Kapitel 16

Agnete Iversen war neunundvierzig Jahre alt. Ging man nur nach ihrer glatten Haut, dem wachen Blick und dem schlanken Körper, würde man sie auf fünfunddreißig schätzen. Doch die früh ergrauten Haare, die konservative, klassisch-zeitlose Kleidung und die etwas zu gepflegte Sprache sorgten dafür, dass die meisten sie für älter hielten, als sie war. Auch das Leben, das die ­Familie Iversen oben am Holmenkollen führte, trug dazu bei. Sie schienen einer anderen, vergangenen Zeit anzugehören. Agnete war Hausfrau und hatte zwei Angestellte, die ihr halfen, Haus und Garten in Ordnung zu halten. Ihr innigster Wunsch war es, ihrem Mann Iver Iversen und ihrem Sohn Iver junior alle Wünsche, große wie kleine, von den Lippen abzulesen. Selbst im Vergleich zu den ringsum liegenden Villen war das Haus der Iversens überwältigend groß. Die häuslichen Aufgaben waren aber dennoch so überschaubar, dass die Angestellten (oder Dienstboten, wie Iver junior sie jetzt, da er studierte und sein Blick leicht sozialdemokratisch eingefärbt worden war, etwas despektierlich nannte) jeden Tag erst gegen zwölf Uhr kamen. Agnete Iversen konnte deshalb morgens in aller Ruhe als Erste aufstehen, im Wald spazieren gehen, der gleich auf der anderen Straßenseite begann, und einen Strauß Margeriten pflücken, ehe sie für ihre Männer das Frühstück machte. Sie setzte sich dann mit einer Tasse Tee zu ihnen und sah zu, wie sie das gesunde und nahrhafte Essen zu sich nahmen, das sie für den langen und anstrengenden Arbeitstag stärken sollte. Wenn sie fertig waren und Iver junior sich per Handschlag für das Essen bedankt hatte, wie es in diesem Haus seit Generationen üblich war, räumte sie den Tisch ab und trocknete sich an der weißen Küchenschürze die Hände ab, die sie später in die Wäsche geben würde. Zuletzt begleitete sie ihre Männer auf die Treppe vor dem Haus, gab ­jedem einen Kuss auf die Wange und sah zu, wie sie mit dem in die Jahre gekommenen, aber noch immer gut erhaltenen Mercedes rückwärts aus der Garage in den strahlenden Sonnenschein hinausfuhren. In den Semesterferien hatte Iver junior ­einen Ferienjob in der Immobiliengesellschaft der Familie angenommen, wo er hoffentlich lernte, was harte Arbeit war, dass es nichts umsonst gab und die Verwaltung eines Familienvermögens mindestens ebenso viele Pflichten wie Privilegien mit sich brachte.

Der Kies knirschte unter den Rädern, als der Wagen bis zur Straße zurücksetzte, und Agnete winkte ihm von der Treppe aus hinterher. Hätte ihr jemand gesagt, dass die Szene wie aus einem Reklamefilm der fünfziger Jahre wirkte, hätte sie lachend genickt und nicht weiter darüber nachgedacht. Sie führte das Leben, das sie führen wollte. Ihr Alltag bestand darin, den beiden Männern, die sie liebte und die ihr Vermögen zum Wohle der Familie und der Gesellschaft verwalteten, das Leben zu erleichtern. Was hätte sinnvoller sein können?

Im Radio in der Küche sagte der Nachrichtensprecher etwas über die gestiegene Zahl der Überdosisfälle in Oslo, die stark zunehmende Prostitution und über einen Häftling, der schon seit zwei Tagen auf der Flucht war. Da draußen in der Welt war so viel Übel. Da unten. So vieles, das nicht funktionierte, das nicht die Balance und Harmonie ausstrahlte, die so erstrebenswert war. Und noch während sie dastand und darüber nachdachte, wie perfekt ihre Welt doch war – die Familie, das Haus, dieser Tag –, bemerkte sie, dass das seitliche Gartentor, das die zwei Meter hohe, sorgsam geschnittene Hecke unterbrach und durch das die Angestellten kamen, geöffnet wurde.

Sie hielt sich die Hand über die Augen.

Der junge Mann, der über den schmalen Weg auf sie zukam, schien in Iver juniors Alter zu sein. Bestimmt ein Freund von ihm. Sie strich sich die Schürze glatt. Erst als er näher kam, konnte sie sehen, dass er ein paar Jahre älter als ihr Sohn war und einen Anzug trug, den weder ihr Sohn noch seine Freunde ge­tragen hätten – unmoderne braune Nadelstreifen zu blauen Joggingschuhen. Über seiner rechten Schulter hing eine rote Sport­tasche. Agnete Iversen tippte auf einen Zeugen Jehovas, bis ihr wieder einfiel, dass die ja immer zu zweit kamen. Außerdem sah er nicht aus, als wollte er etwas verkaufen. Inzwischen hatte er den Fuß der Treppe erreicht.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie zuvorkommend.

»Bin ich hier richtig bei Iversen?«

»Das sind Sie. Aber wenn Sie mit Iver oder meinem Mann sprechen wollen, muss ich Sie enttäuschen. Die sind gerade weggefahren.« Sie zeigte in Richtung Straße.

Der junge Mann nickte, steckte die linke Hand in die Tasche und nahm etwas heraus. Er richtete es auf sie und trat einen halben Schritt nach links. Agnete hatte so etwas noch nie gesehen, nicht in echt. Aber ihre Augen waren gut – das lag in der Familie –, weshalb sie keinen Moment zweifelte, nach Atem rang und automatisch einen Schritt zurück machte.

Es war eine Waffe.

Sie wich weiter zur geöffneten Tür zurück, während sie den jungen Mann nicht aus den Augen ließ, seinen Blick hinter der Pistole konnte sie allerdings nicht einfangen.

Mit dem Knall kam das Gefühl, als hätte sie jemand geschlagen, als stieße ihr jemand hart gegen die Brust. Sie taumelte nach hinten, taub und unkontrolliert. Trotzdem blieb sie noch im Flur auf den Beinen, streckte beide Arme aus in dem Versuch, die Balance wiederzufinden, und schlug mit einer Hand gegen ein Bild an der Wand. Sie stürzte erst in der Küche, kippte regelrecht nach hinten und spürte kaum, dass sie mit dem Hinterkopf auf der Arbeitsplatte aufschlug und im Fallen noch die Vase mitriss. Erst als sie auf dem Boden lag, den Kopf gegen die unterste Schublade gedrückt, so dass sie an sich selbst herabblickte, sah sie die Blumen. Die Margeriten in der zerbrochenen Vase. Und etwas, das sich wie eine rote Rose auf ihrer weißen Schürze ausbreitete. Sie schaute zur Haustür. Die Silhouette des Mannes zeichnete sich draußen ab. Er betrachtete den Fächerahorn links vor dem Haus. Dann bückte er sich und verschwand aus ihrem Blickfeld, und sie betete zu Gott, dass er nicht wiederkommen würde.

Sie versuchte aufzustehen, konnte sich jedoch nicht rühren, als wären Körper und Gehirn nicht mehr verbunden. Sie schloss die Augen und horchte in sich hinein. Sie hatte Schmerzen, aber auf eine ungewohnte Weise. Sie erfüllten den ganzen Körper, als versuchte jemand, sie in Stücke zu reißen, waren aber gleichzeitig dumpf und irgendwie auch weit weg.

Die Nachrichten waren vorbei, es lief wieder klassische Musik. Schubert. Des Abends.

Dann hörte sie das Geräusch weicher Schritte.

Joggingschuhsohlen auf Steinboden.

Sie öffnete die Augen.

Der junge Mann kam auf sie zu, betrachtete aber etwas, das er in den Fingern hielt. Eine leere Hülse, sie hatte so etwas schon einmal gesehen, als sie zur Jagd in der Herbsthütte im Hardangergebirge gewesen waren. Er ließ sie in die rote Tasche fallen und nahm ein paar gelbe Gummihandschuhe und einen Wischlappen heraus. Dann hockte er sich hin, zog die Handschuhe an und wischte etwas vom Boden auf. Blut. Ihr Blut. Schließlich reinigte er seine Schuhsohlen. Agnete verstand mit einem Mal, dass er Blut mit Fußspuren und Fußspuren mit Blut beseitigte. Wie ein kaltblütiger Mörder. Einer, der keine Spuren hinterlassen wollte, keine Zeugen. Sie sollte Angst haben, hatte aber keine Angst. Sie fühlte nichts, war nur dazu in der Lage, zu observieren, zu registrieren, zu räsonieren.

Der Mann stieg über sie hinweg und ging durch den Flur in Richtung Bad und Schlafzimmer. Öffnete die Türen und ließ sie offen stehen. Agnete schaffte es gerade eben, den Kopf zu drehen. Er schaute in ihre Handtasche, die sie schon auf dem Bett bereitgestellt hatte, weil sie gleich nach dem Umziehen hinunter in die Stadt fahren und sich bei Ferner Jacobsen ein Kleid kaufen wollte. Er öffnete ihr Portemonnaie, nahm das Geld heraus und ließ den Rest fallen. Dann trat er an die Kommode und zog die oberste Schublade heraus. In der zweiten würde er die Schatulle mit dem Schmuck finden. Die wunderschönen, einzigartigen Perlenohrringe, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Sie waren von unschätzbarem Wert. Na ja, nicht ganz. Iver hatte sie bei einem Juwelier auf einhundertachtzigtausend Kronen schätzen lassen.

Der Schmuck fiel klirrend in die Sporttasche.

Anschließend verschwand er im Badezimmer. Und kam mit Zahnbürsten in der Hand wieder heraus, ihre, Ivers und Iver juniors. Entweder musste er sehr arm oder sehr gestört sein, oder beides.

Er trat wieder neben sie, beugte sich zu ihr herunter und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Tut es weh?«

Es gelang ihr, den Kopf zu schütteln. Diese Genugtuung wollte sie ihm nicht geben.

Er nahm die Hand weg, und sie spürte, wie sich die Gummihandschuhfinger um ihren Hals legten. Daumen und Zeigefinger auf ihrer Pulsader. Wollte er sie erdrosseln? Aber er drückte nicht fest zu.

»Ihr Herz wird gleich zu schlagen aufhören«, sagte er, stand auf und ging zur Tür. Bevor er sie hinter sich schloss, wischte er noch die Klinke mit einem Putzlappen ab. Gleich darauf fiel das Gartentor ins Schloss. In diesem Moment hatte Agnete Iversen Gewissheit. Die Kälte kam. Sie war schon in den Füßen und Händen zu spüren. Dann am Kopf, ganz oben an der Stirn. Und schließlich fraß sie sich von beiden Seiten immer näher an ihr Herz heran, dicht gefolgt von der Dunkelheit.

Sara sah zu dem Mann hinüber, der an der Haltestelle am Holmenkollen in die U-Bahn gestiegen war. Er saß in dem Wagen, den sie selbst verlassen hatte, weil drei Jugendliche mit falsch herum aufgesetzten Schirmmützen in Voksenlia zugestiegen waren. In den Ferien waren nach der morgendlichen Rushhour kaum noch Menschen unterwegs. Sie hatte ganz allein dort gesessen. Die drei verloren jedenfalls keine Zeit und drangsalierten auch den Mann. Der kleinste, allem Anschein nach der Anführer, machte sich über seine Joggingschuhe lustig und verlangte dann, dass er den Wagen verließe. Er spuckte vor ihm auf den Boden. Verdammte Gangster-Wannabes. Plötzlich hatte einer der beiden anderen, ein blonder, hübscher Junge, bestimmt irgendein Direktorensöhnchen, ein Klappmesser in der Hand. Mein Gott, die wollten doch nicht … Er schwang das Messer in Richtung des Mannes. Sara hätte fast aufgeschrien, doch aus dem anderen Wagen dröhnte Gelächter zu ihr herüber. Der Junge hatte das Messer zwischen den Beinen des Mannes in den Sitz gestoßen. Der Anführer ergriff wieder das Wort. Er gab dem Mann fünf Sekunden, den Wagen zu verlassen, und dieser stand tatsächlich auf, zögerte aber einen Moment lang. Dann nahm er seine rote Tasche und wandte sich in ihre Richtung ab.

»Schlappschwanz!«, schrien sie ihm nach. Und lachten wieder.

Es waren nur sie, der Mann und die drei Jugendlichen im Zug. Auf dem Gelenk zwischen den beiden Wagen blieb der Mann ein paar Sekunden balancierend stehen, ihre Blicke begegneten sich. Sie konnte keine Angst in seinem Blick entdecken, wusste aber, dass sie da war. Die Angst des ebenso zivilisierten wie degenerierten Wesens, das lieber sein Revier aufgab und fortzog, als sein Territorium zu verteidigen, wenn jemand die Zähne fletschte und bereit war, physische Gewalt auszuüben. Sara verachtete ihn. Sie verachtete seine Schwäche. Die verdammte, ach so wohlgemeinte Freundlichkeit, mit der er sich umgab. Eigentlich wünschte sie sich, die drei hätten ihn zusammengeschlagen. Ihn ein bisschen Hass gelehrt. Und sie hoffte, dass er die Verachtung in ihrem Blick wahrnahm und ein bisschen kleiner wurde und den Hals einzog und sich zu winden begann.

Doch stattdessen lächelte er ihr zu, murmelte ein bescheidenes Hallo, setzte sich zwei Bänke entfernt hin und sah verträumt aus dem Fenster, als wäre nichts geschehen. Mein Gott, was war nur aus ihnen geworden? Eine Schar verängstigter Lämmer, die nicht mal mehr den Mumm hatte, sich zu schämen. Am liebsten hätte sie selbst vor ihm auf den Boden gespuckt.


Загрузка...