Kapitel 37

Es war zwei Uhr, die dunkelste Phase der Sommernacht.

Von dem verlassenen Aussichtspunkt am Waldrand über Oslo sah Simon über den Fjord, der unter dem großen gelben Mond schimmerte.

»Und?«

Simon schlang den Mantel enger um sich, als wäre es kalt geworden. »Früher habe ich immer meine neuen Liebschaften mit hier raufgenommen. Und die Aussicht genossen. Geküsst. Sie wissen schon …«

Er sah, dass Kari von einem Bein aufs andere trat.

»Wir hatten keinen anderen Ort, wo wir das machen konnten. Und viele Jahre später, als Else und ich zusammenkamen, bin ich auch mit ihr hier hochgefahren. Obwohl wir eine Wohnung und ein Doppelbett hatten. Es war so … romantisch, so unschuldig. Wir fühlten uns wie damals, frisch verliebt.«

»Simon …«

Simon drehte sich um und nahm alles noch einmal neu wahr. Den Polizeiwagen mit dem blinkenden Blaulicht, das Absperrband und den blauen Honda Civic mit zerschmetterter Windschutzscheibe und dem Toten in der, gelinde gesagt, unnatür­lichen Position auf dem Beifahrersitz. Es waren viele Polizisten hier. Zu viele. Panikartig viele.

Der Rechtsmediziner war ausnahmsweise schneller hier oben gewesen als er selbst. Er meinte, dass sich der Tote bei dem Aufprall beide Beine gebrochen habe und dass er dann über die Motorhaube ins Wageninnere geschleudert worden sei, dort habe er sich an der Rücklehne das Genick gebrochen. Verwundert war der Rechtsmediziner allerdings darüber, dass der Tote keine Verletzungen im Gesicht oder am Kopf hatte, er war ja schließlich durch die Scheibe geflogen. Er wunderte sich allerdings nicht mehr, als Simon Schrotkörner aus dem Sitz fischte. Simon bat auch um eine Analyse des Blutes auf dem Fahrersitz, dass es sich dort so gesammelt hatte, entsprach nicht den Platzwunden an den Beinen des Toten.

»Und der da hat uns alarmiert?«, fragte Simon und nickte in Richtung von Åsmund Bjørnstad, der wild gestikulierend bei den Leuten der Spurensicherung stand.

»Ja«, sagte Kari. »Da der Wagen auf Eva Morsand gemeldet ist, eines der Mordopfer von Lofthus, wollte er …«

»Bisher steht er nur unter Verdacht.«

»Entschuldigung?«

»Lofthus steht im Falle Eva Morsand nur unter Mordverdacht. Hat jemand mit Yngve Morsand gesprochen?«

»Er behauptet, nichts zu wissen. Er übernachtet heute in einem Hotel in Oslo und will das Auto zuletzt bei sich in der Garage gesehen haben. Laut der Drammener Polizei hat es wohl in Morsands Haus eine Schießerei gegeben. Leider wohnt er sehr weit vom nächsten Nachbarn entfernt, so dass wir keine Zeugen haben.«

Åsmund Bjørnstad kam auf sie zu. »Jetzt wissen wir, wer der Typ auf dem Beifahrersitz ist. Evgeni Zubov. Ein alter Bekannter. Und die Polizei in Drammen sagt, dass im Fußboden massenhaft Einschüsse sind, in Fächerform, Kaliber 9x19.«

»Uzi?«, fragte Simon und zog die Augenbrauen hoch.

»Was soll ich Ihrer Meinung nach an die Presse weitergeben?«, fragte Åsmund und zeigte über die Schulter nach hinten. Die ersten Reporter drängten sich bereits am Absperrband.

»Das Übliche«, sagte Simon. »Ein bisschen, aber ohne wirklich etwas zu sagen.«

Bjørnstad seufzte tief. »Die sitzen uns echt auf der Pelle. Wir kommen gar nicht zum Arbeiten. Ich hasse sie.«

»Sie machen auch nur ihre Arbeit«, sagte Simon.

»Er wird langsam ein richtiger Medienpromi. Ist Ihnen das aufgefallen?«, sagte Kari, die beobachtete, wie der junge Dezernatsleiter auf das Blitzlichtgewitter zuging.

»Er ist ja auch hübsch, unser Kommissar«, sagte Simon.

»Nicht Bjørnstad. Ich meine Sonny Lofthus.«

Simon drehte sich überrascht zu ihr um. »Wirklich?«

»Sie stellen ihn als eine Art modernen Terroristen dar. Sagen, dass er der organisierten Kriminalität und dem Kapitalismus den Krieg erklärt hat. Dass er gegen die faulen Elemente in unserer Gesellschaft kämpft.«

»Aber er ist doch selbst kriminell.«

»Das macht die Geschichte nur noch spannender. Lesen Sie keine Zeitung?«

»Nein.«

»Und ans Telefon gehen Sie auch nicht. Ich habe versucht, Sie anzurufen.«

»Ich war beschäftigt.«

»Beschäftigt? Die ganze Stadt steht wegen dieser Morde kopf, und Sie sind weder im Büro noch im Einsatz? Sind Sie nicht mein Chef, Simon?«

»Verstanden. Um was ging es denn?«

Kari holte tief Luft. »Ich habe nachgedacht. Lofthus ist einer der ganz wenigen Menschen in diesem Land, der weder ein Bankkonto noch eine Kreditkarte oder einen festen Wohnsitz hat. Wir wissen aber, dass er durch den Mord an Kalle Farrisen genug Bargeld hat, um im Hotel zu wohnen.«

»Er hat im Plaza cash bezahlt.«

»Genau. Deshalb habe ich das mit den Hotels noch mal überprüft. Von den zwanzigtausend Leuten, die jeden Tag in Oslo im Hotel übernachten, bezahlen nur rund sechshundert mit Bargeld.«

Simon starrte sie an. »Können Sie herausfinden, wie viele dieser sechshundert in Kvadraturen abgestiegen sind?«

»Äh, ja. Die Liste der Hotels habe ich hier.« Sie holte einen zusammengefalteten Zettel aus der Jackentasche. »Warum?«

Simon schnappte sich den Ausdruck mit der einen Hand, während er sich mit der anderen die Lesebrille aufsetzte, den Zettel auseinanderfaltete und den Blick über die Zeilen gleiten ließ. Er sah sich die Adressen an. Ein Hotel. Zwei. Drei. Sechs. Und in ­einigen hatten mehrere Gäste bar bezahlt, besonders in den billigen. Es waren noch immer zu viele Namen. Und ein paar der ganz billigen Hotels standen gar nicht auf der Liste.

Abrupt hörte Simon auf zu lesen.

Billig.

Wie die Frau, die an seine Scheibe geklopft hatte. Ein Schäferstündchen in einem Auto, an der Festung oder … im Bismarck. Dem Hurenhotel der Stadt. Mitten in Kvadraturen.

»Warum, habe ich gefragt.«

»Verfolgen Sie diese Spur weiter, ich muss weg.« Simon ging schon in Richtung Auto.

»Moment!«, rief Kari und stellte sich ihm in den Weg. »Sie hauen jetzt nicht wieder ab. Was läuft hier eigentlich?«

»Laufen?«

»Sie machen doch ständig irgendwelche Alleingänge. Das geht so nicht.« Kari schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Simon erkannte erst jetzt, dass auch sie müde war, ausgebrannt.

»Ich weiß nicht, was das alles soll«, sagte sie. »Wollen Sie den Tag retten, am Ende Ihrer Karriere noch mal richtig Held sein und besser als Bjørnstad und die Kripos zusammen? Aber Simon, das funktioniert nicht. Nicht so. Dieser Fall ist zu groß für Hahnenkämpfe zwischen großen Jungs.«

Simon sah sie lange an. Und nickte schließlich langsam. »Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht habe ich aber auch andere Beweggründe, als Sie glauben.«

»Dann müssen Sie mir sagen, was die Beweggründe sind.«

»Das kann ich nicht, Kari. Sie müssen mir einfach vertrauen.«

»Als wir bei Iversen waren, haben Sie gesagt, dass ich draußen warten soll, weil Sie nicht ganz nach Vorschrift vorgehen wollten. Ich will keine Vorschriften brechen, Simon. Ich will einfach meine Arbeit machen. Und wenn Sie mir nicht sagen, um was es hier geht …« Ein Zittern hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Sie ist wirklich verdammt müde, dachte Simon. »… dann muss ich irgendwem davon Meldung machen.«

Simon schüttelte den Kopf. »Tun Sie das nicht, Kari.«

»Und warum nicht?«

»Weil«, sagte Simon, suchte ihren Blick und sah sie fest an, »weil dieser Maulwurf noch immer da ist. Geben Sie mir vierundzwanzig Stunden. Bitte.«

Simon wartete ihre Antwort nicht ab. Warum auch. Er ließ sie stehen und ging zum Wagen. Spürte ihren Blick im Rücken.

Als er vom Holmenkollåsen nach unten fuhr, spielte Simon den Soundtrack des kurzen Telefonats mit Sonny ab. Das rhythmische Klopfen. Die übertriebenen Schreie. Die dünnen Wände im Hurenhotel Bismarck. Warum hatte er diese Geräusche nicht gleich erkannt?

Simon blickte auf den Jungen hinunter, der an der Rezeption des Hotels saß und den Polizeiausweis studierte. So viele Jahre waren seit damals vergangen, und doch war noch alles unverändert. Mal von dem Jungen abgesehen, der damals hier noch nicht gesessen hatte. Aber egal.

»Also, ich sehe ja, dass Sie von der Polizei sind, aber ich habe kein Gästebuch, das ich Ihnen zeigen kann.«

»Er sieht so aus«, sagte Simon und legte das Foto auf den Tisch.

Der Junge sah sich das Bild genau an und zögerte.

»Wir können auch gerne eine Razzia machen und dieses Rattenloch ein für alle Mal schließen«, sagte Simon. »Was würde Ihr Vater wohl sagen, wenn wir sein Bordell dichtmachen?«

Die Ähnlichkeit hatte ihn nicht getrogen, er hatte einen Treffer gelandet.

»Er wohnt in der zweiten Etage. Zimmer 216. Sie müssen da …«

»Ich finde den Weg. Geben Sie mir den Schlüssel.«

Der Junge zögerte erneut. Dann zog er eine Schublade auf, nahm einen Schlüssel von einem dicken Bund und reichte ihn Simon. »Aber ich will hier kein Chaos.«

Simon ging an den Aufzügen vorbei und lief mit großen Schritten die Treppe hinauf. Auf dem Flur oben achtete er auf alle Geräusche. Es war still. Vor dem Raum 216 nahm er seine Glock her­aus und legte den Finger auf den Double-Action-Abzug. Er steckte den Schlüssel so lautlos wie möglich ins Schlüsselloch und drehte ihn herum. Mit der Pistole in der rechten Hand stellte er sich neben den Türrahmen und öffnete die Tür mit der linken. Er zählte bis vier, schob rasch den Kopf vor und wieder zurück. Atmete aus.

Im Raum war es dunkel, obwohl die Gardinen nicht zugezogen waren. Das Licht reichte aber, damit Simon das Bett sehen konnte.

Es war gemacht und leer.

Er trat ein und überprüfte das Bad. Eine Zahnbürste und Zahnpasta.

Er ging zurück und setzte sich im Dunkeln auf den völlig überflüssigen Stuhl, der an der Wand stand.

Dann nahm er sein Telefon und wählte eine Nummer. Irgendwo im Raum begann es zu piepen. Simon öffnete den Kleiderschrank. Oben auf einem Aktenkoffer lag ein Telefon, auf dem Display leuchtete Simon seine Nummer entgegen.

Er brach den Anruf ab und setzte sich wieder auf den Stuhl.

Sonny hatte das Telefon bewusst nicht mitgenommen, damit man ihn nicht aufspüren konnte. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass es jemand in einer so belebten Gegend finden würde.

Simon horchte in die Dunkelheit. Eine Uhr tickte dem Ende entgegen.

Markus war noch wach, als der Sohn die Straße herunterkam.

Das gelbe Haus hatte er beobachtet, seit diese andere Person vor einigen Stunden gekommen war. Er hatte sich nicht einmal ausgezogen, er wollte bereit sein.

Er erkannte den Sohn, der mitten auf der Straße lief, schon am Gang. Das Licht fiel auf ihn, wenn er unter den Laternen hindurchging. Er wirkte müde, vielleicht war er weit gelaufen, denn er schwankte etwas. Markus richtete sein Fernrohr auf ihn. Er trug einen Anzug, hielt sich die Seite und hatte sich ein rotes Tuch um die Stirn geschlungen. War das Blut in seinem Gesicht? Egal, er musste ihn warnen. Markus öffnete vorsichtig die Tür seines Schlafzimmers, schlich die Treppe runter, zog sich die Schuhe an und lief über das dünne Gras zum Gartentor.

Der Sohn bemerkte ihn und blieb vor dem Eingang zu seinem eigenen Grundstück stehen.

»Guten Abend, Markus. Solltest du nicht längst schlafen?«

Ruhig, mit weicher Stimme. Er sah aus, als wäre er im Krieg gewesen, sprach aber, als würde er eine Gutenachtgeschichte erzählen. Markus dachte, dass er selbst auch mit einer solchen Stimme reden wollte, wenn er groß war und keine Angst mehr hatte.

»Tut dir was weh?«

»Ich bin beim Fahren von etwas getroffen worden«, sagte der Sohn lächelnd. »Ist aber nicht so schlimm.«

»In deinem Haus ist jemand.«

»Oh?«, sagte der Sohn und drehte sich zu den schwarzen Fenstern um. »Polizei oder Gangster?«

Markus schluckte. Er hatte das Bild im Fernsehen gesehen. Aber er erinnerte sich auch daran, dass Mama gesagt hatte, man müsse vor ihm keine Angst haben, weil er es ja nur auf andere Bösewichte abgesehen habe. Und seine vielen Twitter-Fans schrieben, dass man es ruhig zulassen sollte, wenn sich die Schweine gegenseitig umbrachten. Das wäre auch nichts anderes, als wenn in der Landwirtschaft Schädlinge mit anderen Schädlingen bekämpft wurden.

»Weder noch, glaube ich.«

»Oh?«

Martha wachte davon auf, dass jemand in den Raum kam.

Sie hatte geträumt. Von der Frau auf dem Dachboden. Von dem Kind. Dass sie es lebendig im Keller gesehen hatte und dass es die ganze Zeit dort gewesen war, geweint hatte und nur darauf gewartet, endlich wieder rausgelassen zu werden. Und jetzt war es draußen, jetzt war es hier.

»Martha?«

Seine ruhige, warme Stimme klang ungläubig.

Sie drehte sich im Bett um und sah ihn an.

»Du hast gesagt, dass ich kommen kann«, sagte sie. »Niemand hat aufgemacht, aber ich wusste ja, wo der Schlüssel liegt.«

»Du bist gekommen.«

Sie nickte. »Ich habe dieses Zimmer genommen, okay?«

Er nickte nur und setzte sich auf die Bettkante.

»Die Matratze lag auf dem Boden«, sagte sie und streckte sich. »Übrigens ist ein Buch aus dem Lattenrost gefallen, als ich die Matratze wieder ins Bett gelegt habe. Ich habe es da drüben auf den Schreibtisch gelegt.«

»Wirklich?«

»Warum war die Matratze eigentlich auf dem Boden …?«

»Ich hatte mich darunter versteckt«, sagte er und sah sie an. »Als ich wieder aus dem Bett wollte, habe ich sie einfach auf den Boden geworfen und liegen gelassen. Was hast du da?«

Er hob die Hand, die er auf die Seite gepresst hatte, und berührte ihr Ohr. Sie antwortete nicht. Ließ ihn den Ohrring berühren. Ein Windhauch bewegte die Gardine, die sie in der Kiste gefunden und aufgehängt hatte. Ein Streifen Mondlicht fiel in den Raum, auf ihre Hand, auf sein Gesicht. Sie erstarrte.

»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, sagte er.

»Nicht die Wunde auf der Stirn, nein. Aber du blutest noch an einer anderen Stelle. Wo genau?«

Er schob die Jacke zur Seite. Die rechte Hälfte seines Hemdes war blutgetränkt.

»Was ist das?«

»Eine Kugel. Die hat mich gerade noch erwischt. Ist aber ein glatter Durchschuss. Ungefährlich. Es blutet nur ein bisschen, heilt dann aber von allein …«

»Halt den Mund«, sagte sie, warf die Decke zur Seite, nahm seine Hand und führte ihn ins Bad. Es kümmerte sie nicht, dass er dastand und sie in Unterwäsche sah, als sie den Medizinschrank durchsuchte. Sie fand zwölf Jahre alte Desinfektionsmittel, zwei Mullbinden, Kompressen, eine kleine Schere, Verbandsmaterial und Pflaster. Dann musste er den Oberkörper frei machen.

»Siehst du, ich bin nur ein bisschen Speck losgeworden«, sagte er lächelnd.

Sie hatte schon Schlimmeres gesehen. Aber auch Besseres. Sie reinigte die Wunden und legte Kompressen auf die Ein- und Austrittsstellen des Projektils. Dann wickelte sie ihm eine Bandage um den Bauch. Zuletzt löste sie das Tuch von seiner Stirn. Die Wunde begann sofort wieder zu bluten.

»Hatte deine Mutter Nähsachen? Sind die noch irgendwo?«

»Das muss doch nicht …«

»Halt den Mund, habe ich gesagt.«

Sie brauchte vier Minuten und vier Stiche, um die Wundränder zusammenzunähen.

»Ich habe den Aktenkoffer im Flur gesehen«, sagte er, während sie die Mullbinde um seinen Kopf wickelte.

»Das ist nicht mein Geld. Außerdem hat die Kommune uns ja das Geld für die Renovierung zugesichert. Aber trotzdem danke.« Sie klebte ein Pflaster auf die Wunde und streichelte ihm über die Wange. »So, das sollte …«

Er küsste sie. Mitten auf den Mund. Und ließ sie los.

»Ich liebe dich.«

Dann küsste er sie wieder.

»Ich glaube dir nicht«, sagte sie.

»Du glaubst mir nicht, dass ich dich liebe?«

»Ich glaube dir nicht, dass du schon andere Mädchen geküsst hast. Du küsst schrecklich.«

Seine Augen funkelten, als er lachte. »Na ja, da war eine lange Pause dazwischen. Wie ging das noch mal?«

»Hab keine Angst, dass nicht genug passieren könnte. Lass es einfach geschehen. Küss langsam.«

»Langsam?«

»Wie eine schläfrige, weiche Anakonda. So.«

Sie nahm seinen Kopf vorsichtig zwischen die Hände und legte ihren Mund auf seinen. Wie seltsam natürlich es war, wie zwei Kinder, die ein spannendes, aber unschuldiges Spiel spielten. Dass er ihr vertraute. Dass sie ihm vertraute.

»Verstehst du?«, flüsterte sie. »Mehr Lippen, weniger Zunge.«

»Mehr Kupplung, weniger Gas.«

Sie kicherte. »Genau. Gehen wir ins Bett?«

»Und was passiert da?«

»Das sehen wir dann. Wie fühlt sich deine Seite an? Hält der Verband?«

»Hält für was?«

»Stell dich nicht so dumm.«

Er küsste sie wieder. »Bist du dir sicher?«, flüsterte er.

»Nein. Wenn wir also zu lange warten …«

»Lass uns ins Bett gehen.«

Rover stand auf und streckte stöhnend den Rücken. Vor lauter ­Eifer hatte er gar nicht gemerkt, dass sein Körper ganz steif geworden war. Wie wenn er Janne liebte, die manchmal, manchmal aber auch nicht, zu ihm kam, um zu sehen, »was er so machte«. Er hatte ihr zu erklären versucht, dass es gar kein so großer Unterschied war, ob er an einer Maschine schraubte oder sich um sie kümmerte. Man konnte stundenlang in derselben Position verharren und die immer gleiche Bewegung machen, ohne zu spüren, wie sehr die Muskeln schmerzten oder die Zeit verging. Erst hinterher kam die payback time. Sie hatte seinen Vergleich gemocht. Aber Janne war ja auch Janne.

Rover wischte sich die Hände ab. Die Arbeit war geschafft. Als Letztes hatte er den neuen Auspuff an die Harley-Davidson geschraubt. Eigentlich nur das Tüpfelchen auf dem i. Wie wenn ein Klavierbauer das Klavier stimmt. Man konnte bis zu zwanzig Pferdestärken allein durch die richtige Kombination von Auspuff und Luftfilter erreichen, aber eigentlich ging es beim ­Auspuff nur um den Sound. Das wussten alle. Um den tiefen, brummenden, saftigen Bass, der mit nichts vergleichbar war. Natürlich könnte er den Schlüssel umdrehen und der Musik des Motors lauschen, nur um bestätigt zu bekommen, was er bereits wusste. Er konnte sich das aber auch bis zum nächsten Morgen aufheben. Janne sagte immer, dass man das Gute nicht aufschieben sollte, schließlich könnte einem niemand garantieren, dass man am nächsten Tag überhaupt noch lebte. Vermutlich war Janne so zu Janne geworden.

Rover wischte sich das Öl mit einem Lappen von den Fingern, als er ins Hinterzimmer ging, um sich die Hände zu waschen. Er sah sich im Spiegel. Schwarze Kriegsbemalung und Goldzahn. Wie üblich spürte er jetzt, nachdem er fertig war, auch die anderen Bedürfnisse: Essen, Trinken, Schlafen. Das war das Beste.

Aber nach einem Projekt wie diesem gab es auch immer eine seltsame Leere. Dann stellten sich Fragen wie »Was nun?« oder »Wofür das Ganze?«. Er jagte den Gedanken fort und starrte auf das warme Wasser, das aus dem Hahn strömte. Zuckte zusammen und drehte das Wasser ab. War das Geräusch aus der Garage gekommen? Janne? Jetzt?

»Ich liebe dich«, sagte Martha.

Irgendwann hatte er aufgehört – beide außer Atem, schwitzend, rot –, hatte den Schweiß zwischen ihren Brüsten mit dem Laken, das sie unter der Matratze hervorgezerrt hatten, weggewischt und gesagt, sie könnten hier auftauchen, es sei gefährlich. Und sie hatte gesagt, sie lasse sich nicht so schnell Angst einjagen, wenn sie sich erst einmal für etwas entschieden habe. Und wenn sie schon reden müssten, könne sie ihm übrigens sagen, dass sie ihn liebe.

»Ich liebe dich.«

Dann machten sie weiter.

»Eine Sache ist es, mir keine Waffen mehr zu besorgen«, sagte der Mann und streifte sich einen dünnen Handschuh von der Hand. Der größten Hand, die Rover je gesehen hatte. »Eine andere, sie meinem Feind zu besorgen, verstanden?«

Rover versuchte nicht, sich zu befreien. Er wurde von zwei Männern festgehalten, und ein dritter stand neben dem großen Mann und hatte eine Pistole auf Rovers Stirn gerichtet. Eine Pistole, die Rover gut kannte, weil er sie selbst modifiziert hatte.

»Dass du diesem Kerl eine Uzi gegeben hast, war etwa so klug, wie mir eine Visitenkarte mit der Aufforderung zu schicken, zur Hölle zu fahren. Willst du das? Willst du mich in die Hölle schicken?«

Rover hätte darauf antworten können. Sagen, dass der Zwilling nach allem, was er wusste, ja aus der Hölle kam.

Aber er tat es nicht. Er wollte noch ein bisschen leben. Ein paar Sekunden.

Er starrte auf das Motorrad, das hinter dem Großen stand.

Janne hatte recht. Er hätte den Motor anlassen sollen. Hätte die Augen schließen und dem Sound lauschen, sich mehr gönnen sollen. Es war eine ebenso banale wie einleuchtende Tatsache, trotzdem aber so unfassbar, dass man erst auf der Schwelle ins Jenseits erkannte, wie banal sie war: Es gab nur eine einzige Gewissheit, man musste sterben.

Der Mann legte die Handschuhe auf die Werkbank. Sie sahen aus wie gebrauchte Kondome. »Mal sehen …«, sagte er und betrachtete das Werkzeug an der Wand. Dann streckte er seinen Zeigefinger aus und sagte mit leiser Stimme: »Ene, mene, miste …«


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