Kapitel 23

Es regnete nicht mehr so stark, aber Martha hatte sich trotzdem die Jacke über den Kopf gezogen, als sie Stig dabei zusah, wie er einen Schlüssel vom Balken über der Kellertür fischte und aufschloss. Der Keller war wie die Garage vollgestopft mit Dingen aus der Geschichte einer Familie; Rucksäcke, Zeltheringe, ausgetretene rote Stiefel, die aussahen, als wären sie für irgendeinen Sport benutzt worden, vielleicht Boxen. Ein Schlitten. Ein Handrasenmäher, der durch den benzinbetriebenen in der Garage ersetzt worden war. Eine große längliche Kühlbox mit einer Respatexplatte als Deckel. Breite Regale mit Saftflaschen und Marmeladengläsern, die durch Spinnweben miteinander verbunden waren, und ein Nagel mit einem Schlüssel. Aber der Anhänger mit der Aufschrift, wofür dieser Schlüssel war, war längst verblichen. Martha blieb an der Reihe von Skiern stehen, einige hatten noch Wachsreste auf der Unterseite. Der längste und breiteste war der Länge nach gespalten.

Als sie nach oben kamen, spürte Martha sofort, dass hier schon lange niemand mehr wohnte. Vielleicht lag das am Geruch, vielleicht an der unsichtbaren Schicht aus Zeit und Staub. Im Wohnzimmer festigte sich dieser Eindruck. Sie sah nicht einen Gegenstand, der aus den letzten zehn Jahren stammte.

»Ich mache Kaffee«, sagte Stig und verschwand in der Küche.

Martha sah sich die Bilder an, die auf dem Kamin standen.

Ein Foto von einem Brautpaar. Die Ähnlichkeit, insbesondere mit der Braut, war unverkennbar.

Ein anderes Foto – vermutlich ein paar Jahre später aufgenommen – zeigte die beiden zusammen mit zwei anderen Paaren. Martha hatte spontan das Gefühl, die Männer und nicht die Frauen verbanden diese beiden Paare. Irgendwie waren sie sich ähnlich. Die gleiche, beinahe posierende Haltung, das selbstsichere Lächeln, die Art, wie sie sich aufplusterten. Drei Alphamännchen, von denen jeder sein Revier markierte. Gleichwertig, dachte sie.

Sie ging in die Küche. Stig hatte ihr den Rücken zugedreht und beugte sich über den Kühlschrank.

»Hast du Kaffee gefunden?«, fragte sie.

Er drehte sich zu ihr um, nahm schnell einen gelben Post-it-Zettel von der Kühlschranktür und steckte ihn in die Tasche.

»Klar«, sagte er und öffnete den Schrank über dem Spülbecken. Mit schnellen, geübten Bewegungen löffelte er Kaffee in einen Filter, goss Wasser in die Kaffeemaschine und schaltete sie ein. Dann zog er die Jacke aus und hängte sie über die Lehne eines Küchenstuhls. Nicht des ihm am nächsten stehenden, sondern des am Fenster. Sein Küchenstuhl.

»Du hast hier gewohnt«, sagte sie.

Er nickte.

»Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich.«

Er lächelte schief. »Das haben sie auch immer gesagt.«

»Haben?«

»Meine Eltern leben nicht mehr.«

»Vermisst du sie?«

Es stand ihm ins Gesicht geschrieben, wie sehr ihn die ein­fache, fast alltägliche Frage traf. Wie ein Keil, der in einen Spalt getrieben wird, den man vergessen hat abzudichten. Er blinzelte zweimal, öffnete und schloss den Mund, als wären die Schmerzen so unerwartet und plötzlich, dass es ihm die Sprache verschlug. Er nickte und drehte sich zur Kaffeemaschine um, rückte die Kanne zurecht, als hätte sie schief gestanden.

»Dein Vater sieht auf den Bildern ziemlich dominant aus. Wie ein richtiger Chef.«

»Das war er auch.«

»Auf eine gute Weise?«

Er wandte sich zu ihr um. »Ja, auf eine gute Weise. Er hat auf uns aufgepasst.«

Sie nickte und dachte an ihren eigenen Vater, bei dem das so ganz anders gewesen war.

»Musste man denn auf dich aufpassen?«

»Ja.« Er lächelte ganz spontan. »Das musste man.«

»Warum? Du denkst doch an was.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Red schon.«

»Ach, ich habe nur gesehen, dass du dir den kaputten Sprung­ski angeguckt hast.«

»Was ist mit dem?«

Er sah abwesend auf die Kanne, in die jetzt der Kaffee tröpfelte. »Ostern sind wir meistens zu meinem Großvater nach Lesjaskog gefahren. Mein Vater hielt den Rekord auf der Schanze dort. Den davor hatte mein Großvater aufgestellt. Ich war fünfzehn Jahre alt und hatte den ganzen Winter hindurch Skispringen trainiert, um den Rekord meines Vaters zu knacken. Aber Ostern war spät, und es war schon ziemlich warm, und als wir zu Großvater kamen, war unten am Auslauf, auf den die Sonne schien, nur noch wenig Schnee. Es schauten sogar schon Zweige und Steine heraus. Aber ich musste es einfach versuchen.«

Er sah schnell zu Martha; sie nickte ihm aufmunternd zu.

»Mein Vater hat mir das angesehen und natürlich verboten, weil es viel zu gefährlich war. Ich nickte nur, überredete dann aber den Jungen vom Nachbarhof, den Sprung zu bezeugen und die Länge zu messen. Er hat mir auch geholfen, an der Stelle, an der ich landen wollte, mehr Schnee festzutreten. Ich bin dann nach oben gelaufen und habe mir die Sprungski angeschnallt, die Papa von Großvater geerbt hatte. Die Spur war wahnsinnig glatt, und ich habe den Absprung ziemlich gut erwischt. Viel zu gut. Ich flog und flog, fühlte mich wie ein Adler, und mir war plötzlich alles egal. Es ging doch ums Fliegen, es gab nichts Besseres.« Martha sah, wie seine Augen glänzten. »Vier Meter unterhalb der Stelle, die wir mit Schnee ausgebessert hatten, bin ich gelandet. Die Ski gruben sich sofort in den Matsch, und ein scharfer Stein riss den rechten Ski auf, als wäre er eine Banane.«

»Und du?«

»Ich stürzte. Pflügte eine Spur in den Hang und den Auslauf.«

Martha legte sich entsetzt die Hand auf das Schlüsselbein. »Mein Gott, warst du verletzt?«

»Ich war wirklich blau und gelb und klitschnass. Aber gebrochen hatte ich mir nichts. Vermutlich hätte ich das auch nicht einmal gemerkt, denn ich habe mich die ganze Zeit nur gefragt, was Papa wohl sagen wird. Ich hatte etwas Verbotenes getan und dabei auch noch seine Skier geschrottet.«

»Und was hat er gesagt?«

»Nicht viel. Er hat mich bloß gefragt, was ich für eine angemessene Strafe halten würde.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Ich habe drei Tage Hausarrest vorgeschlagen. Er meinte aber, zwei würden reichen, es sei ja Ostern. Nach dem Tod meines Vaters hat meine Mutter mir erzählt, dass mein Vater, während ich mit Hausarrest drinnen hockte, mit dem Nachbarjungen bei der Schanze war, um sich alles zeigen und wieder und wieder erzählen zu lassen. Er soll jedes Mal Tränen gelacht haben. Und dass sie ihm das Versprechen abgerungen hat, mir das nie zu erzählen, weil mich das sicher nur angestachelt hätte, noch mehr ­Unfug zu machen. Stattdessen nahm er den kaputten Ski mit nach Hause, angeblich wollte er ihn leimen. Natürlich Blödsinn. Mama meinte, dieser Ski ist seine schönste Erinnerung gewesen.«

»Darf ich mir den noch mal angucken?«

Er goss ihnen beiden Kaffee ein, und sie nahmen die Tassen mit in den Keller. Sie setzte sich auf den Deckel der Tiefkühltruhe, während er ihr den Ski zeigte. Ein schwerer weißer Ski der Marke Splitkein mit sechs Rillen auf der Unterseite. Sie dachte, dass dieser Tag wirklich besonders war. Sonne und Regen. Glitzerndes Meer und dunkler Keller. Ein Fremder, jemand, bei dem sie das Gefühl hatte, ihn schon ihr ganzes Leben zu kennen. So fern, so nah. So richtig, so falsch …

»Und stimmte es, was diesen Sprung anging?«, fragte sie. »Gab es wirklich nichts Besseres in deinem Leben?«

Er legte den Kopf nachdenklich auf die Seite. »Der erste Schuss. Der war noch besser.«

Sie schlug mit den Hacken vorsichtig gegen die Truhe. Vielleicht kam die Kälte ja von da. Mit einem Mal merkte sie, dass die Truhe eingeschaltet war, die kleine rote Lampe zwischen Griff und Schloss brannte. Seltsam, alles andere im Haus deutete doch darauf hin, dass es lange leer gestanden hatte.

»Na ja, wenigstens den Schanzenrekord hast du geknackt«, sagte sie.

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nicht?«

»Nur gestandene Sprünge zählen, Martha«, sagte er und trank einen Schluck Kaffee.

Sie wusste, dass er schon einmal ihren Namen gesagt hatte, trotzdem fühlte es sich so an, als hätte zum ersten Mal überhaupt jemand ihren Namen gesagt.

»Dann musst du weiterspringen. Jungs müssen mit ihren Vätern konkurrieren und Mädchen mit ihren Müttern.«

»Meinst du?«

»Glaubst du nicht auch, dass alle Söhne denken, sie werden irgendwie wie ihre Väter? Und deshalb so schrecklich enttäuscht sind, wenn sie die Schwächen ihrer Väter entdecken; sie sehen darin die Schwächen und Niederlagen, die ihnen selbst im Leben bevorstehen. Und manchmal ist der Schock so groß, dass man schon aufgibt, bevor man überhaupt angefangen hat.«

»War das für dich so?«

Martha zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter hätte niemals bei meinem Vater bleiben dürfen. Aber sie hat sich gefügt. Ich habe ihr das mal ins Gesicht geschrien, als wir über irgendetwas gestritten haben. Über was, weiß ich gar nicht mehr. Wohl aber, dass ich gebrüllt habe, es sei ungerecht, mir zu verwehren, glücklich zu sein, nur weil sie sich das selbst nie gegönnt habe. Ich glaube, es gibt in meinem Leben nichts, was ich mehr bereue. Ihren verletzten Blick werde ich nie vergessen, ebenso wenig das, was sie gesagt hat: ›Dann hätte ich womöglich die ver­loren, die mich am glücklichsten macht – dich!‹«

Stig nickte und sah zum Kellerfenster. »Manchmal irren wir uns, wenn wir glauben, dass wir unsere Eltern durchschauen. Vielleicht waren sie ja gar nicht schwach. Vielleicht ist etwas geschehen, durch das man einen falschen Eindruck bekommen hat. Vielleicht waren sie stark. Vielleicht bereit, ihren Namen in den Dreck ziehen zu lassen, ihre Ehre zu verlieren, die Schande auf sich zu nehmen, nur um die zu retten, die sie liebten. Und wenn sie so stark waren, ist man selbst ja vielleicht auch stark.«

Das Zittern in seiner Stimme war kaum hörbar. Kaum. Martha wartete, bis er den Blick wieder hob. Dann fragte sie:

»Was hat er gemacht?«

»Wer?«

»Dein Vater.«

Sein Adamsapfel zuckte auf und ab, sein Blinzeln wurde schneller, und er presste die Lippen zusammen. Sie sah ihm an, dass er sich nach dem Schanzentisch sehnte, der auf ihn zuraste. Er konnte sich in der glatten Spur ja noch immer zur Seite werfen, abbrechen.

»Er hat einen Abschiedsbrief unterschrieben, bevor sie ihn erschossen haben«, sagte Stig. »Um Mama und mich zu retten.«

Martha spürte, wie sich alles drehte, als er weitererzählte. Schon möglich, dass sie ihn über den Schanzentisch geschoben hatte, aber irgendwie war sie mit ihm gesprungen und konnte nun nicht mehr zurück, nicht mehr dorthin, wo sie nichts gewusst hatte. Hatte sie tief im Inneren geahnt, auf was sie sich einließ? Hatte sie sich diesen Sprung, diesen freien Fall gewünscht?

Er war mit seiner Mutter bei einem Ringkampf in Lillehammer gewesen. Sonst war sein Vater immer mitgekommen, aber er hatte gesagt, dass er an diesem Wochenende etwas Wichtiges erledigen müsse, und war deshalb zu Hause geblieben. Stig gewann in seiner Gewichtsklasse, und als sie nach Hause kamen, stürmte er nach oben ins Arbeitszimmer seines Vaters, um ihm alles zu erzählen. Sein Vater hatte ihm den Rücken zugedreht und den Kopf auf den Schreibtisch gelegt, so dass Stig erst glaubte, er sei über seiner Arbeit eingeschlafen. Dann sah er die Pistole.

»Ich hatte die Waffe nur einmal zuvor gesehen. Papa saß immer im Arbeitszimmer, wenn er Tagebuch schrieb, ein Buch mit gelben Seiten und einem schwarzen Lederumschlag. Als ich klein war, sagte er mal, das sei seine Art zu beichten. Ich dachte damals, Beichten wäre so etwas wie Schreiben. Erst als ich elf war und Religionsunterricht hatte, lernte ich, dass man auf diese Weise seine Sünden bekennt. Als ich aus der Schule zurück war, schlich ich mich in sein Arbeitszimmer und holte den Schreibtischschlüssel, ich wusste, wo er lag. Ich wollte wissen, was für Sünden mein Vater begangen hatte. Ich schloss auf …«

Martha holte tief Luft, als wäre sie es, die erzählte.

»Aber das Tagebuch war nicht da. Nur eine alte schwarze Pistole. Ich schloss wieder ab und schlich nach draußen. Aber in diesem Moment spürte ich die Scham. Ich hatte versucht, meinen eigenen Vater auszuspionieren, ich wollte ihn entlarven. Ich habe das nie jemandem erzählt, und ich wollte auch nie wieder wissen, wo er sein Tagebuch versteckte. Als ich aber an jenem Tag hinter meinem Vater stand, kamen die Erinnerungen zurück, und ich dachte, dass das die Strafe war für das, was ich getan hatte. Ich legte die Hand auf seinen Nacken, um ihn zu wecken. Aber da fehlte jede Wärme, und mehr als das. Sein ganzer Nacken strahlte Kälte aus, die harte marmorne Kälte des Todes. Ich wusste, dass es meine Schuld war. Dann sah ich den Brief …«

Martha blickte auf Stigs Halsschlagader, als er erzählte, wie er den Brief gelesen hatte, seine Mutter hinter ihm in der Tür. Er erzählte Martha, dass er den Brief am liebsten zerrissen und so getan hätte, als existierte er nicht. Aber er hatte es nicht übers Herz gebracht. Und als die Polizei kam, gab er den Brief ab, erkannte aber gleich, dass auch die Kollegen seines Vaters dieses Schreiben am liebsten vernichtet hätten. Seine Ader war angeschwollen wie bei einem Sänger, der es nicht gewohnt ist zu singen. Wie bei jemandem, der es nicht gewohnt ist zu sprechen.

Seine Mutter hatte sich in der Folgezeit Antidepressiva verschreiben lassen und später dann auf eigene Initiative noch andere Pillen genommen. Aber nichts hatte sie, wie sie es selbst ausgedrückt hatte, so schnell und effektiv kuriert wie Alkohol. Schnaps. Sie trank Wodka zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendessen. Er hatte versucht, auf sie aufzupassen und Pillen und Flaschen verschwinden zu lassen. Aber er brauchte Zeit, wenn er auf sie aufpassen wollte, und musste deshalb das Ringen und später auch die Schule aufgeben. Sie kamen, klingelten und erkundigten sich, warum jemand mit so guten Noten schwänzte, aber er warf sie nur raus. Seiner Mutter ging es immer schlechter, bis auch sie selbstmordgefährdet war. Er war sechzehn Jahre alt, als er beim Aufräumen im Zimmer seiner Mutter eine Spritze zwischen den Pillendosen fand. Natürlich wusste er, was das war oder wofür, zögerte aber trotzdem nicht, sich die Spritze selbst in den Schenkel zu setzen. Und das hatte alles geregelt. Am nächsten Tag fuhr er zur Plata und kaufte sich seine erste Dosis. Nach sechs Monaten hatte er alle Wertsachen verkauft und seine wehrlose Mutter bis aufs Hemd beklaut. Er kümmerte sich um nichts mehr, am wenigsten um sich selbst, aber er brauchte Geld, um die Schmerzen auf Distanz zu halten. Da er noch minderjährig war und nicht ins Gefängnis gesteckt werden konnte, ließ er sich dafür bezahlen, dass er sich zu kleineren Einbrüchen bekannte, die ältere Straftäter begangen hatten. Als sich nach seiner Volljährigkeit diese Möglichkeiten nicht mehr boten, der Stress und die Jagd nach Geld aber immer schlimmer wurden, willigte er ein, die Schuld für zwei Morde auf sich zu nehmen. Als Gegenleistung verlangte er, während seiner ganzen Strafe mit Drogen versorgt zu werden.

»Und jetzt hast du deine Strafe abgesessen?«, fragte sie.

Er nickte. »Ich ja.«

Sie glitt von der Tiefkühltruhe und ging zu ihm. Sie dachte nicht nach, dafür war es zu spät. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf seine Halsschlagader. Er sah sie an, die großen schwarzen Pupillen füllten beinahe die gesamte Iris aus. Dann legte sie die Arme um seine Mitte, und er umschlang ihre Schultern, wie bei einem spiegelverkehrten Tanz. Eine ganze Weile standen sie so da, bis er sie an sich zog. Mein Gott, wie warm er war, er musste Fieber haben. Oder war das sie? Sie schloss die Augen und spürte seine Nase und seinen Mund auf ihren Haaren.

»Sollen wir nach oben gehen?«, flüsterte er. »Ich habe etwas für dich.«

Sie gingen in die Küche. Draußen regnete es nicht mehr. Er nahm etwas aus der Tasche seiner Jacke, die über dem Küchenstuhl hing.

»Die sind für dich.«

Die Ohrringe waren so schön, dass es ihr die Sprache verschlug.

»Gefallen sie dir nicht?«

»Die sind wunderbar, Stig. Aber wo hast du sie her … hast du sie gestohlen?«

Er sah sie ernst an, ohne zu antworten.

»Entschuldige, Stig.« Zu ihrer Verwirrung spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Ich weiß, dass du keine Drogen mehr nimmst, aber ich sehe ja, dass die Ohrringe nicht neu sind, und …«

»Sie lebt nicht mehr«, unterbrach Stig sie. »Und so schöne Dinge sollten von Menschen getragen werden, die leben.«

Martha blinzelte verwirrt. Dann dämmerte es ihr. »Sie haben … haben …« Sie sah zu ihm auf, aber ihr Blick war von Tränen verschleiert. »Deiner Mutter gehört?«

Sie schloss die Augen und spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht. Seine Hand an ihrer Wange, am Hals, am Nacken. Ihre freie Hand an der Seite seines Körpers. Sie wollte ihn wegschieben. Ihn an sich ziehen. Sie hatten sich längst geküsst, das wusste sie. Mindestens hundertmal, seit sie sich das erste Mal begegnet waren. Aber jetzt, da ihre Lippen sich berührten, war es anders, es durchfuhr sie wie ein elektrischer Schlag. Sie hielt die Augen geschlossen, spürte seine Lippen, so weich, seine Hände auf ihrem Rücken, seine Bartstoppeln, seinen Geruch, seinen Geschmack. Sie wollte es, wollte alles. Aber die Berührung hatte sie geweckt, sie aus dem wunderbaren Traum gerissen, in den sie geflohen war, weil alles, was sie dort tat, keine Konsequenzen hatte. Bis jetzt.

»Ich kann nicht«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. »Ich muss gehen, Stig.«

Er ließ sie los, und sie drehte sich rasch um. Öffnete die Haustür. Blieb stehen, bevor sie ging. »Es war mein Fehler, Stig. Wir dürfen uns nicht wiedersehen, verstehst du? Nie.«

Sie schloss die Tür hinter sich, bevor sie die Antwort hörte. Die Sonne war durch die Wolken gebrochen, und der schwarz glänzende Asphalt dampfte, als Martha in die feuchte Wärme trat.

Markus sah durch das Fernrohr, wie die Frau schnell in die Garage ging, den alten Golf anließ, mit dem sie gekommen waren, und rausfuhr. Das Verdeck war noch immer offen. Sie bewegte sich so schnell, dass er es nicht schaffte, sie richtig in den Fokus zu bekommen, aber es sah so aus, als weinte sie.

Dann richtete er das Fernrohr wieder auf das Küchenfenster. Stellte scharf. Der Sohn stand am Fenster und sah ihr nach. Die Hände waren gefaltet, die Kiefer hart zusammengepresst, und auf seiner Stirn zeichnete sich eine Ader ab, als hätte er Schmerzen. Im nächsten Augenblick verstand Markus, warum. Der Sohn streckte die Arme aus, öffnete die Handflächen und legte sie an die Scheibe. Das Glas reflektierte das Sonnenlicht. In jeder Handfläche steckte ein Ohrring, und zwei dünne Streifen Blut rannen zu den Handgelenken.


Загрузка...