Kapitel 14

Johnny Puma drehte sich im Bett um und musterte seinen neuen Zimmerkameraden. Er hatte keine Ahnung, wer auf das Wort Zimmerkamerad gekommen war, diese Bezeichnung war vermutlich nirgendwo so unpassend wie hier im Ila. Zimmerfeind wäre passender gewesen. Bis jetzt hatte noch jeder, der mit ihm auf dem Zimmer gewesen war, ihn ausgeraubt oder es wenigstens versucht. Und umgekehrt. Deshalb hatte er sich all seine Habseligkeiten, also eine wasserdichte Geldbörse mit dreitausend Kronen und einen doppelten Plastikbeutel mit drei Gramm Amphetamin, an die Außenseite seines Schenkels geklebt. Er war dort so behaart, dass er selbst im Tiefschlaf jeden Diebstahlsversuch bemerken würde. Womit seine beiden Lebensthemen der letzten zwanzig Jahre auch schon genannt wären: Amphetamin und Schlaf. Johnny Puma waren so ziemlich alle Diagnosen gestellt worden, mit denen man seit Ende der 1970er Jahre entschuldigen konnte, weshalb man lieber feierte als arbeitete, lieber prügelte und fickte, statt eine Familie zu gründen und Kinder zu erziehen, und sich lieber mit Drogen zuknallte, statt ein mörderisch langweiliges Leben in Nüchternheit zu führen. Die letzte Diagnose war allerdings zu seiner Bestimmung geworden: ME. Myalgische Enzephalomyelitis. Chronische Erschöpfung. Und das bei Johnny Puma, dem bärenstarken Gewichtheber, dem Mittelpunkt eines jeden Festes, dem gefragtesten Umzugsmann von ganz Lillesand! Jeder, der das hörte, musste erst einmal lachen. Angefangen hatte es mit einer kaputten Hüfte, mit Schmerzmitteln, die nicht wirkten, gefolgt von Schmerzmitteln, die dann wie wahnsinnig wirkten … womit es auch schon um ihn geschehen war. Inzwischen bestand sein Leben aus langen Tagen im Bett, unterbrochen von kurzen intensiven Phasen, in denen er all seine Energie darauf konzentrieren musste, sich die nötigen Drogen zu beschaffen. Oder Geld, um die jetzt schon beunruhigend hohen Schulden zu bezahlen, die er bei Coco, dem litauischen Drogenbaron des Hospizes, einer halboperierten Transe, hatte.

Johnny sah der Gestalt am Fenster an, dass sie sich auf die immer gleiche, nicht enden wollende Jagd vorbereitete. Auf den Stress. Die Arbeit.

»Kannst du die Gardine zuziehen, Kumpel?«

Der andere gehorchte, und der Raum wurde angenehm dunkel.

»Was nimmst du für Zeug?«

»Heroin.«

Hier im Haus nannten sie Heroin nur Dope. Allenfalls Shit, H, Brown Sugar oder Boy. Oder Superboy, wenn es um das neue Wunderpulver ging, das der Typ, der wie der verschlafene Zwerg aus Schneewittchen aussah, unten an der Nybrua vertickte. Heroin sagte man nur noch im Knast. Außer man war neu. Obwohl die wirklich blutigen Anfänger oft China White oder Caballo sagten oder irgendeinen anderen Mist, den sie irgendwo im Fernsehen gehört hatten.

»Ich kann dir guten, billigen Stoff besorgen, du brauchst dich um nichts zu kümmern.«

Johnny sah, dass sich etwas an der Gestalt am Fenster veränderte. Er kannte das. Manche Junkies auf Entzug brauchten nur an Dope zu denken, um high zu werden. Es sollte sogar wissenschaftlich nachgewiesen worden sein, dass es Veränderungen im Drogenzentrum des Gehirns gab, kurz bevor man sich einen Schuss setzte. Bei vierzig Prozent Provision auf das Dope, das er beim Häuptling aus der 306 kaufte, waren drei oder vier Tütchen Speed für ihn selbst drin. Das war allemal besser, als erst wieder in der Nachbarschaft klauen zu gehen.

»Nein. Danke. Wenn du schlafen willst, kann ich auch wieder gehen.«

Die Stimme am Fenster war so leise, dass Johnny sich wunderte, wie sie durch den konstanten Lärm des Ila dringen konnte. Durch diese Mischung aus Geschrei, Musik, Gefeilsche und Straßenlärm. Ob er das nur gesagt hatte, weil er ihn ausrauben oder den Stoff finden wollte, der an seinem Oberschenkel klebte?

»Ich schlafe nie, ich mache höchstens mal kurz die Augen zu, verstanden, Kumpel?«

Der Mann nickte. »Ich geh trotzdem raus.«

Nachdem die Tür hinter seinem neuen Zimmerfeind ins Schloss gefallen war, kam Johnny Puma auf die Beine. Zwei Minuten später hatte er das obere Bett und den Schrank durchsucht. Nichts. Absolut nichts. Ein Anfänger konnte der Typ also nicht sein, er trug alles am Körper.

Markus Engseth hatte Angst.

»Und, machst du dir jetzt in die Hose?«, fragte der größere der beiden Jungs, die vor ihm standen.

Markus schüttelte den Kopf und schluckte.

»Oh, doch, du schwitzt ja schon wie ein Schwein, du hast Angst, du fette Sau. Riech doch mal, wie es hier stinkt.«

»Och, guck mal, jetzt fängt der auch noch zu flennen an«, sagte der Kleinere lachend.

Die beiden waren bestimmt fünfzehn, wenn nicht sogar sechzehn oder siebzehn, dachte Markus. Auf jeden Fall viel größer und stärker als er.

»Wir wollen uns das doch nur ausleihen«, sagte der Größere und packte den Lenker von Markus’ Fahrrad. »Du kriegst es auch wieder.«

»Irgendwann«, sagte der Kleinere und grinste.

Markus sah sich in der ruhigen Straße um, aber die Fenster waren nicht mehr als blinde schwarze Glasflächen. Normalerweise war er froh, wenn niemand ihn beobachtete. Normalerweise sehnte er sich danach, unsichtbar zu sein, sich durch das Tor zu schleichen und ungesehen zu dem leerstehenden gelben Haus zu gelangen. Doch jetzt wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass irgendwo ein Fenster aufging und ein Erwachsener herüberrief, dass die großen Jungs verschwinden sollten. Zurück nach Tåsen oder Nydalen oder woher sie auch kamen. Stattdessen war es vollkommen still. Sommerstill. Ferienzeit. Die anderen Kinder waren mit ihren Eltern auf irgendwelchen Hütten, am Strand oder im Ausland. Für Markus kein großer Unterschied, da kaum jemand mit ihm spielte. Das Leben war wirklich nicht ungefährlich, wenn man klein und ganz allein unterwegs war.

Als der größere Junge Markus den Lenker aus der Hand riss, spürte er, dass er die Tränen nicht mehr lange zurückhalten konnte. Seine Mutter hatte das Fahrrad mit dem Ersparten bezahlt, mit dem sie sonst hätten Ferien machen können.

»Mein Papa ist zu Hause«, sagte er und zeigte auf das rote Haus am Ende der Straße. Es stand schräg gegenüber dem leerstehenden gelben, in dem er gerade gewesen war.

»Und warum hast du dann noch nicht nach ihm gerufen?« Der Junge nahm auf dem Fahrrad Platz und wippte etwas, er schien mit der wenigen Luft in den Reifen unzufrieden zu sein.

»Papa!«, schrie Markus, hörte aber selbst, wie halbherzig und falsch sein Rufen klang.

Beide Jungs lachten laut. Der andere hatte sich auf den Gepäckträger gesetzt, und Markus fiel auf, dass der Reifen fast von der Felge rutschte.

»Ich glaube, du hast gar keinen Papa«, sagte er und spuckte auf den Boden. »Fahr los, Herman!«

»Versuch ich ja, aber du musst loslassen.«

»Wie loslassen?«

Alle drei drehten sich um.

Ein Mann stand hinter dem Fahrrad und hielt den Gepäckträger fest. Dann hob er das Hinterrad an, und beide Jungs kippten nach vorne. Sie stiegen ab und starrten den Mann an.

»He, verdammt, was machen Sie?«, fauchte der Größere.

Der Mann antwortete nicht, er sah sie nur an. Markus regis­trierte seine merkwürdigen Haare, das Heilsarmee-Emblem auf dem T-Shirt und die Wunden an den Unterarmen. Auf einmal war es so still, dass Markus glaubte, in ganz Berg die Vögel singen zu hören. Auch die beiden Jungs schienen die Unterarme des Mannes bemerkt zu haben. Die Stimme des größeren Jungen hatte plötzlich einen anderen Klang, beklommen und dünn, als er sagte:

»Nehmen Sie es ruhig.«

Der Mann ließ sie nicht aus den Augen. Dann gab er Markus ein Zeichen, das Fahrrad zu halten. Die zwei Jungs wichen zurück.

»Wo wohnt ihr?«

»In Tåsen. Sind Sie … sind Sie sein Vater?«

»Kann schon sein. Nächster Halt Tåsen, verstanden?«

Die Jungen nickten synchron. Drehten sich um und marschierten davon.

Markus sah zu dem Mann auf, der ihm zulächelte. Hinter sich hörten sie einen der Jungen sagen: »Der nimmt Drogen, hast du das gesehen?«

»Ich heiße Markus«, sagte er.

»Einen schönen Sommer noch, Markus«, sagte der Mann und ging. Er öffnete das Gartentor des gelben Hauses. Markus hielt die Luft an. Es war ein Haus wie all die anderen Häuser in der Straße, viereckig wie ein Karton, nicht sonderlich groß und mit einem kleinen Garten ringsherum. Es brauchte dringend einen neuen Anstrich, und der Garten schrie förmlich nach einem Rasenmäher. Aber es war das Haus. Der Mann ging direkt zur Kellertreppe. Nicht zum Eingang, wie ein Vertreter oder die Zeugen Jehovas. Wusste er etwa, dass der Schlüssel auf dem Balken über der Kellertür lag? Markus hatte ihn immer wieder dorthin zurückgelegt.

Seine Frage wurde beantwortet, als sich die Kellertür mit einem Knarzen öffnete und kurz darauf wieder ins Schloss fiel.

Markus riss den Mund auf. Solange er sich erinnern konnte, war niemand länger im Haus gewesen. Seine Erinnerung setzte zwar erst im Alter von fünf Jahren ein, also vor sieben Jahren, aber dieses Haus hatte immer leer gestanden. Wer wohnte schon gern in einem Haus, in dem sich jemand umgebracht hatte?

Nur zweimal im Jahr kam ein Mann ins Haus. Markus hatte ihn nur einmal gesehen, aber gleich gewusst, dass das der Mann sein musste, der im Herbst die Heizung ein ganz klein wenig aufdrehte, um sie im Frühling dann wieder auszustellen. Bestimmt zahlte der auch die Stromrechnungen. Mama meinte, ohne Strom wäre dieses Haus schon lange verfallen, sie kannte den Mann aber auch nicht. Er hatte anders ausgesehen als der, der jetzt im Haus war. Da war sich Markus ganz sicher.

Markus entdeckte das Gesicht des Neuankömmlings im Küchenfenster. Das Haus hatte keine Gardinen, weshalb Markus drinnen immer einen Bogen um die Fenster machte. Er wollte ja nicht gesehen werden. Der Mann machte nicht den Eindruck, als drehte er irgendwo irgendwelche Heizungen an. Was machte er denn nur da drinnen? Wie …? Dann fiel Markus sein Teleskop ein.

Markus schob das Fahrrad durch das Tor des Grundstücks mit dem roten Haus und stürmte nach oben in sein Zimmer im ersten Stock. Das Teleskop, eigentlich ein ganz normales Fernrohr, war alles, was von seinem Vater geblieben war, nachdem er sie verlassen hatte. Das sagte jedenfalls Mama. Markus richtete das Fernrohr auf das gelbe Haus und stellte es scharf. Der Mann war verschwunden. Markus fuhr mit dem kreisrunden Blickfeld an der Hauswand entlang, von Fenster zu Fenster. Und im Schlafzimmer entdeckte er ihn wieder. Dort hatte der Drogensüchtige gewohnt. Markus kannte jede Ecke und jeden Winkel dieses Hauses, er hatte es regelrecht erforscht. Sogar das Versteck unter den losen Dielen im Schlafzimmer mit dem Doppelbett hatte er gefunden. Um keinen Preis hätte er im Haus wohnen wollen, auch nicht, wenn dort niemand gestorben wäre. Denn zum Schluss hatte der drogensüchtige Sohn des Toten allein dort ­gewohnt und alles verkommen lassen. Die Unordnung war gewaltig, und repariert hatte er auch nichts, es kam Wasser durchs Dach, wenn es regnete. Der Sohn war aber kurz nach Markus’ Geburt verschwunden. Ins Gefängnis, sagte Mama. Er sollte jemanden umgebracht haben. Markus nahm an, dass auf dem Haus vielleicht ein Fluch lag und die, die dort wohnten, entweder sich selbst oder andere töteten. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Dabei hatte ihn ja gerade das Geheimnisvolle so fasziniert. Es war gruselig, und man konnte sich immer neue Geschichten rund um das Haus ausdenken. Nur dass er heute nichts erfinden musste, heute passierte da drinnen wirklich etwas, von ganz allein.

Der Mann hatte ein Fenster geöffnet, verständlich, es roch da drinnen auch nicht gut. Markus mochte diesen Raum am liebsten, trotz des dreckigen Bettzeugs, der Spritzen auf dem Boden und der blutigen Wattebäuschchen, die überall herumlagen. Jetzt stand der Mann mit dem Rücken zum Fenster und betrachtete die mit Heftzwecken an der Wand befestigten Bilder, die Markus sich so gern ansah. Es waren Familienfotos, auf denen drei Menschen so richtig glücklich aussahen. Der Junge im Ringeranzug, der gemeinsam mit seinem Vater den Pokal in die Höhe reckte. Das Bild des Vaters in Polizeiuniform.

Der Mann öffnete den Schrank und nahm den grauen Kapuzenpulli und die Sporttasche mit dem weißen Aufdruck des Osloer Ringerclubs heraus. Er schien noch ein paar andere Sachen in die Tasche zu packen, Markus konnte aber nicht erkennen, was es war. Dann verließ der Mann das Zimmer. Kurz darauf tauchte er im »Büro« wieder auf, dem kleinen Raum mit dem Schreibtisch am Fenster. Mama sagte, dass sie dort den Toten gefunden hatten. Der Mann suchte neben dem Fenster nach etwas. Markus wusste genau, wonach, aber es war nicht leicht zu finden, wenn man sich nicht auskannte. Dann stand der Mann wieder vor dem Schreibtisch, und es sah so aus, als zöge er die Schublade heraus. Da er aber die Sporttasche auf den Tisch gestellt hatte, konnte Markus das nur vermuten.

Entweder hatte er gefunden, was er suchte, oder er hatte es aufgegeben, denn er nahm die Sporttasche und verließ das Büro. Kurz darauf tauchte er im Schlafzimmer der Erwachsenen auf, bevor er nach unten ging und aus Markus’ Blickfeld verschwand.

Zehn Minuten später öffnete sich die Kellertür, und der Mann kam die Treppe hoch. Er hatte den Pulli an, die Kapuze hochgezogen, und die Tasche hatte er sich über die Schulter gehängt. Er ging durch den Garten zum Zaun.

Markus rannte nach unten und stürmte durch die Tür. Er sah den Rücken des Kapuzenpullis über den Zaun des gelben Hauses springen und schlich selbst zur Kellertür. Gespannt tastete er mit den Fingern über den Balken. Der Schlüssel war noch da! Erleichtert atmete er aus. Er hatte keine Angst, nicht wirklich, schließlich war das sein Haus. Der Eindringling war der andere. Wenn der nicht …

Er rannte nach oben ins Büro. Steuerte gleich auf die gut gefüllten Regale zu. Auf dem zweiten Brett schob er die Finger zwischen Herr der Fliegen und Die Disteln brennen. Der Schlüssel der Schreibtischschublade war da. Aber war er gefunden und benutzt worden? Er steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und drehte ihn herum. Sein Blick fiel auf die Tischplatte. Auf dem Holz war ein dunkler Fleck. Natürlich konnte das auch ein alter Handabdruck sein. Markus zweifelte aber nicht daran, dass er von dem Kopf stammte, der da in einer Blutlache gelegen hatte. An der Wand waren Blutspritzer gewesen, genau wie im Film.

Markus starrte in die Schublade und hielt den Atem an. Sie war nicht mehr da. Er musste es also wirklich gewesen sein. Der Sohn war zurückgekommen. Niemand sonst konnte wissen, wo der Schlüssel der Schreibtischschublade lag. Und er hatte Einstichwunden an den Armen …

Markus ging in das Zimmer des Jungen. Sein Zimmer. Sah sich um und bemerkte sofort, was fehlte. Das Bild des Vaters in der Polizeiuniform. Der Discman. Und eine der vier CDs. Er ging die Titel der drei anderen durch. Violator von Depeche Mode fehlte. Markus hatte sie sich angehört, die Musik aber nicht sonderlich gemocht.

Er setzte sich in die hinterste Ecke des Raums, um von der Straße aus nicht gesehen zu werden, und lauschte in die sommerliche Stille. Der Sohn war zurück. Markus hatte für den Jungen auf dem Bild ein ganzes Leben erfunden. Er war aber nicht auf den Gedanken gekommen, dass dieses Leben weiterging, der Junge älter wurde und zurückkommen konnte. Jetzt hatte er sich geholt, was in der Schreibtischschublade gelegen hatte.

Markus hörte, dass die Stille von einem Geräusch durchbrochen wurde. Das Brummen eines Motors näherte sich.

»Sind Sie sicher, dass die Nummern nicht andersherum laufen?«, fragte Kari und suchte die Fassaden der nüchternen Holzhäuser nach Ziffern ab, um sich zu orientieren. »Vielleicht sollten wir den da fragen.«

Sie nickte in Richtung eines Mannes, der mit gesenktem Blick auf sie zukam. Er hatte sich die Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht gezogen und trug eine rote Tasche über der Schulter.

»Das Haus liegt hinter dem Hügel da«, sagte Simon und gab Gas. »Vertrauen Sie mir.«

»Dann kannten Sie also seinen Vater?«

»Ja. Was haben Sie über den Sohn herausgefunden?«

»Die paar Leute im Gefängnis, die über ihn reden wollten, halten ihn für einen ruhigen, friedfertigen Menschen, den eigentlich auch alle gemocht hätten. Richtige Freunde hatte er aber keine, er soll sehr zurückgezogen gelebt, nicht viel gesagt haben. Verwandte konnte ich nicht finden. Die Adresse hier ist die letzte vor seiner Festnahme.«

»Hausschlüssel?«

»Die waren bei seinen persönlichen Sachen im Gefängnis. Sie haben mich gar nicht erst nach einer Genehmigung gefragt, wegen des Ausbruchs lag der Durchsuchungsbescheid ohnehin vor.«

»Dann waren vor uns schon andere da?«

»Nur um zu überprüfen, ob er nach Hause gegangen ist. Aber für so dumm hat ihn eigentlich niemand gehalten.«

»Keine Freunde, keine Verwandten, kein Geld. Viele Möglichkeiten bleiben ihm da nicht. Sie werden schon noch merken, dass Verurteilte oft überraschend dumm sind.«

»Das ist mir durchaus bekannt, aber diese Flucht ist nicht gerade das Werk eines Idioten.«

»Wohl eher nicht, nein«, sagte Simon.

»Ganz sicher nicht«, betonte Kari. »Sonny Lofthus hatte in der Schule ausgezeichnete Noten, und in seiner Altersklasse war er landesweit einer der besten Ringer. Nicht weil er der Stärkste war, sondern weil er ein so guter Taktiker gewesen ist.«

»Sie haben gründliche Arbeit geleistet.«

»Nein«, sagte sie. »Google, PDFs von alten Zeitungsartikeln und ein paar Telefonate. Nicht gerade Hexenwerk.«

»Da ist das Haus«, sagte er.

Sie stellten den Wagen ab, stiegen aus, und Kari öffnete das Gartentor.

»Ganz schön verfallen«, sagte sie.

Simon holte seine Dienstwaffe hervor und entsicherte sie, und Kari schloss die Haustür auf. Dann ging er mit gezogener Waffe als Erster ins Haus. Neben dem Eingang blieb er stehen und lauschte. Er drückte den Lichtschalter, und eine Lampe an der Wand ging an. »Oh«, flüsterte er, »ungewöhnlich für ein leerstehendes Haus. Normalerweise stellt man den Strom ab. Könnte darauf hindeuten, dass kürzlich …«

»Falsch«, sagte Kari. »Habe ich überprüft. Die ganze Haftzeit hindurch ist der Strom für diese Adresse von einem Fonds auf den Cayman-Inseln bezahlt worden. Wer dahintersteckt, ist unklar. Es geht nicht um große Summen, aber …«

»… na, seltsam ist das schon«, sagte Simon. »Aber okay, als Ermittler lieben wir ja solche Rätsel.«

Er ging über den Flur in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Ausgeschaltet, obwohl im Innern noch ein einzelner Milchkarton stand. Er nickte Kari zu, die ihn kurz fragend ansah, dann verstand sie. Sie roch an der Öffnung des Kartons und schüttelte ihn. Ein Klumpen flog hin und her, der einmal Milch gewesen war. Dann folgte sie Simon durchs Wohnzimmer und über die Treppe nach oben. Sie überprüften alle Räume und betraten schließlich das Zimmer, das einmal das Kinderzimmer gewesen sein musste. Simon blieb stehen und schnupperte.

»Die Familie«, sagte Kari und zeigte auf eines der Bilder an der Wand.

»Ja«, erwiderte Simon.

»Die Mutter erinnert mich an eine Schauspielerin oder Sängerin.«

Simon antwortete nicht. Er starrte auf das Bild, das fehlte. Genauer gesagt: auf den hellen Fleck auf der Tapete, der verriet, dass dort einmal ein Foto gehangen hatte. Dann schnupperte er wieder.

»Ich habe Sonnys alten Lehrer erreicht«, sagte Kari. »Er hat mir erzählt, dass Sonny früher mal Polizist werden wollte, wie sein Vater. Und dass er sich nach dessen Tod vollkommen verändert hat. Plötzlich gab es Probleme in der Schule, er stieß Menschen von sich, suchte die Einsamkeit und die Selbstzerstörung. Auch seine Mutter ist an dem Selbstmord zerbrochen. Sie …«

»Helene«, sagte Simon.

»Was?«

»Ihr Name war Helene. Sie hat Schlaftabletten genommen.« ­Simons Blick schweifte durch den Raum und blieb an dem staubigen Nachttisch hängen. Kari referierte weiter.

»Als Sonny achtzehn war, legte er ein Geständnis ab und wurde wegen zweifachen Mordes verurteilt.«

Da war ein Streifen im Staub.

»Bis dahin hatten die Ermittlungen der Polizei etwas ganz anderes vermuten lassen.«

Simon war mit zwei schnellen Schritten am Fenster. Die Nachmittagssonne schien auf ein Fahrrad, das vor dem roten Haus am Treppengeländer lehnte. Er schaute in die Richtung, aus der sie gekommen waren, aber es war niemand mehr zu sehen.

»Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen«, sagte er.

»Wie meinen Sie das?«

Simon schloss die Augen. Schaffte er das? Noch einmal? Er holte tief Luft.

»Die ganze Polizei hielt Ab Lofthus für den Maulwurf. Die Kollegen waren der Meinung, dass es seit seinem Tod auch keine Maulwurfstätigkeit mehr gegeben hätte, keine seltsam fehlgeschlagenen Razzien, keine Spuren, Zeugen oder Verdächtigen, die plötzlich von den Listen verschwanden. Man nahm das als Beweis.«

»Aber?«

Simon zuckte mit den Schultern. »Ab war stolz auf seinen Job. Er war stolz, ein Teil des Polizeiapparats zu sein. Es ging ihm nicht darum, reich zu werden, für ihn zählte nur die Familie. Andererseits gab es aber auch keinen Zweifel, dass es einen Maulwurf gab.«

»Und das heißt?«

»Irgendjemand musste herausfinden, wer dieser Maulwurf war.«

Simon schnupperte wieder. Schweiß. Es roch nach Schweiß. Es musste erst vor kurzem jemand hier gewesen sein.

»Und wer?«, fragte sie.

»Tja. Jemand mit Ambitionen und jugendlichem Eifer, zum Beispiel.« Simon sah zu Kari. Über ihre Schulter hinweg. Zur Schranktür.

Schweiß. Furcht.

»Es ist niemand hier«, sagte Simon laut. »Gut. Gehen wir nach unten.«

Mitten auf der Treppe blieb Simon stehen und machte Kari ein Zeichen weiterzugehen. Er selbst wartete. Umklammerte lauschend den Griff seiner Waffe.

Stille.

Dann folgte er Kari.

Er ging in die Küche, nahm einen Stift und schrieb etwas auf einen Post-it-Block.

Kari räusperte sich. »Was meinte Franck eigentlich mit diesem Seitenhieb in Richtung Dezernat für Wirtschaftskriminalität?«

»Ach, am liebsten würde ich nicht darüber reden«, sagte Simon, löste den Zettel vom Block und klebte ihn auf die Kühlschranktür.

»Hatte das was mit dem Spielen zu tun?«

Simon sah sie scharf an und ging.

Sie las, was er geschrieben hatte.

Ich kannte Deinen Vater. Er war ein guter Mann, und ich glaube, er würde das Gleiche auch über mich sagen. Ruf mich an, und ich verspreche Dir, dass Du auf sichere und anständige Weise wieder eingeliefert wirst. Simon ­Kefas, Tel. 550106573. simon.kefas@oslo-pol.no

Dann eilte sie ihm nach.

Markus Engseth hörte, wie der Motor gestartet wurde, und traute sich endlich wieder zu atmen. Er hockte zwischen den Anziehsachen, den Rücken gegen die Wand des Schranks gedrückt. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie solche Angst gehabt. Er roch den Gestank. Sein T-Shirt klebte auf der Haut vor lauter Schweiß. Und trotzdem. Irgendwie war es auch toll gewesen. Wie ein Sprung vom Zehner im Frognerbad, wenn man im freien Fall dachte, dass man schlimmstenfalls starb. Was so schlimm ja auch nicht wäre.


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