichen. Mein Akku ist leer«, sagte er und hob ein Handy hoch, das richtig neu aussah. »Ich geh mal Zigaretten kaufen.«

»Kannst eine von mir haben«, sagte Knut und hielt ihm sein Päckchen hin. »Was für ein Schlagzeug hast du? Nein, lass mich raten! Du bist bestimmt old school. Ludwig?«

Der Typ lächelte. »Danke, nett von dir, aber ich brauche Marlboro.«

Knut zuckte mit den Schultern. Er respektierte es, wenn jemand auf seine Marke schwor, ob es nun Trommeln oder Zigaretten waren. Aber Marlboro? War das nicht so, als wollte man nichts anderes als Toyota fahren?

»Peace, man«, sagte Knut. »Bis dann.«

»Danke für die Hilfe.«

Er sah dem Mann nach, der über den Kies in Richtung Tor ging. Plötzlich blieb er stehen, drehte um und kam noch einmal zurück.

»Scheiße, Mann, ich habe den Code für das Schloss im Handy gespeichert«, sagte er mit einem betretenen Lächeln.

»Und der Akku ist leer … 666S. Ich bin da draufgekommen, weißt du, wofür dieser Code steht?«

Der Typ nickte. »Das ist der Polizeicode von Arizona für Selbstmord.«

Knut blinzelte mehrmals. »Wirklich?«

»Darauf kannst du wetten, das S steht für suicide. Habe ich von meinem Vater gelernt.«

Knut sah den Typen durch das Tor in die helle Sommernacht verschwinden, während eine Windböe das hohe Gras am Zaun hin und her schwingen ließ, wie die Arme des Publikums bei einer blöden Ballade. Suicide. Verdammt, das war noch viel, viel cooler als 666 Satan!

Pelle sah in den Rückspiegel und rieb sich das schmerzende Bein. Das war doch alles Mist. Und zu dem ganzen Scheiß passte die Adresse, die ihm der Fahrgast auf dem Rücksitz gerade genannt hatte. Das Ila-Wohnheim. Vorläufig änderte sich deshalb nichts an Pelles mehr oder minder festem Standplatz in Gamlebyen.

»Sie meinen das Hospiz?«, fragte Pelle.

»Ja, wenn Sie so wollen.«

»Dahin fahre ich nur, wenn ich im Voraus bezahlt werde. Tut mir leid, aber ich habe da schlechte Erfahrungen gemacht.«

»Natürlich, entschuldigen Sie, daran habe ich nicht gedacht.«

Pelle studierte den Fahrgast, oder besser gesagt, potentiellen Fahrgast, während dieser seine Hosentaschen durchsuchte. Pelle saß jetzt schon seit dreizehn Stunden in der Taxe, trotzdem würde er erst in ein paar Stunden zurück zu seiner Wohnung in der Schweigaards gate fahren, den Wagen abstellen, sich mit den zusammensteckbaren Krücken, die unter dem Sitz lagen, die Treppe nach oben wuchten und endlich ins Bett fallen und schlafen. Hoffentlich ohne zu träumen. Wobei es natürlich auf die Träume ankam. Sie konnten Himmel oder Hölle sein, das wusste man vorher nie. Der Fahrgast reichte ihm einen Fünfziger und eine Handvoll Münzen.

»Das sind nur gut hundert Kronen, das reicht nicht.«

»Hundert reichen nicht?«, fragte der nicht mehr ganz so potentielle Fahrgast aufrichtig überrascht.

»Sie sind wohl lange nicht mehr Taxi gefahren?«

»Stimmt. Können Sie mich dann so weit fahren, wie das Geld reicht?«

»Sicher«, sagte Pelle, legte das Geld ins Handschuhfach, weil der Mann nicht gerade so aussah, als bräuchte er eine Quittung, und gab Gas.

Martha war allein im Raum 323.

Sie hatte in der Rezeption gesessen. Erst hatte Stig und dann Johnny das Haus verlassen. Stig hatte die schwarzen Schuhe getragen, die sie ihm gegeben hatte.

Die Hausordnung gestattete es ihnen, ohne Vorwarnung und Genehmigung jederzeit die Zimmer zu durchsuchen, sobald sie den Verdacht hatten, dass dort Waffen aufbewahrt wurden. Die Regeln verlangten aber auch, dass diese Durchsuchung von jeweils zwei Mitarbeitern durchgeführt wurde. Regeln. Manchmal musste man sich über die eben hinwegsetzen. Marthas Blick fiel auf die Kommode. Und dann auf den Schrank.

Sie begann mit der Kommode.

Nichts als Kleider. Johnnys Kleider. Was Stig gehörte, wusste sie.

Dann öffnete sie die Schranktüren.

Die Unterwäsche, die sie Stig gegeben hatte, lag ordentlich ­zusammengefaltet auf dem Schrankbrett. Der Mantel hing auf ­einem Bügel. Auf der Hutablage stand die rote Sporttasche, mit der sie ihn hatte kommen sehen. Sie streckte die Arme nach oben, um sie herunterzunehmen, als ihr Blick auf die blauen Joggingschuhe fiel, die ganz unten standen. Sie ließ die Tasche los, bückte sich und nahm die Schuhe. Hielt die Luft an. Umklammerte sie. ­Koaguliertes Blut. Dann drehte sie die Sohlen nach oben.

Atmete aus und spürte, wie ihr Herz triumphierte.

Die Sohlen waren vollständig sauber. Nicht der kleinste Fleck war im Profil zu erkennen.

»Was machst du da?«

Martha schwang mit klopfendem Herzen herum. Legte die Hand auf die Brust. »Anders!«

Sie beugte sich vor und lachte: »Mein Gott, hast du mir einen Schrecken eingejagt.«

»Ich habe unten gestanden und auf dich gewartet«, sagte er sauer und schob die Hände in seine kurze Lederjacke. »Es ist bald halb elf.«

»Tut mir leid, ich hab die Zeit vergessen. Wir haben die Info bekommen, dass einer der Bewohner möglicherweise eine Waffe hat, und dann haben wir natürlich die Pflicht, das zu überprüfen.« Martha war so aufgedreht, dass die Lüge ganz von allein kam.

»Pflicht?«, schnaubte Anders. »Vielleicht wäre es wirklich an der Zeit, ein bisschen über Pflichten nachzudenken. Die meisten Menschen denken an Familie und Zuhause, wenn sie von Pflichten sprechen. Und nicht an eine Arbeit wie … wie diese hier.«

Martha seufzte. »Anders, nicht schon wieder …« Sie stellte die Schuhe an ihren Platz zurück.

Aber er war bereits richtig in Fahrt, manchmal brauchte er dafür nur ein paar Sekunden: »Du hast noch immer das Angebot, bei Mutter in der Galerie zu arbeiten. Und ich bin vollkommen ihrer Meinung. Es wäre bestimmt gut für deine persönliche Entwicklung, wenn du dich mal mit interessanteren Menschen umgeben würdest und nicht mit diesem … Abschaum.«

»Anders!« Martha erhob die Stimme, spürte aber, dass sie zu müde war, um sich richtig zur Wehr zu setzen. Sie ging zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. »Es ist nicht richtig, diese Menschen als Abschaum zu bezeichnen. Das darfst du nicht. Und ich habe dir das schon so oft gesagt: Deine Mutter und ihre Kunden brauchen mich nicht.«

Anders zog den Arm weg. »Was die Leute hier brauchen, bist nicht du, sondern endlich eine andere Politik. Wir müssen aufhören, die mit Samthandschuhen anzufassen und ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Diese Junkies sind doch die heiligen Kühe der Nation, verdammt.«

»Ich will diese Diskussion nicht mehr führen, Anders. Kannst du nicht schon nach Hause fahren, ich komme mit einem Taxi nach, wenn ich fertig bin.«

Aber Anders verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an den Türrahmen. »Welche Diskussion willst du eigentlich führen, Martha? Ich versuche ja auch schon lange, mit dir über ein Datum zu reden …«

»Anders, nicht jetzt.«

»Doch, jetzt! Meine Mutter muss den Sommer planen und …«

»Nicht jetzt, habe ich gesagt.« Sie wollte ihn durch die Tür schieben, aber er wich nicht von der Stelle und versperrte ihr den Weg.

»Was ist das denn für eine Antwort? Schließlich sollen sie bezahlen …«

Martha schlüpfte unter seinem Arm hindurch auf den Flur und ging.

»He!« Sie hörte die Tür ins Schloss fallen. Anders lief ihr nach, packte ihren Arm, riss sie herum und zog sie an sich. Sie roch das teure Aftershave, das er von seiner Mutter zu Weihnachten bekommen hatte, das Martha aber nicht ausstehen konnte. Ihr Herz blieb fast stehen, als sie seinen finsteren, leeren Blick sah.

»Du lässt mich nicht einfach so stehen«, fauchte er.

Sie hielt sich automatisch die Hand zum Schutz vors Gesicht und nahm seine plötzliche Verwirrung wahr.

»Was soll das denn?«, flüsterte er mit eisiger Stimme. »Glaubst du etwa, ich will dich schlagen

»Anders, ich …«

»Zweimal«, fauchte er, und sie spürte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht. »Zweimal in neun Jahren, Martha. Und du behandelst mich wie einen … wie einen verdammten … Schläger

»Lass mich los, das tut …«

Hinter ihr war ein Räuspern zu hören. Anders ließ ihren Arm los, starrte wütend über ihre Schulter und spuckte die Worte aus:

»Was ist los, Junkie, willst du vorbei, oder was?«

Sie drehte sich um. Es war er. Stig. Er stand einfach nur da und wartete. Ließ seinen ruhigen Blick von Anders zu ihr wandern. In ihm lag eine Frage. Die sie mit einem Nicken beantwortete. Es war alles in Ordnung.

Er nickte zurück und ging vorbei. Die zwei Männer musterten sich, als er sich an Anders vorbeischob. Sie waren gleich groß. Anders breiter, mit mehr Muskeln.

Sie sah Stig nach, als er den Flur runterging.

Dann wandte sie sich wieder Anders zu. Er hatte den Kopf zur Seite gelegt und sah sie mit dem bösen Blick an, den sie immer öfter ertragen musste. Eigentlich wollte sie ihn ignorieren, weil sie glaubte, dass er mit der Frustration über die fehlende Anerkennung seiner Arbeit zu tun hatte.

»Was zum Henker war das denn?«, fragte er.

Auch das Fluchen war neu.

»Was?«

»Ihr habt … richtiggehend … kommuniziert, oder? Was ist das für ein Kerl?«

Sie atmete aus. Fast erleichtert. Dieses Territorium war schon bekannter. Eifersucht. Die kannte sie seit ihrer Jugend und wusste damit umzugehen. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Anders, jetzt lass diesen Unsinn. Du kommst jetzt mit mir nach unten und holst deine Jacke, und dann fahren wir nach Hause. Ich will heute Abend nicht mehr streiten. Lass uns etwas Leckeres kochen.«

»Martha, ich …«

»Psst«, sagte sie, wusste aber, dass sie bereits gewonnen hatte. »Du kochst uns was Schönes, während ich dusche. Und morgen reden wir über die Hochzeit, einverstanden?«

Sie sah, dass er etwas einwenden wollte, legte ihm aber einen Finger auf die vollen Lippen, in die sie sich seinerzeit so verliebt hatte. Dann ließ sie den Finger nach unten gleiten und strich über die sorgsam gepflegten Bartstoppeln. Oder hatte sie sich in seine Eifersucht verliebt? Sie wusste es nicht mehr.

Als sie sich ins Auto setzten, war er wieder ruhig. Er hatte den BMW gegen ihren Willen gekauft und argumentiert, sie würde die Annehmlichkeiten des Wagens schon zu schätzen wissen, wenn sie lange Strecken fuhren. Und er war zuverlässig. Als der Wagen ansprang, sah sie ihn wieder. Er trat aus dem Eingang und ging schnell über die Straße nach Osten. Über der Schulter die rote Tasche.


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