Kapitel 28

Hugo Nestor liebte das Vermont. Eine der wenigen Restaurant-Bar-Nachtclub-Kombinationen, die tatsächlich in allen drei ­Bereichen gelungen war. Die Klientel waren die Reichen und Schönen, die Reichen und Nicht-Schönen und die Nicht-Reichen, aber Schönen, eine Mischung aus Promis, mittelerfolgreichen Finanzleuten und Nachtarbeitern der Unterhaltungsbranche. Und – nicht zu vergessen – erfolgreichen Kriminellen. In den Neunzigern hatten hier die Tveita-Gang und andere Banden, die es auf Geldtransporte, Banken und Poststellen abgesehen hatten, verkehrt, ihre 6-Liter-Flaschen Dom Perignon getrunken und die besten Stripperinnen aus Kopenhagen einfliegen lassen, um auf den Séparée-Tischen ein bisschen Unterhaltung zu haben. Norwegischen Stripperinnen fehlte damals noch das gewisse Etwas, meinten sie. Sie hatten den Damen mit Strohhalmen das Kokain in alle nur erdenklichen Öffnungen geblasen, bevor sie selbst auf ähnliche Weise zugriffen, während die Kellner unablässig Austern, Périgord-Trüffel und Foie gras von Gänsen auftischten, die in etwa so behandelt worden waren, wie sie mit sich selbst verfuhren. Mit anderen Worten, das Vermont war ein Ort mit Stil und Tradition. Ein Ort, an dem Hugo Nestor und seine Leute jeden Abend an ihrem Séparée-Tisch sitzen und dabei zusehen konnten, wie die Welt da draußen langsam vor die Hunde ging. Ein Ort, an dem Geschäfte gemacht wurden und ­Finanzleute mit Kriminellen verkehren konnten, ohne dass die Polizeispitzel zu genau hinschauten.

Deshalb war die Anfrage des Mannes, der an ihrem Tisch saß, nicht ganz ungewöhnlich. Er war hereingekommen, hatte sich umgesehen und sich dann zielstrebig einen Weg durch die Menschenmenge gebahnt, bis er von Bo aufgehalten wurde, gerade als er über das rote Tau steigen wollte, das ihr Revier markierte. Nachdem er ein paar Worte mit Bo gewechselt hatte, war der zu Nestor gekommen und hatte ihm ins Ohr geflüstert:

»Er will ein asiatisches Mädchen. Er kommt im Auftrag eines Klienten, der gut bezahlt.«

Nestor legte den Kopf zur Seite und nippte an seinem Champagner. Einen der Aussprüche des Zwillings hatte er sich zu eigen gemacht: Money can buy you champagne. »Was meinst du, ist er ein Polizeispitzel?«

»Nein.«

»Würde ich auch sagen. Biete ihm einen Stuhl an.«

Der Kerl trug einen teuer aussehenden Anzug, ein frisch ge­bügeltes Hemd und einen Schlips. Helle Augenbrauen über einer markanten, exklusiven Brille. Nein, Moment, keine Augenbrauen.

»Sie sollte aber unter zwanzig sein.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Nestor. »War­um sind Sie gekommen?«

»Mein Klient ist ein Freund von Iver Iversen.«

Hugo Nestor musterte ihn genauer. Auch die Wimpern fehlten. Vielleicht litt er wie Hugos Bruder an Alopecia universalis. Wie sein angeblicher Bruder. Der hatte auch kein einziges Haar am Körper. Sollte dem so sein, trug der Kerl eine Perücke.

»Mein Klient ist in der Transportbranche. Er bezahlt in bar und mit Heroin, das auf dem Seeweg gekommen ist. Sie wissen vermutlich besser als ich, was das über den Reinheitsgrad sagt.«

Weniger Zwischenstopps, weniger Mittelsmänner, weniger gestreckter Stoff.

»Lassen Sie mich Iversen kurz anrufen«, sagte Nestor.

Der Kerl schüttelte den Kopf. »Mein Klient setzt vollkommene Diskretion voraus, weder Iversen noch sonst jemand soll etwas erfahren. Dass Iversen seinen Vertrauten alles Mögliche erzählt, ist sein Problem.«

Und unsere Chance, dachte Nestor. Wer war dieser Kerl? Er sah nicht gerade wie ein Laufbursche aus. Ein Protegé? Ein der Familie nahestehender Anwalt?

»Ich verstehe natürlich, dass eine derart direkte Kontaktaufnahme durch einen Fremden eine besondere Absicherung bei der Transaktion erfordert. Als Beweis unserer Seriosität sind mein Klient und ich bereit, einen Vorschuss zu leisten. Was sagen Sie dazu?«

»Vierhunderttausend?«, erwiderte Nestor. »Nur eine Zahl, ich weiß ja immer noch nicht, wovon Sie reden.«

»Natürlich nicht«, sagte der Kerl. »Das lässt sich einrichten.«

»Wie schnell?«

»Ich dachte an heute Abend.«

»Heute Abend?«

»Ich bin nur noch bis morgen früh in der Stadt, dann fliege ich zurück nach London. Der Vorschuss ist in meiner Suite im Plaza.«

Nestor und Bo sahen sich an. Dann leerte Bo das schmale Champagnerglas in einem Zug:

»Ich verstehe kein Wort, Mister. Oder wollen Sie mir zu verstehen geben, dass Sie mich zu einem Glas in Ihrer Suite einladen?«

Der Kerl lächelte kurz. »Genau das tue ich.«

Sie durchsuchten den Mann, sobald sie unten in der Tiefgarage waren. Bo hielt ihn fest, während Nestor ihn nach Waffen oder Mikrofonen abtastete. Der Mann ließ es ungerührt geschehen. Er war sauber.

Bo fuhr die Limousine zum Plaza, und sie gingen vom Parkhaus hinter dem Spektrum zu Fuß zu dem gläsernen Wolkenkratzer. Aus dem Außenaufzug blickten sie auf die Stadt hinunter, und Nestor dachte, es war die reinste Metapher, dass die Menschen dort unten kleiner und kleiner wurden, je höher er selbst kam.

Bo zog seine Pistole, als der Mann ihnen die Tür aufschloss. Es gab eigentlich keinen Grund für einen Hinterhalt, Nestor hatte zurzeit keine ihm bekannten Feinde, die noch am Leben waren. Keine ungeklärten Streitereien auf dem Markt, und auch die Polizei hatte nichts gegen ihn in der Hand, sie durften ihn also gerne festnehmen. Trotzdem spürte Nestor eine unbestimmte Unruhe, die er sich nicht erklären konnte. Er hielt das Gefühl für professionelle Wachsamkeit und achtete darauf, immer in Deckung zu bleiben. Das mussten so einige andere in dieser Stadt noch von ihm lernen. Schließlich hatte er es nicht ohne Grund so weit gebracht.

Die Suite war okay, die Aussicht hingegen wirklich überwäl­tigend. Der Kerl hatte zwei Aktenkoffer auf den Wohnzimmertisch gelegt. Während Bo die anderen Räume überprüfte, trat der Mann hinter die Bar und begann Drinks zu mixen.

»Bitte sehr«, sagte er und zeigte auf die Aktenkoffer.

Nestor trat an den Tisch und hob den Deckel erst des einen, dann des anderen Koffers hoch.

Es waren mehr als vierhunderttausend. Mit Sicherheit.

Und wenn der Stoff in dem anderen Koffer so rein war, wie der Kerl es angedeutet hatte, reichte das, um ein ganzes Dorf kleiner Asiatinnen zu kaufen.

»Was dagegen, dass ich den Fernseher einschalte«, sagte Nestor und griff zur Fernbedienung.

»Nur zu«, sagte der Mann, der noch mit den Drinks beschäftigt war und nicht sonderlich geübt schien. Gerade schnitt er eine Zitrone für die drei Gin Tonic in Scheiben.

Nestor drückte auf den Pay-TV-Knopf, switchte sich durch die Kinder- und Familienprogramme bis zu den Pornos und drehte den Ton lauter. Dann trat er an die Bar.

»Sie ist sechzehn und wird morgen gegen Mitternacht auf den Parkplatz vom Ingierstrandbad geliefert. Sie parken in der Mitte des Platzes und steigen nicht aus dem Auto. Einer von uns kommt zu Ihnen, setzt sich auf den Rücksitz und zählt das Geld. Wenn alles okay ist, geht er, und ein anderer bringt das Mädchen. Verstanden?«

Der Mann ohne Augenbrauen nickte.

Nicht gesagt hatte Nestor, weil es nicht gesagt werden durfte, dass das Mädchen nicht in dem Auto sein würde, mit dem das Geld abgeholt wurde. Das Geld hatte den Treffpunkt schon längst verlassen, wenn das Mädchen kam. Es war dasselbe Prinzip wie beim Drogenhandel.

»Und das Geld …«

»Vierhunderttausend, wie gesagt«, sagte Nestor.

»In Ordnung.«

Bo kam aus dem Schlafzimmer und blieb stehen, den Blick auf den Fernseher gerichtet. Ihm schien zu gefallen, was er sah. Wie allen anderen. Er selbst fand Pornos nützlich, den immer vorhersehbaren, gleichmäßigen Soundtrack des Stöhnens konnte man gut nutzen. Bei »Oh my god« und »Yes, fuck me good« scheiterten die meisten Abhörversuche.

»Ingierstrandbad, morgen um Mitternacht«, wiederholte Nestor.

»Sollen wir darauf anstoßen?«, fragte der Mann und reichte ­ihnen zwei Gläser.

»Danke, aber ich fahre«, sagte Bo.

»Klar«, sagte der Mann lachend und schlug sich gegen die Stirn. »Cola?«

Bo zuckte mit den Schultern, und der Kerl öffnete eine Dose Cola, goss sie in ein Glas und schnitt eine Scheibe von der Zi­trone ab.

Sie prosteten sich zu und setzten sich an den Tisch. Nestor gab Bo ein Zeichen, der das erste Bündel Scheine aus dem Koffer nahm und laut zu zählen begann. Er hatte aus dem Auto eine ­Tasche mitgebracht, in der er die Scheine verstaute. Die Verpackung des Bezahlers übernahmen sie nie, da sie Sensoren enthalten konnte, die den Weg des Geldes nachzeichneten. Erst als Bo sich zu verzählen begann, merkte Nestor, dass etwas nicht stimmte. Er wusste nur nicht, was. Er sah sich um. Hatten die Wände wirklich eine andere Farbe bekommen? Dann starrte er erst in sein und dann in Bos leeres Glas, bevor er den Anwalt anblickte.

»Warum nehmen Sie keine Zitrone?«, fragte Nestor und hörte seine Stimme wie aus weiter Ferne. Die Antwort klang ebenso fern:

»Zitrusfrucht-Intoleranz.«

Bo hatte zu zählen aufgehört und hockte mit hängendem Kopf vor dem Geld.

»Sie haben uns Drogen gegeben«, sagte Nestor und griff nach dem Messer im Beinhalfter. Er registrierte noch, dass er am falschen Bein suchte, als er den Fuß der Lampe auf sich zukommen sah und alles schwarz wurde.

Hugo Nestor hatte zeit seines Lebens Musik geliebt. Und damit meinte er nicht die Art von Lärm und kindlicher, simpler Aneinan­derreihung von Tönen, die man allgemein als Musik bezeichnete, sondern Musik für Erwachsene, Musik für denkende Menschen. Richard Wagner. Chromatische Tonleitern. Zwölf Halbtonschritte mit einem Frequenzverhältnis entsprechend der zwölften Wurzel aus zwei. Reine, pure Mathematik, Harmonie, deutsche Ordnung. Aber dieses Geräusch war das Gegenteil von Musik. Unordnung, Töne, die in keiner Verbindung zueinander standen, Chaos. Als er wieder wach wurde, realisierte er, dass er in einem Auto in irgendeinem Behälter lag. Ihm war übel, und ­alles drehte sich. Seine Hände und Füße waren mit etwas Scharfem gefesselt, das in seine Haut schnitt. Vermutlich waren das Plastikstrips, manchmal benutzte er die auch bei seinen Mädchen. Nachdem der Wagen gehalten hatte, wurde er herausge­hoben und erkannte, dass er sich in einer Art Koffer mit Rädern befinden musste. Halb liegend, halb stehend wurde er über unebenes Terrain geschoben und hörte dabei den keuchenden Atem des Mannes, der ihn vor sich herbugsierte. Nestor schrie ihn an, bot ihm Geld, um freigelassen zu werden, bekam aber keine Antwort. Er hörte nur diesen unmusikalischen, atonalen Krach, der immer lauter wurde und den er längst erkannt hatte, als der Koffer gekippt wurde und er auf dem Rücken lag und das kalte Wasser spürte, das durch den Stoff des Koffers und seinen Anzug drang. Moorwasser.

Hunde. Das kurze, harte Bellen der Argentinischen Doggen.

Nur wusste er nicht, was das alles sollte. Wer war der Kerl, und warum passierte das alles? Wollte jemand ihren Markt übernehmen? War es derselbe, der Kalle getötet hatte? Aber warum auf diese Weise?

Der Reißverschluss wurde aufgezogen, und Nestor kniff geblendet vom Licht der Taschenlampe, die auf sein Gesicht gerichtet war, die Augen zusammen.

Eine Hand packte ihn im Nacken und zog ihn hoch.

Er öffnete die Augen und sah die Pistole, die matt im Lichtschein glänzte. Das Hundegebell war abrupt verstummt.

»Wer war der Maulwurf?«, fragte die Stimme hinter dem Licht.

»Was?«

»Wer war der Maulwurf? Der, für den die Polizei Ab Lofthus fälschlicherweise hielt?«

Hugo Nestor blinzelte ins Licht. »Ich weiß es nicht. Du kannst mich erschießen, aber ich weiß es trotzdem nicht.«

»Wer weiß es?«

»Keiner. Keiner von uns. Vielleicht jemand bei der Polizei.«

Die Taschenlampe wurde gesenkt, und Nestor sah, dass es dieser Anwalt war. Die Brille hatte er inzwischen abgenommen.

»Sie müssen die Strafe annehmen«, sagte er. »Wollen Sie sich erst Ihr Herz erleichtern?«

Von was redete er? Der Kerl klang ja wie ein Pastor. Hatte das etwas mit dem Typ zu tun, den sie auf der Brücke liquidiert hatten? Aber das war doch nur ein korruptes, pädophiles Schwein gewesen, sicher nicht jemand, der gerächt würde.

»Ich habe kein schlechtes Gewissen«, sagte Nestor. »Wegen nichts. Mach ein Ende!«

Er fühlte sich seltsam ruhig. Vielleicht waren das die Nachwirkungen der Drogen. Oder weil er diese Situation so oft durchgespielt und längst akzeptiert hatte, dass er vermutlich einmal mit einer Kugel in der Stirn enden würde.

»Nicht einmal wegen des Mädchens, auf das Sie den Hund gehetzt und dem Sie dann die Kehle durchgeschnitten haben? Mit diesem Messer …«

Nestor blinzelte in das Licht, das von der krummen Schneide reflektiert wurde. Sein Messer.

»Nicht …«

»Wo haben Sie die Mädchen versteckt, Nestor?«

Die Mädchen? Wollte der Kerl diesen Markt übernehmen? Nestor versuchte, sich zu konzentrieren, aber in seinem Kopf war nichts als Nebel.

»Versprichst du mir, mich nicht zu erschießen, wenn ich es dir sage?«, fragte er, auch wenn er sich darüber im Klaren war, dass ein Ja in etwa die gleiche Kreditwürdigkeit hatte wie eine Deutsche Mark im Jahr 1923.

»Ja«, sagte der Kerl.

Trotzdem glaubte Nestor ihm. Warum hielt er das Wort eines Menschen für wahr, der ihn seit dem ersten Auftauchen im Vermont nur belogen hatte? Oder waren das Wahnvorstellungen seines benebelten Hirns? Klammerte es sich an den letzten Strohhalm? Schließlich war ihm in dieser Nacht am Hundezwinger mitten im Wald nichts anderes geblieben als die idiotische Hoffnung, dass sein Entführer nicht log.

»Enerhauggata 96.«

»Vielen Dank«, sagte der Kerl und schob sich die Pistole in den Hosenbund.

Vielen Dank?

Der Mann holte sein Telefon hervor und begann etwas einzutippen, das auf einem gelben Post-it-Zettel stand, bestimmt eine Telefonnummer. Als das Display sein Gesicht erhellte, dachte Nestor, dass er vielleicht doch ein Pastor war. Ein Pastor, der nicht log. A contradiction in terms, natürlich, trotzdem war er überzeugt davon, dass es Pastoren gab, die wenigstens nicht bewusst logen. Der Mann tippte weiter. Eine SMS. Schickte sie mit einem letzten Fingertippen ab und ließ das Telefon wieder in seine Tasche gleiten, bevor er Nestor ansah.

»Sie haben eine gute Tat begangen, Nestor, vielleicht werden Sie jetzt gerettet«, sagte er. »Vielleicht ist es ja gut, so etwas vorher zu wissen.«

Vor was? Nestor schluckte. Als der Kerl ihm versprach, ihn nicht zu töten, hatte seine Stimme seltsam glaubhaft geklungen. Moment! Er hatte versprochen, ihn nicht zu erschießen. Das Licht der Taschenlampe war auf das Vorhängeschloss des Zwingers gerichtet. Dann glitt der Schlüssel ins Schlüsselloch. Und plötzlich hörte Nestor auch wieder die Hunde. Kein Bellen, nur ein kaum hörbarer, vielstimmiger tiefer Ton. Ein beherrschtes Knurren wie aus der Tiefe ihres Magens, das langsam und kontrolliert immer kräftiger und lauter wurde, wie Wagners kontrapunktische Musik. Kein Dope der Welt konnte die Angst jetzt noch aufhalten. Sie lief ihm wie Eiswasser durch den Körper. Ohne Chance, davongespült zu werden, denn es fühlte sich an, als wäre ein Mann in ihm und spritzte das Innere seines Kopfs und seines Körpers aus. Und fliehen konnte er nicht, denn der Mann, der den Schlauch hielt, war er selbst, Hugo Nestor.

Fidel Lae hockte im Dunkeln und starrte nach draußen. Er hatte sich nicht gerührt und keinen Muckser von sich gegeben. Zusammengekauert versuchte er, sich zu wärmen und sein Zittern zu kontrollieren. Er erkannte beide Stimmen. Die eine gehörte dem Mann, der vor mehr als einem Tag wie aus dem Nichts aufgetaucht war und ihn hier eingesperrt hatte. Fidel hatte kaum ­etwas gegessen, nur ein bisschen Wasser getrunken. Und gefroren. Auch in Sommernächten frisst die Kälte sich in den Körper und lässt ihn gefrieren. Er hatte geschrien und um Hilfe ge­rufen, bis sein Hals trocken war, seine Stimme versagte und Blut und nicht Speichel den Rachen hinunterlief. Irgendwann verschaffte nicht einmal mehr das Wasser Linderung, sondern brannte wie Alkohol.

Als er das Auto hörte, versuchte er wieder zu schreien. Und er weinte, als kein Laut, sondern bloß ein heiseres Krächzen wie eine Fehlschaltung über seine Lippen kam.

Das Bellen der Hunde verriet ihm, dass jemand kam. Er hoffte und betete und erkannte schließlich an der Silhouette, die sich vor dem Sommerhimmel abzeichnete, dass es wieder der Mann war. Der Mann, der tags zuvor über das Moor geschwebt war, ging jetzt gebeugt und schob etwas vor sich her. Einen Koffer. Mit einem lebenden Menschen darin. Einen Mann, der mit gefesselten Händen und Füßen derart eingepfercht worden war, dass er kaum das Gleichgewicht halten konnte, als er vor der Tür des Zwingers neben Fidel stand.

Hugo Nestor.

Sie waren kaum vier Meter von Fidel entfernt, aber trotzdem hörte er nicht, was sie sagten. Der Mann schloss das Vorhängeschloss auf und legte die Hand auf Nestors Kopf, als wollte er ihn segnen. Dann sagte er etwas und drückte Nestors Kopf leicht nach unten. Der untersetzte Mann im Anzug schrie kurz auf, kippte nach hinten und traf die Zwingertür, die nach innen aufging. Die Hunde wichen zurück. Dann ging ein Ruck durch Ghost Buster, und er setzte sich in Bewegung. Fidel sah, wie sich die weißen Hundekörper auf Nestor stürzten. So lautlos, dass ­Fidel hörte, wie die Kiefer zuschnappten, sie das Fleisch fast selig knurrend zerrissen, begleitet von Nestors Schrei. Ein einsamer, zitternder, seltsam reiner Ton, der in den hellen nordischen Himmel stieg, vor dem Fidel die Insekten tanzen sah. Dann brach der Ton abrupt ab. Etwas erhob sich wie ein Schwarm in den Himmel und fiel dann auf ihn herab. Er spürte die Dusche aus winzigen, warmen Tropfen und verstand, denn er war schon einmal dabei gewesen, als die Hunde einem auf der Jagd angeschossenen Elch die Halsschlagader durchgebissen hatten. Fidel hielt sich den Ärmel seiner Jacke übers Gesicht und wandte sich ab. Auch der Mann, der vor dem Zwinger stand, hatte sich abgewandt. Seine Schultern zitterten. Als weinte er.


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