Kapitel 3

Per Vollan ging durch den Park am Alexander Kiellands plass. Nach dem nassen und ungewöhnlich kalten Juli schien endlich wieder die Sonne, und der Park leuchtete so grün wie im Frühling. Um ihn herum hatten die Menschen die Augen geschlossen und die Gesichter der Sonne zugewandt, um das Licht in vollen Zügen zu genießen. Skateboards kratzten über den Boden, Bierflaschen klirrten, und überall im Park und auf den Balkonen saßen Leute. Und auch die anderen waren da: die grauen, vom rund um den Platz pulsierenden Verkehr verrußten Gestalten. Sie hockten zusammengesunken auf der Bank am Springbrunnen und schienen trotz des guten Wetters zu frieren. Trotzdem schätzten gerade sie die Rückkehr der Sonne mehr als alle anderen. Es klang wie Möwengeschrei, als sie ihn mit ihren heiseren Zurufen grüßten. Er blieb stehen und wartete darauf, dass die Ampel an der Kreuzung Uelands gate und Waldemar Thranes gate grün wurde, während Lastwagen und Busse dicht an ihm vorbeifuhren. Die Fassade, die auf der anderen Seite der Straße emporragte, wurde immer wieder vom Verkehr verdeckt. Die Fenster der berüchtigten Kneipe Tranen waren mit Plastik verhängt. Dort hatten durstige Seelen seit der Errichtung des Hauses 1921 ihren Frieden finden können. In den letzten dreißig Jahren wurden sie begleitet von Arnie »Skiffle-Joe« Norse, der im Cowboykostüm auf einem Einrad Gitarre spielte und sang, unterstützt von einem älteren blinden Organisten und einer Thaifrau mit Tamburin und Hupe. Per Vollans Blick glitt an der Fassade hoch. Etwas weiter oben prangten die schmiedeeisernen Buchstaben »Ila Pensjonat«. Während des Krieges waren hier Frauen mit unehelichen Kindern aufgenommen worden. Jetzt diente das Haus als städtische Bleibe für schwerstabhängige Junkies. Menschen, die mit den Drogen gar nicht mehr aufhören wollten. Als Endstation.

Per Vollan überquerte die Straße, ging zur Tür, klingelte und schaute direkt in die Kamera. Als er das Summen des Türöffners hörte, betrat er das Haus. Man hatte ihm aus Gefälligkeit für zwei Wochen ein Zimmer gegeben – vor einem Monat.

»Hallo, Per«, sagte die junge Frau mit den braunen Augen, die herunterkam und ihm das Gitter vor der Treppe öffnete. Jemand hatte das Schloss zerstört, die Schlüssel passten von außen nicht mehr.

»Das Hospiz-Café ist eigentlich schon zu, ich glaube aber, es ist noch Essen da. Du musst dich aber beeilen.«

»Danke Martha, ich habe keinen Hunger.«

»Du siehst müde aus.«

»Ich bin vom Staten zu Fuß gelaufen.«

»Oh? Fuhr der Bus nicht?«

Sie ging vor ihm die Treppe hinauf, und er folgte ihr langsam. »Ich musste nachdenken«, sagte er.

»Übrigens, da hat sich jemand nach dir erkundigt.«

Per blieb stehen. »Wer?«

»Ich hab nicht gefragt. Könnten aber Polizisten gewesen sein.«

»Wie kommst du darauf?«

»Die schienen dich wirklich dringend sprechen zu wollen, deshalb dachte ich, es geht vielleicht um einen Häftling, den du kennst.«

Die hatten es aber eilig, dachte Per. »Martha? Glaubst du eigentlich an etwas?«

Sie drehte sich auf der Treppe um und lächelte, und Per kam in den Sinn, dass man sich als junger Mann in dieses Lächeln Hals über Kopf verlieben konnte.

»Wie Gott oder Jesus?«, fragte Martha. Auf dem Flur griff sie nach dem Türpfosten und schwang sich in die angrenzende Rezeption, nahm hinter dem Tisch Platz und schaute Per durch die offene Klappe an.

»Oder das Schicksal. Zufälle oder kosmische Schwerkraft.«

»Ich glaube an die irre Greta«, murmelte Martha und blätterte ihre Papiere durch.

»Geister gibt es nicht …«

»Inger hat gesagt, dass sie in der Nacht wieder das Kinderweinen gehört hat.«

»Inger ist eine empfindsame Seele, Martha.«

Sie steckte den Kopf durch die Klappe. »Wir müssen noch über etwas anderes sprechen, Per …«

Er seufzte. »Ich weiß, es ist voll hier und …«

»Die Renovierung nach dem Brand kommt nur langsam voran, und mehr als vierzig Bewohner leben noch immer in Doppelzimmern. Auf lange Sicht geht das nicht. Die beklauen sich gegenseitig, und das endet dann immer in Schlägereien. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis einer den anderen absticht.«

»Ist schon okay, ich bleibe nicht mehr lange.«

Martha neigte den Kopf zur Seite und sah ihn nachdenklich an. »Warum will sie dich eigentlich nicht mehr zu Hause haben? Ihr wart doch so lange verheiratet. Vierzig Jahre, oder?«

»Achtunddreißig. Es ist ihr Haus und … ach, das ist kompliziert.« Per lächelte müde.

Er ließ sie stehen und ging über den Flur zu seinem Zimmer. Hinter zwei Türen dröhnte Musik. Amphetamin. Es war Montag, die Sozialämter waren nach dem Wochenende wieder geöffnet, und das brachte gewisse Möglichkeiten mit sich. Er schloss seine Tür auf. Der heruntergekommene kleine Raum, mit Platz für ein Bett und einen Kleiderschrank, kostete sechstausend im Monat. Außerhalb von Oslo konnte man für diese Summe ganze Wohnungen mieten.

Er setzte sich auf das Bett und starrte durch das verdreckte Fenster nach draußen. Der Verkehr brummte einschläfernd. Die Sonne fiel durch die dünnen Gardinen, und im Fensterrahmen kämpfte eine Fliege um ihr Leben. Sie würde bald sterben. So war es nun einmal. Nicht der Tod, sondern das Leben. Der Tod war nichts. Wann war ihm das erste Mal klargeworden, dass all das, was er immer predigte, nur ein Bollwerk der Menschen gegen ihre Todesangst war? Aber das hatte jetzt keine Bedeutung mehr. Denn das, was Menschen zu wissen glaubten, war nichts im Vergleich zu dem, was sie glauben wollten, um Angst und Schmerzen im Zaum zu halten. Vollan glaubte an einen Gott der Vergebung und an ein Leben nach dem Tod. Er glaubte mehr dar­an als jemals zuvor.

Er zog einen Block unter einer Zeitung hervor und begann zu schreiben.

Viel brauchte Per Vollan nicht zu notieren. Ein paar Sätze auf einem Zettel reichten. Er strich seinen Namen auf dem gebrauchten Umschlag durch. Der Brief von Almas Anwalt, in dem sie kurz skizziert hatten, was Per aus ihrer Sicht aus dem gemein­samen Haushalt zustand. Die Liste war nicht lang gewesen.

Der Gefängnispastor warf einen Blick in den Spiegel, rückte den Pastorenkragen zurecht, nahm den langen Mantel aus dem Schrank und ging.

Martha war nicht an der Rezeption. Inger nahm den Umschlag entgegen und versprach, ihn ihr zu geben.

Die Sonne stand tiefer am Himmel, der Tag ging seinem Ende entgegen. Vollan lief durch den Park und registrierte aus den ­Augenwinkeln, dass jeder seine Rolle spielte. Fast bis zur Perfektion. Niemand stand zu schnell von einer Bank auf, nachdem er vorbei war, und es fuhren auch keine Autos vom Straßenrand los, als er ganz gegen seine Gewohnheit über die Sannergata hin­unter zum Fluss ging. Aber sie waren da. In dem Fenster, das den friedlichen Sommerabend spiegelte, in dem gleichgültigen Blick eines Passanten, in der Kälte der Schatten, die auf der Ostseite der Häuser emporkrochen, das Sonnenlicht vertrieben und neues Territorium eroberten. Per Vollan dachte, dass sein ganzes Leben ein immerwährender Kampf zwischen Hell und Dunkel gewesen war, aus dem nie ein Sieger hervorgegangen war. Oder doch? Hatte das Dunkel nicht mit jedem Tag etwas mehr die Oberhand gewonnen?

Sie waren auf dem Weg in die lange Nacht.

Er beschleunigte seine Schritte.


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