Kapitel 40

Betty ging in die volle Apotheke, zog eine Wartenummer und suchte sich einen freien Stuhl an der Wand. Die Kunden neben ihr starrten in die Luft oder tippten auf ihren Handys herum, obwohl einige Schilder darauf hinwiesen, dass Handybenutzung an diesem Ort verboten war. Betty hatte ihren Hausarzt dazu überreden können, ihr ein stärkeres Schlafmittel zu verschreiben.

»Das sind aber wirklich Hardcore-Diazepine, die gibt es nur vorübergehend, um sie mal auszuprobieren«, hatte er gesagt und dann noch einmal betont, solche Mittel könnten eine Negativ­spirale auslösen und zur Abhängigkeit führen. Außerdem ­würden sie das Übel sicher nicht an der Wurzel packen. Betty erwiderte, die Wurzel allen Übels sei ja eben gerade ihre Schlaflosigkeit. Insbesondere nachdem sie sich mutterseelenallein mit dem meistgesuchten Mörder des Landes in einem Raum befunden habe. Einem Mann, der eine Frau in ihrem Haus am Holmenkollen erschossen hatte. Und heute stand in der Zeitung, dass er auch die Reedersfrau ermordet haben sollte. Anscheinend hatte er rein zufällig ein Haus außerhalb von Drammen ausgesucht und der Frau den Kopf angesägt. Betty war in den letzten Tagen wie ein Zombie herumgelaufen, nur halb angezogen, übermüdet, halluzinierend. Sie sah sein Gesicht überall, nicht nur in den Zeitungen und im Fernsehen, sondern auch auf Plakaten, in der Straßenbahn und in den sich spiegelnden Schaufensterscheiben. Er war der Briefträger, der Nachbar, der Hausmeister.

Und jetzt sah sie ihn auch noch hier drin.

Er stand vorn an der Kasse mit einem weißen Turban auf dem Kopf, einer Bandage, die er sich um den Kopf gewickelt hatte. Vor ihm auf der Ladentheke lag eine Packung mit Einwegspritzen und Kanülen. Er bezahlte bar. Die körnigen Fotos und die sogenannten Phantombilder taugten nicht viel, aber Betty fiel auf, auch die Frau neben ihr flüsterte ihrem Partner etwas zu und zeigte dabei auf den Mann. Vielleicht hatte auch sie ihn erkannt. Doch als der Mann mit dem Turban sich umdrehte und mit leicht zur Seite geneigtem Körper zum Ausgang ging, war Betty klar, dass sie sich wieder einmal etwas eingebildet hatte.

Das aschgraue, versteinerte Gesicht glich ganz und gar nicht dem des Mannes in der Suite 4.

Kari beugte sich vor, um die Hausnummern zu erkennen, während ihr Wagen langsam an den großen Villen vorbeirollte. Sie hatte nach der schlaflosen Nacht einen Entschluss gefasst. Sam meinte, einen Job, den sie ja doch nicht behalten wollte, sollte sie nicht so ernst nehmen. Natürlich stimmte das, andererseits liebte sie Ordnung. Außerdem konnte das an ihr kleben bleiben und ihr in Zukunft die eine oder andere Tür verschließen. Deshalb hatte sie sich entschlossen, ihn persönlich aufzusuchen.

Sie hielt an. Da war die Hausnummer.

Sie fragte sich, ob sie durch das offene Tor aufs Grundstück fahren sollte, parkte dann aber auf der Straße. Sie ging die steile asphaltierte Auffahrt hoch. Ein Wassersprenger plätscherte im Garten, ansonsten war es vollkommen still.

Oben auf der Treppe klingelte sie. Von drinnen war wütendes Hundegebell zu hören. Sie wartete, aber es kam niemand. Als sie sich umdrehen und wieder runtergehen wollte, stand er plötzlich da. Die Sonne glitzerte auf den rechteckigen Brillengläsern. Er musste schnell und fast geräuschlos um das Haus und die Garage gekommen sein.

»Ja?«

Die Hände hielt er auf dem Rücken.

»Mein Name ist Kari Adel, ich bin Kommissarin bei der Osloer Polizei. Ich würde gerne mit Ihnen über etwas sprechen.«

»Ja, und worüber?« Er schob die Hände auf dem Rücken unter den Gürtel, als wollte er gleichzeitig die beige Hose hoch und das Hemd rausziehen, schließlich war es ein sehr warmer Sommertag. Oder eine Pistole in den Gürtel schieben und unter dem Hemd verstecken, damit sie sie nicht sah.

»Über Simon Kefas.«

»Ah ja. Und warum wollen Sie mit mir über ihn reden?«

Kari bewegte den Kopf leicht hin und her. »Wenn ich ihn richtig verstanden habe, befürchtet er, dass es auf dem Dienstweg ein Leck geben könnte. Er ist der Meinung, dieser Maulwurf ist noch immer in unseren Reihen.«

»So, meint er das?«

»Deshalb dachte ich, ich melde mich gleich ganz oben, bei Ihnen, dem Polizeipräsidenten.«

»Na gut«, sagte Pontius Parr und rieb sich das schmale Kinn. »Gehen wir ins Haus, Kommissarin Adel.«

Hinter der Tür wurde Kari von einem überglücklichen Airedale Terrier angesprungen.

»Willoch! Du sollst doch nicht …«

Der Hund beruhigte sich und begnügte sich damit, ihre Hand abzulecken, während sein Schwanz wild hin und her schlug. Auf dem Weg ins Wohnzimmer erklärte Kari, dass man ihr gesagt habe, der Polizeipräsident arbeite heute von zu Hause aus.

»Ich mache blau«, sagte Parr lächelnd und deutete mit der Hand auf ein großes, einladendes Sofa, auf dem viele Kissen lagen. »Eigentlich sollten in dieser Woche meine Sommerferien anfangen, aber bei dieser Mordserie …« Er seufzte und ließ sich in einen zum Sofa passenden Sessel fallen. »Was ist denn mit ­Simon?«

Kari räusperte sich. Sie hatte sich vorher überlegt, was sie sagen wollte, mit allen Wenn und Aber, ohne jemanden ans Messer zu liefern, sondern nur um sicherzustellen, dass sie ihre ­Arbeit bestmöglich erledigen konnte. Aber jetzt, in Gegenwart eines Polizeipräsidenten, der derart entspannt und entgegenkommend wirkte und noch dazu offen eingestand, den Tag blauzumachen, erschien es ihr ganz natürlich, gleich zur Sache zu kommen.

»Simon macht Alleingänge«, sagte sie.

Der Polizeipräsident zog eine Augenbraue hoch. »Reden Sie weiter.«

»Wir ermitteln in diesem Fall parallel zum Kriminalamt. Das ist keine Zusammenarbeit, und jetzt arbeitet er nicht einmal mehr mit mir zusammen. Ich kann damit leben, aber inzwischen sieht es so aus, als würde er einer ganz persönlichen Agenda folgen. Und ich will nicht mit hineingezogen werden, sollte er wirklich etwas Verbotenes tun. Er hat mich sogar selbst gebeten wegzubleiben, wenn er nicht nach Lehrbuch vorgeht – das hat er beinahe wörtlich so gesagt.«

»Aha? Und wann war das?«

Kari erzählte kurz von ihrem Besuch bei Iver Iversen.

»Hm«, sagte Parr und zog das m in die Länge. »Nicht gut. Ich kenne Simon, und ich wünschte mir, ich könnte sagen, dass ihm das gar nicht ähnlich sieht. Aber leider tut es das. Was, glauben Sie, hat er vor?«

»Er will Sonny Lofthus auf eigene Faust stellen.«

Parr hielt das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Verstehe. Wer weiß sonst noch davon?«

»Niemand, ich bin direkt zu Ihnen gekommen.«

»Gut, versprechen Sie mir, es auch niemandem zu erzählen. Sie verstehen sicher, das ist eine ziemlich delikate Sache. Die Polizei steht zurzeit ja wirklich im Blickpunkt der Öffentlichkeit, und da können wir es uns nicht leisten, dass einzelne Personen unprofessionell auftreten.«

»Natürlich, das verstehe ich.«

»Überlassen Sie diese Sache mir. Und dieses Treffen hat nie stattgefunden. Ist das klar? Das mag sich dramatisch anhören, aber auf diese Weise riskieren Sie kein Gerede unter den Kollegen. So was kann an einem kleben bleiben.«

Kleben bleiben. Das hatte sie nicht bedacht. Kari schluckte und nickte schnell. »Danke.«

»Keine Ursache, ich habe zu danken, Adel. Sie haben das Richtige getan. Kehren Sie zu Ihrer Arbeit zurück und machen Sie weiter. Als wäre nichts geschehen, wie man so schön sagt.« Der Polizeipräsident erhob sich. »Ich sollte jetzt mit dem Nichtstun weitermachen, ich habe nur diesen Tag, dann geht’s wieder los.«

Kari erhob sich, erleichtert und glücklich, dass es weniger schmerzhaft abgelaufen war, als sie zu hoffen gewagt hatte.

In der Tür blieb der Polizeipräsident stehen. »Wo ist Simon jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Er war heute Nacht am Fundort des Wagens mit dem Toten, ist dann aber einfach gegangen. Danach hat ihn niemand mehr gesehen.«

»Hm. Und haben Sie eine Vermutung?«

»Als Letztes habe ich ihm eine Liste von Hotels gegeben, in denen Lofthus abgestiegen sein könnte.«

»Auf welcher Basis haben Sie die ausgewählt?«

»Dass er bar bezahlt hat. Das tut heute kaum noch jemand.«

»Klug. Viel Glück.«

»Danke.«

Kari ging die Treppe hinunter, auf Höhe des Wassersprengers hörte sie hinter sich Schritte. Parr.

»Mir ist noch was eingefallen«, sagte er. »Nach allem, was ich gehört habe, ist es ja wohl nicht auszuschließen, dass Sie zu guter Letzt Lofthus finden.«

»Ja?«, sagte Kari und wusste, es klang genauso selbstbewusst, wie es klingen sollte.

»Denken Sie in dem Fall bloß daran, dass er bewaffnet ist und gefährlich. Jeder würde es verstehen, wenn Sie gezwungen wären zu schießen.«

Kari strich sich die widerspenstigen Haare aus der Stirn. »Was meinen Sie genau damit?«

»Nur dass Sie bei diesem Mörder wirklich schnell zur Waffe greifen sollten. Denken Sie daran, dass er bereits einen anderen Beamten gefoltert hat.«

Kari spürte die feinen Wassertropfen, die der Wind herübertrug, auf dem Gesicht. »Okay«, sagte sie.

»Ich schließe mich auch noch mit dem Leiter von Kripos kurz«, sagte Parr. »Es wäre vielleicht gar nicht so schlecht, wenn Sie und Åsmund Bjørnstad in diesem Fall ein Team bildeten. Ich denke, Sie haben in vielem die gleiche Einstellung.«

Simon starrte in den Spiegel. Die Jahre vergingen, die Zeit verrann. Er war nicht mehr der Mann, der er vor fünfzehn Jahren gewesen war. Und auch nicht der von vor zweiundsiebzig Stunden. Früher hatte er sich einmal für unbesiegbar gehalten und später dann für Abschaum. Inzwischen war er zu dem Schluss gekommen, dass er nichts von beidem war, sondern einfach nur ein Mensch aus Fleisch und Blut, der das Richtige tun oder sich von seinen niedrigsten Instinkten leiten lassen konnte. Aber gab es dann überhaupt so etwas wie einen freien Willen? Würden nicht alle – angesichts der gleichen Aufgaben, der gleichen Chancen, der gleichen Aussichten auf Gewinn oder Verlust – ­dieselben Entscheidungen fällen, und das wieder und wieder? Es hieß, man könne seine Sicht auf die Dinge verändern, könne zum Beispiel klüger werden durch eine neue Frau im Leben und erkennen, was wesentlich ist. Vielleicht hatte sich aber auch die Gleichung verändert, und nun waren deshalb andere Dinge wichtig? Gerechnet wurde noch immer auf die gleiche Weise. Und jede neue Entscheidung wurde wieder und wieder so ge­troffen, ausgelöst durch die Zusammensetzung chemischer Stoffe im Gehirn, die zugrundeliegenden Informationen, den Überlebensinstinkt, den Sexualtrieb, die Angst vor dem Tod, den Herdentrieb und die erlernte Moral. Wir bestrafen andere ­Menschen nicht, weil sie schlecht sind, sondern weil sie die falschen Entscheidungen treffen; weil sie etwas getan haben, was für die Herde schlecht ist. Moral ist nichts für die Ewigkeit, und sie ist auch nicht vom Himmel gefallen, es gibt einfach Regeln, die für das Wohlergehen der Herde notwendig sind. Wer nicht in der Lage ist, sich an diese Regeln zu halten, sich bestimmte Handlungsmuster anzueignen, hat keine Chance, denn der freie Wille hilft hier nicht weiter – er ist eine Illusion. Denn wie alle anderen tut auch der Kriminelle nur, was er tun muss. Und wir müssen sie ausschalten, damit sie sich nicht zusammenschließen und die Herde mit ihrem nichtfunktionalen Verhalten anstecken.

Als Simon Kefas sich an diesem Abend im Spiegel ansah, erblickte er einen Roboter. Eine komplizierte Konstruktion mit vielen Möglichkeiten. Aber eben doch ein Roboter.

Wofür wollte er diesen Jungen also bestrafen? Was hatte Sonny vor? Eine Welt retten, die nicht gerettet werden wollte? Etwas ausrotten, dessen Nutzen wir uns nicht eingestehen wollen? Denn wer schaffte es denn, in einer Welt ohne Kriminalität zu ­leben, ohne den stumpfsinnigen Aufruhr der Idioten, ohne das Irrationale, das für Bewegung sorgt, für Veränderung. Ohne Hoffnung auf eine bessere – oder schlechtere – Welt. Es ist die teuflische Ruhelosigkeit, der Trieb des Hais, ständig in Bewegung zu bleiben und Sauerstoff aufzunehmen. »Es ist gut, wie es ist. Jetzt. Lass uns hierbleiben. So.« Nur passiert das nie.

Simon hatte die Schritte gehört und kontrolliert, ob die Waffe auch entsichert war.

Der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht. Schnelle Schritte. Er zählte die Sekunden, ließ sich im Spiegel über dem Waschbecken im Bad nicht aus den Augen. Der Junge hatte gesehen, dass alles im Zimmer unverändert war, entspannte sich automatisch und ließ die Deckung fallen. Er konnte ins Bad kommen, doch dann hätte er eine Schusswaffe längst abgelegt. Simon zählte weiter.

Bei zwanzig öffnete er die Tür und trat mit gezückter Pistole in den Raum.

Der Junge saß auf dem Bett.

Er trug eine Bandage um den Kopf. Vor ihm auf dem Boden lag der Aktenkoffer aus dem Schrank. Er war offen und voller Tüten mit einer weißlichen Substanz. Simon musste nicht fragen, was das war. Der Junge hatte in eine der Tüten ein Loch gemacht. In der linken Hand hielt er einen Teelöffel mit Pulver, in der anderen ein Feuerzeug. Auf dem Bett lagen eine Packung Einwegspritzen und ein Set Kanülen.

»Und wer schießt jetzt zuerst?«, fragte der Junge.


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