Kapitel 18

Am frühen Nachmittag ging ein schwerer Regenschauer über Oslo nieder, aber ohne die Stadt merkbar abzukühlen. Und als kurz darauf die Sonne erneut durch die Wolkendecke brach, schien sie die verlorene Zeit aufholen zu wollen und briet die Hauptstadt in weißem Licht. Dampfschwaden stiegen von Dächern und Straßen auf.

Louis wachte auf, als die Sonne so tief stand, dass die Strahlen sein Gesicht trafen. Er blinzelte in die Welt. Menschen und Autos, die sich vor ihm und seinem Bettelbecher hin und her bewegten. Das Geschäft war nicht schlecht gelaufen, bis vor einigen Jahren aus Rumänien Zigeuner zu ihnen gekommen waren, erst wenige, dann viele. Eine ganze Horde. Ein stehlender, bettelnder, betrügerischer Heuschreckenschwarm. Und wie Heuschrecken sollte man sie eigentlich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen. Louis war ganz entschieden der Meinung, dass norwegische Bettler – nicht anders als norwegische Reeder – Anspruch auf einen gewissen staatlichen Schutz gegen ausländische Konkurrenz hatten. So wie es jetzt lief, war er immer wieder gezwungen zu stehlen, was nicht nur anstrengend, sondern auch wirklich unter seiner Würde war.

Er seufzte und tippte mit einem schmutzigen Zeigefinger gegen den Becher. Hörte er etwas? Keine Münzen. Scheine? Sollte dem so sein, musste er die schnell wegpacken, bevor sie ihm von einem dieser Zigeuner weggeschnappt wurden. Er schaute in den Becher. Kniff die Augen zu und schaute noch einmal hin. Dann schob er die Finger hinein. Es war eine Uhr. Eine Damenuhr. Rolex. Bestimmt eine Kopie. Aber schwer. Sehr schwer. Trugen die Menschen wirklich derart schwere Dinger an ihren Handgelenken? Er hatte gehört, dass diese Uhren sogar unter Wasser funktionierten, und das auch noch in fünfzig Meter Tiefe, vermutlich war das aber nur folgerichtig, wenn man mit derartigen Gewichten schwimmen ging. Konnte es sein, dass …? Manche Menschen waren ja wirklich verrückt, daran gab es keinen Zweifel. Louis ließ seinen Blick über die Straße schweifen. Er kannte den Uhrmacher an der Ecke der Stortingsgata, sie waren mal in die gleiche Klasse gegangen. Vielleicht sollte er …?

Er rappelte sich auf.

Kine stand neben ihrem Einkaufswagen und rauchte eine Zigarette. Aber als die Ampel grün wurde und die anderen losliefen, blieb sie stehen. Sie hatte es sich anders überlegt. Sie wollte heute nicht über die Straße gehen. Also blieb sie stehen und rauchte ihre Zigarette zu Ende. Den Einkaufswagen hatte sie vor langer Zeit bei Ikea gestohlen. Sie hatte ihn auf dem Parkplatz einfach in den Lieferwagen geschoben und ihn wie das Hemnes-Bett, den Hemnes-Couchtisch und das Billy-Regal mit nach Hause genommen. Wo sie ihre Zukunft vermutet hatte. Ihre gemeinsame Zukunft. Er hatte die Möbel zusammengebaut, und dann hatten sie sich beide einen Schuss gesetzt. Er war inzwischen tot, sie nicht. Sie hing nicht einmal mehr an der Nadel. Und sie würde klarkommen, auch wenn sie schon lange nicht mehr in dem Hemnes-Bett geschlafen hatte. Sie drückte die Zigarette aus, packte wieder den Griff des Ikea-Wagens und bemerkte, dass irgendjemand eine Plastiktüte oben auf die dreckige Wolldecke gelegt hatte, mit der sie ihr Hab und Gut schützte. Ärgerlich griff sie nach der Tüte, es war nicht das erste Mal, dass irgendwelche Leute die Ansammlung ihrer irdischen Güter für Müll hielten. Sie drehte sich um, sie wusste, dass da eine Mülltonne war, schließlich kannte sie die alle, zögerte dann aber. Die Tüte war schwer. Sie öffnete sie, schob die Hand hinein und hielt den Inhalt in die Nachmittagssonne. Es glitzerte und blinkte. Schmuck. Halsketten und ein Ring. Die Ketten hatten Diamantanhänger, und der Ring war aus Gold. Echtes Gold und echte Diamanten. Kine war sich beinahe sicher, sie wusste, wie Gold und Diamanten aussahen, hatte so was schon mal in der Hand gehabt. Schließlich hatte sie ja nicht immer auf der Straße gelebt.

Johnny Puma riss die Augen auf, spürte die Angst und drehte sich im Bett um. Er hatte niemanden kommen hören, vernahm jetzt aber ein Keuchen dicht an seinem Ohr. War das Coco? Oder machte hier jemand Liebe? Eigentlich klang das nicht nach Geldeintreibern. Früher hatte einmal ein Pärchen hier im Haus gewohnt, die Verwaltung meinte damals wohl, die beiden bräuchten einander wirklich, weshalb sie von der Vorschrift abgewichen waren, nur Männer im Hospiz wohnen zu lassen. Es war schon möglich, dass er sie gebraucht hatte, jedenfalls finanzierte sie seinen Drogenkonsum, indem sie sich durch alle Zimmer fickte, bis die Verwaltung genug davon hatte und sie rausschmiss.

Das Keuchen kam von dem Neuen. Er lag auf dem Boden von Johnny abgewandt, und aus den Kopfhörern, die er aufgesetzt hatte, drangen ein synthetischer Rhythmus und eine roboter­artige, monotone Stimme. Der Junge machte Liegestütze. Warum man die heute Push-ups nannte, wusste Johnny nicht. Zu seinen besten Zeiten hatte er hundert davon geschafft. Auf einem Arm. Der junge Mann war stark, daran gab es keinen Zweifel, aber die Körperspannung machte ihm Mühe, und sein Rücken bog sich bereits etwas durch. Im Licht, das durch die Gardine fiel und auf die Wand traf, sah er ein Bild, das der junge Mann aufgehängt haben musste. Ein Mann in Polizeiuniform. Und im Fensterrahmen sah er noch etwas anderes. Ohrringe.

Wenn die so teuer waren, wie sie aussahen, konnten sie die Lösung von Pumas Problem sein. Schließlich kursierten Gerüchte, dass Coco morgen aus dem Hospiz auszog und seine Laufburschen bereits unterwegs waren. Sollte das stimmen, blieben Johnny nur noch wenige Stunden, um das Geld zu beschaffen. Eigentlich hatte er vorgehabt, in eine der sommerlich leerstehen­den Wohnungen in Bislett einzusteigen. Er brauchte einfach nur zu klingeln und abzuwarten, auf welcher Etage sich niemand meldete. Aber dafür musste er erst noch ein paar Kräfte sammeln. Die Fensterbrettlösung wäre viel einfacher und sicherer.

Er fragte sich, ob er es unbemerkt aus dem Bett bis zu den Ohrringen schaffen konnte, wies den Gedanken aber von sich. Körperspannung hin oder her, Johnny riskierte so oder so eine ge­hörige Tracht Prügel, und da reichte ihm schon der Gedanke. Oder sollte er den Neuen ablenken, ihn irgendwie aus dem Zimmer locken und dann zuschlagen? Johnny sah plötzlich in die Augen des jungen Mannes. Er hatte sich umgedreht und machte jetzt Bauchtraining. Sit-ups. Lächelte.

Johnny signalisierte, dass er etwas sagen wollte, und der junge Mann nahm den Kopfhörer ab. Johnny bekam ein paar Worte mit, »… now I’m clean«, ehe er selbst zu reden begann:

»Könntest du mir nach unten ins Café helfen? Du musst nach dem Training ja auch was essen. Wenn dein Körper kein Fett und nicht genug Kohlenhydrate kriegt, beginnt er, die eigenen Muskeln abzubauen, weißt du. Und das wäre ja nicht gerade der Sinn der Sache, oder?«

»Danke für den Tipp, Johnny. Ich will aber erst noch duschen. Du kannst dich aber schon mal bereitmachen.« Der Junge stand auf. Steckte die Ohrringe in seine Hosentasche und ging in Richtung Gemeinschaftsdusche.

Verdammt! Johnny schloss die Augen. Schaffte er das? Er musste einfach. Nur zwei Minuten. Er zählte die Sekunden. Dann setzte er sich auf die Bettkante. Nahm Anlauf. Stand auf. Nahm die Hose vom Stuhl. Als er sie gerade anziehen wollte, klopfte es an der Tür. Bestimmt hatte sein Zimmergenosse die Schlüssel vergessen. Er hinkte zur Tür und öffnete sie. »Du musst immer an die …«

Eine mit Schlagring bewaffnete Faust hämmerte auf seine Stirn ein, und er taumelte nach hinten. Die Tür schlug ganz auf, und herein kamen Coco und zwei seiner Jungs. Die zwei Laufburschen warfen sich auf Johnny und hielten ihn fest. Coco gab ihm einen Kopfstoß, so dass sein Kopf nach hinten schlug und gegen das obere Bett knallte. Als er die Augen wieder öffnete, starrte er direkt in Cocos hässliche, mascaraumrahmte Augen und auf die glänzende Spitze einer Ahle.

»Ich habe wenig Zeit, Johnny«, sagte Coco in seinem gebrochenen Norwegisch. »Die anderen haben Geld, bezahlen aber nicht. Du hast nix, kannst aber als Beispiel dienen.«

»Beispiel?«

»Ich bin kein ungerechter Mann, Johnny. Du kommst doch auch mit einem Auge klar.«

»Aber … aber verdammt, Coco …?«

»Nicht bewegen, sonst geht das Auge auf dem Weg nach draußen kaputt. Wir wollen es den anderen verfickten Arschlöchern doch zeigen. Die müssen ja erkennen können, dass es ein richtiges Auge ist, klar?«

Johnny begann zu schreien, aber die Hand, die sich auf seinen Mund presste, erstickte alle Laute.

»Ruhig, Johnny. In den Augen sind gar nicht so viele Nerven. Es tut nicht weh, das verspreche ich.«

Johnny wusste, dass die Angst ihm die Kraft verleihen sollte, sich zu wehren. Stattdessen war er wie paralysiert. Johnny Puma, der früher einmal ganze Autos hochgehoben hatte, starrte ohnmächtig auf die sich nähernde Spitze des Werkzeugs.

»Wie viel?«

Die Stimme klang weich, war fast nur ein Flüstern. Alle drehten sich zur Tür um. Niemand hatte ihn kommen hören. Seine kurzen Haare waren nass, und er trug nur eine Jeans.

»Raus!«, fauchte Coco.

Der junge Mann blieb stehen. »Wie hoch sind die Schulden?«

»Raus! Sonst kriegst du als Erster das Messer zu spüren.«

Der Neuankömmling rührte sich noch immer nicht. Der Laufbursche, der Johnny den Mund zuhielt, ließ los, stand auf und ging auf ihn zu. »Der … der hat mir meine Ohrringe geklaut«, sagte Johnny. »Das stimmt! Er hat sie in der Hosentasche. Ich hatte mir die beschafft, um dich bezahlen zu können, Coco. Untersuch ihn nur, dann wirst du schon sehen. Bitte, bitte, Coco!« Johnny hörte die Tränen in seiner Stimme, aber selbst das war ihm in diesem Moment egal. Coco schien ohnehin nichts zu hören. Er starrte nur den jungen Mann an. Vermutlich gefiel diesem kranken Schwein, was er sah. Coco hielt den Laufburschen mit einer Handbewegung zurück und sagte leise lachend:

»Stimmt das, was unser Johnny hier sagt? Handsome!«

»Du kannst ja versuchen, es herauszufinden«, sagte der junge Mann. »Wenn ich du wäre, würde ich aber lieber sagen, wie viel er dir schuldet, das gibt weniger Ärger. Und weniger Dreck.«

»Zwölftausend«, sagte Coco. »Warum …?«

Er hielt inne, als der Mann die Hand in die Hosentasche schob, ein schmales Bündel Geldscheine herausnahm und sie ihm von oben hinzählte. Als es zwölf waren, gab er sie Coco und steckte das restliche Geld wieder in die Tasche.

Coco zögerte. Als haftete diesem Geld etwas Falsches an. Dann lachte er und riss das Maul mit den schrecklichen Goldzähnen auf, die er sich statt richtiger Zähne hatte machen lassen.

»Verrückt, echt verrückt!«

Er schnappte sich das Geld, zählte nach und hob den Blick.

»Sind wir damit klar?«, fragte der junge Mann. Anders als die Dealer auf der Straße, die zu viele Filme gesehen hatten, verzog er das Gesicht nicht zu einer steinernen Maske. Im Gegenteil, der junge Mann lächelte. Wie die Kellner gelächelt hatten, als Johnny noch auf Tournee gegangen war und immer in den feinsten Restaurants gegessen hatte. Sie hatten ihn sogar gefragt, ob das ­Essen recht sei.

»Alles klar!«, sagte Coco mit einem Grinsen.

Johnny ließ sich auf das Bett sinken, schloss die Augen und hörte noch lange, nachdem Coco die Tür hinter sich geschlossen und über den Flur verschwunden war, sein Lachen.

»Mach dir keine Gedanken«, sagte der junge Mann. Johnny hörte ihn, obwohl er seine Stimme auszusperren versuchte. »Ich hätte an deiner Stelle das Gleiche getan.«

Aber du bist nicht ich, dachte Johnny und spürte, dass er immer noch einen Kloß im Hals hatte. Du warst früher nicht Johnny Puma und dann irgendwann nicht mehr.

»Gehen wir nach unten ins Café, Johnny?«

Der PC-Bildschirm war die einzige Lichtquelle. Und alle Geräusche kamen von der anderen Seite der angelehnten Tür. Else hantierte in der Küche, und ein Radio spielte leise. Sie stammte aus einer Bauernfamilie und musste immer etwas tun. Egal ob waschen, sortieren, umstellen, pflanzen, nähen, backen, die Arbeit war nie zu Ende. Wie viel sie am Tag zuvor auch getan hatte, am nächsten ging es weiter. Deshalb musste sie die Arbeit in gleichmäßigem Tempo erledigen, wollte sie zu viel, lief sie Gefahr, dar­an zu zerbrechen. Aber es waren beruhigende Geräusche, von jemandem, der in seinem Tun Sinn und Erfüllung fand, es klang nach Ruhepuls und Zufriedenheit. In gewisser Weise beneidete er sie. Andererseits war er auch hellhörig, registrierte schleifende Schritte oder ob etwas zu Boden ging. Dann wartete er ab. Verfolgte, ob sie alles unter Kontrolle hatte. Wenn alles gut war, fragte er auch nicht nach, sondern ließ sie glauben, er habe nichts von alledem bemerkt.

Er hatte sich ins Intranet des Morddezernats eingeloggt und die Berichte über Per Vollan gelesen. Kari war wirklich fleißig gewesen und effektiv. Aber es fehlte ihm trotzdem etwas. Selbst die akribischsten Polizeiberichte vermochten nicht das glühende Interesse eines Ermittlers zu verbergen, der mit Herz und Seele bei der Sache war. Karis Berichte waren beispielhaft, die reinsten Musterstücke: objektiv und nüchtern. Keine tenden­ziösen Fehltritte, keine dem Eifer geschuldete Voreingenommenheit. Aber eben leblos und kalt. Dann ging er die Zeugenaussagen durch, auf der Suche nach interessanten Namen unter Vollans Kontakten, aber auch da Fehlanzeige. Er starrte an die Wand. Dachte zwei Worte: Nestor. Eingestellt.

Schließlich googelte er Agnete Iversen.

Die Titelstorys der Zeitungen erschienen.

»Bekannte Immobilienmaklerin brutal ermordet.«

»Im eigenen Haus erschossen und ausgeraubt.«

Er klickte eine der Überschriften an. Hauptkommissar Åsmund Bjørnstad wurde zitiert, er hatte eine Pressekonferenz in der Zentrale von Kripos in Bryn abgehalten. »Das Team des Kriminalamts hat ermittelt, dass Agnete Iversen nicht in der Küche angeschossen wurde, wo man ihre Leiche gefunden hat, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach schon in der Tür ihres Hauses.« Und weiter unten: »Es deutet einiges darauf hin, dass es sich um Raub handelt, andere Motive sind zum derzeitigen Zeitpunkt aber noch nicht auszuschließen.«

Simon scrollte zu den älteren Artikeln. Sie waren fast ausschließlich in der Wirtschafts- und Finanzpresse erschienen. Agnete Iversen war die Tochter eines der größten Immobilien­besitzer von Oslo. Sie hatte ein Wirtschaftsdiplom von Wharton in Philadelphia und sie hatte schon in jungen Jahren die Verwaltung des Immobilienportfolios übernommen. Nach ihrer Heirat mit Iver Iversen, auch er Ökonom, hatte sie sich aber zurück­gezogen. Einer der Finanzjournalisten hatte sie als eine Art Verwalterin beschrieben, als Veredlerin, als jemanden, der seine Geschäfte ­effektiv und lohnend betrieben hatte, während ihr Mann als aggressiv galt, er kaufte und verkaufte in hohem Tempo, ging höhere Risiken ein, machte mitunter aber auch höhere Gewinne. Ein anderer Artikel, zwei Jahre alt, war mit einem Foto ihres Sohnes erschienen, Iver junior, unter der Überschrift »Millionenerbe lebt Jetset-Leben auf Ibiza«. Sonnengebräunt, lachend, weiße Zähne, rote Augen im Blitzlichtgewitter, verschwitzt vom Tanzen mit einer Champagnerflasche im einen und einer ebenso verschwitzten Blondine im anderen Arm. Vor drei Jahren dann wieder ein Artikel unter der Rubrik Finanzen: Iver senior reichte dem Osloer Finanzsenator die Hand, nachdem das Iversen-Imperium kommunale Immobilien im Wert von einer Milliarde Kronen gekauft hatte.

Die Tür wurde aufgeschoben. Dann stand eine Tasse dampfender Tee vor ihm.

»Wie dunkel es hier ist«, sagte Else und legte ihre Hände auf seine Schultern. Massierte ihn. Oder stützte sich auf.

»Ich warte noch immer darauf, dass du mir den Rest erzählst«, sagte Simon.

»Den Rest von was?«

»Was der Doktor gesagt hat.«

»Ich habe dich doch angerufen und dir alles erzählt, wirst du vergesslich, Schatz?« Sie lachte leise und drückte ihre weichen Lippen auf seinen Kopf. Er hatte wirklich manchmal den Verdacht, dass sie ihn liebte.

»Du hast gesagt, dass er nicht viel tun könne«, sagte Simon.

»Ja.«

»Aber?«

»Was aber?«

»Ich kenne dich zu gut, Else, das ist nicht alles.«

Sie zog sich etwas zurück. Nur eine Hand blieb auf seinen Schultern liegen. Er wartete.

»Er hat gesagt, dass sie in den USA jetzt mit einer ganz speziellen Art Operation begonnen haben. Und dass es für die Leute, die nach mir kommen, Hoffnung gibt.«

»Nach dir?«

»Wenn die Operation Routine geworden ist. Das kann aber noch Jahre dauern. Heute ist das noch eine wahnsinnig komplizierte Sache, die ein Vermögen kostet.«

Simon schwang sich so schnell auf seinem dreibeinigen Stuhl zu ihr herum, dass sie einen weiteren Schritt zurückweichen musste. Er nahm ihre Hände.

»Aber das sind doch fantastische Neuigkeiten! Wie viel?«

»Viel mehr, als Menschen mit einer Behindertenrente und einem Polizeilohn zahlen können.«

»Else, hör mir mal zu. Wir haben keine Erben. Und uns gehört dieses Haus. Wir müssen unser Geld doch für nichts anderes ausgeben. Wir sind sparsam …«

»Hör auf, Simon. Du weißt ganz genau, dass wir kein Geld haben. Und dieses Haus ist belastet.«

Simon schluckte. Sie hatte das Problem nicht beim Namen genannt – Spielschulden. Sie war viel zu rücksichtsvoll, um ihn an seine früheren Sünden zu erinnern. Er nahm ihre Hände in die seinen.

»Mir wird schon was einfallen. Ich habe Freunde, die uns Geld leihen können, vertrau mir. Wie viel?«

»Du hattest Freunde, Simon. Aber du redest ja mit keinem mehr. Ich habe dir immer gesagt, dass du die Kontakte pflegen musst, sonst sind sie irgendwann weg.«

Simon seufzte. Zuckte mit den Schultern. »Ich habe dich.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht genug, Simon.«

»Doch, das bist du.«

»Ich will nicht genug sein.« Sie beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn auf die Stirn. »Ich bin müde, ich gehe schlafen.«

»Okay, aber wie viel kostet das denn jetzt …?«

Sie hatte das Zimmer schon verlassen.

Simon sah ihr nach. Dann schaltete er den PC aus und griff zum Telefon. Warf einen Blick auf das Telefonverzeichnis. Alte Freunde. Alte Feinde. Einige von ihnen nützlich, die meisten total überflüssig. Er wählte die Nummer von einem aus der zweiten Kategorie. Feind. Nützlich.

Fredrik Ansgar war wie erwartet überrascht über den Anruf, tat aber so, als freute er sich, und willigte in ein Treffen ein. Er gab nicht einmal vor, keine Zeit zu haben.

Nachdem er das Gespräch beendet hatte, blieb Simon im Dunkeln sitzen und starrte auf das Telefon. Er dachte an den Traum. Sein Augenlicht. Sie sollte sein Augenlicht bekommen. Dann wurde ihm klar, welches Muster er auf dem Telefon fixierte. Es war der Schuhabdruck im Blumenbeet.

»Das Essen ist gut«, sagte Johnny und wischte sich den Mund ab. »Und du willst wirklich nichts?«

Der junge Mann schüttelte lächelnd den Kopf.

Johnny sah sich um. Das Café war ein größerer Raum im Erdgeschoss des Hospizes mit of­fener Küche, einem Büfet und einer Selbstbedienungstheke. Im Moment waren alle Tische besetzt. Gewöhnlich schloss das Café bereits früh am Tag, aber da der eigentliche Junkietreffpunkt, das Café der Stadtmission, zur Zeit renoviert wurde, waren die Öffnungszeiten geändert worden und auch hausfremden Gästen wurde Zutritt gewährt. Die meisten hatten aber irgendwann einmal hier gewohnt, und Johnny kannte alle Gesichter.

Er trank einen Schluck Kaffee und beobachtete, wie die an­deren sich unablässig umsahen. Es war immer das Gleiche; Paranoia und Jagd, ihre Köpfe zuckten hin und her wie bei Tieren an einer Wasserstelle in der Savanne, an der abwechselnd Raub- und Beutetiere tranken. Abgesehen von diesem Neuen. Er hatte bis gerade eben vollkommen ruhig ausgesehen. Johnny folgte seinem Blick zur Tür hinter der Caféküche, wo Martha aus dem Personalraum kam. Sie hatte ihren Anorak an und schien auf dem Weg nach Hause zu sein. Johnny sah, wie sich die Pupillen des Mannes weiteten, denn dafür hatte man als Drogensüchtiger einen ganz besonderen Blick. Ist er Junkie, ist er high, ist er gefährlich? Wie auch für die Hände der anderen. Hände konnten einen bestehlen, Hände konnten Messer halten. Oder in bedrohlichen Situationen gerade die Stellen beschützen, an denen man seinen Stoff oder sein Geld versteckte. Die Hände des Mannes waren in den Hosentaschen verschwunden, in denen auch die Ohrringe waren. Johnny war nicht dumm. Vielleicht schon, aber in gewissen Dingen eben auch nicht. Martha kam herein, und auch ihre Pupillen weiteten sich. Ohrringe. Stuhlbeine kratzten über den Boden, als der junge Mann aufstand, den Blick nervös glänzend auf sie gerichtet.

Johnny räusperte sich. »Stig …«

Aber es war zu spät. Er hatte Johnny bereits den Rücken zugedreht und ging auf sie zu.

Im selben Moment öffnete sich die kleine Eingangstür zur Straße und herein kam ein Mann, dem man gleich ansah, dass er nicht hierhergehörte. Kurze schwarze Lederjacke, kurze dunkle Haare. Breite Schultern, fokussierter Blick. Ärgerlich schob er einen Bewohner zur Seite, der ihm erstarrt in einer typischen Junkiepose im Weg stand. Er machte Martha ein Zeichen, die sogleich reagierte. Johnny bemerkte, dass auch dem Jungen diese Geste nicht entgangen war. Er blieb stehen, verlor irgendwie den Wind aus den Segeln, während Martha zur Tür ging. Der Mann an der Tür steckte die Hand in die Tasche seiner Lederjacke und stellte den Ellbogen etwas zur Seite aus, damit sie sich einhaken konnte. Was sie auch tat. Eine Gewohnheit, typisch für Leute, die schon lange zusammen waren. Dann verschwanden sie in die plötzlich kalte Abendluft, es war windig geworden.

Der junge Mann blieb mitten im Raum stehen, verwirrt, als bräuchte er Zeit, die Information zu verarbeiten. Johnny sah, wie sich dem Neuen auch die Köpfe der anderen zuwandten. Sie musterten ihn, und Johnny sah, was sie dachten.

Beutetier.

Johnny wachte auf, jemand weinte.

Einen Augenblick lang dachte er an den Geist. An das Kind. Dass es im Zimmer war.

Doch dann realisierte er, dass das Geräusch von oben kam. Er drehte sich auf die Seite. Das Bettgestell begann zu zittern, und aus dem Weinen wurde Schluchzen.

Johnny stand auf, stellte sich vor das obere Bett und legte dem jungen Mann, der wie Espenlaub zitterte, eine Hand auf die Schulter. Dann schaltete er die Leselampe über dem Bett ein. Das Erste, was er sah, waren Zähne, die ins Kissen bissen.

»Es tut weh?« Johnny meinte das eher als Feststellung denn als Frage.

Ein leichenblasses, verschwitztes Gesicht mit eingesunkenen Augen starrte ihn an.

»Heroin?«, fragte Johnny.

Das Gesicht nickte.

»Soll ich versuchen, was zu besorgen?«

Kopfschütteln.

»Du weißt, dass du im falschen Hospiz wohnst, wenn du aufhören willst?«, fragte Johnny.

Nicken.

»Also, was kann ich für dich tun?«

Der Junge benetzte seine Lippen mit einer zu weißen Zunge und flüsterte etwas.

»Hä?« Johnny beugte sich vor. Roch den schweren, muffigen Atem des anderen. Es gelang ihm nur mit Mühe, die Worte zu erkennen. Dann richtete er sich auf und nickte.

»Wenn du willst.«

Johnny legte sich wieder hin und starrte an die Unterseite des Bettes über sich. Die Matratze war mit Plastik bezogen, damit sie von den Körpersäften der Bewohner nicht zerstört werden konnte. Er lauschte den Geräuschen des Hospizes, der ewigen Jagd. Den Schritten im Lauftempo auf dem Flur, dem Fluchen, der dröhnenden Musik, dem Gelächter und Klopfen, den verzweifelten Schreien und dem hitzigen Handel, der gerade direkt vor ihrer Zimmertür vonstattenging. Aber nichts davon übertönte das leise Weinen und die Worte, die der junge Mann geflüstert hatte.

»Halt mich auf, wenn ich rauswill.«


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