Epilog

Schneeflocken wirbelten aus einem blassen, endlosen Himmel und legten sich auf die Decke aus Asphalt, Wegen, Autos und Häusern.

Kari stand gebeugt auf der Treppe, schnürte sich die Schuhe zu und sah zwischen ihren Beinen hindurch die Straße hinunter. Simon hatte recht gehabt. Man sah neue Dinge, wenn man Perspektive und Standpunkt veränderte. Jede Form von Blindheit kann kompensiert werden. Sie hatte Zeit gebraucht, das zu verstehen. Zu erkennen, dass Simon Kefas in so vielem recht gehabt hatte. Nicht in allem. Aber in irritierend vielen Punkten.

Sie richtete sich auf.

»Ich wünsch dir einen schönen Tag, Schatz«, sagte die Frau, die in der Tür stand und Kari auf den Mund küsste.

»Ich dir auch.«

»Na ja, Böden wischen lässt sich kaum mit schönem Tag kombinieren. Aber ich werd’s versuchen. Wann kommst du wieder?«

»Zum Essen, wenn nichts dazwischenkommt.«

»Schön, es sieht aber so aus, als würde etwas dazwischenkommen.«

Kari drehte sich in die Richtung, in die Sam zeigte. Der Wagen, der vor dem Haus hielt, war bekannt, und das Gesicht, das sich hinter der heruntergelassenen Scheibe zeigte, noch mehr.

»Was gibt’s, Åsmund?«, rief Sam.

»Tut mir leid, dass ich beim Renovieren störe, aber ich muss deine Freundin entführen«, entgegnete der Kommissar. »Wir haben da was gefunden.«

Kari sah zu Sam, die ihr auf die Batzentasche der Jeans klopfte. Kari hatte irgendwann im Herbst den Rock und die Kostümjacke in den Schrank gehängt, und aus unerfindlichen Gründen waren sie dort auch geblieben.

»Hau schon ab und mach deine Arbeit!«

Während sie nach Osten über die E18 fuhren, ließ Kari den Blick über die schneebedeckte Landschaft gleiten. Sie wunderte sich, wie sehr der erste Schnee eine Grenze markierte, alles versteckte, was geschehen war, und die Welt veränderte, die man sah. Die Monate nach der Schießerei auf Aker Brygge und in der katholischen Kirche waren einfach nur chaotisch gewesen. Natürlich hatte die Polizei in der Kritik gestanden, insbesondere die Brutalität und die Tatsache, dass ein einzelner Mann einen derart rabiaten Alleingang machen konnte. Aber Simon wurde trotzdem mit allen Ehren beerdigt. Er war ein Polizist ganz nach dem Herzen des Volkes, einer, der sich gegen die Kriminellen der Stadt gewehrt und sein Leben im Einsatz für die Gerechtigkeit verloren hatte. Da konnte es schon mal vorkommen, wie Polizeipräsident Parr in seiner Grabrede sagte, dass man dem Regelbuch nicht auf Punkt und Komma folgte. Und damit auch nicht den norwegischen Gesetzen. Parr hatte allen Grund, eine gewisse Großzügigkeit zu zeigen, da er selbst die Regeln des norwegischen Steuerrechts brach und Teile des Familienvermögens in einem anonymen Fonds auf den Cayman-Inseln anlegte. Kari hatte Parr beim Leichenschmaus damit konfrontiert, dass die Nachforschungen über die Abrechnung der Stromkosten von Lofthus’ Haus sie schließlich zu seinem Namen geführt hatten. Parr gab das vorbehaltlos zu, wies allerdings darauf hin, er habe keine Gesetze gebrochen und bei alldem nur gute Absichten gehabt: Er wollte sein schlechtes Gewissen entlasten, dass er nach Abs Selbstmord nicht besser auf Sonny und seine Mutter aufgepasst hatte. Parr meinte, das Ganze habe ihn kaum etwas gekostet, habe andererseits aber sichergestellt, dass der Junge ein Haus hatte, das wenigstens bewohnbar war, wenn er aus dem Gefängnis kam. Auch mit der Tatsache, dass Buddha mit dem Schwert spurlos verschwunden war, hatte man sich irgendwann abgefunden. Sein Kreuzzug war mit dem Tode Levi Thous, alias der Zwilling, allem Anschein nach zu Ende.

Else sah jetzt viel besser. Die Operation in den USA war zu achtzig Prozent geglückt, erzählte sie, als Kari sie ein paar Wochen nach der Beerdigung besuchte. Und dass fast nichts vollkommen sei. Das Leben nicht, die Menschen, Simon nicht. Nur die Liebe.

»Er hat sie nie vergessen. Helene. Sie war die große Liebe seines Lebens.« Es war Sommer, und sie saßen im Garten in Disen, tranken Portwein und betrachteten den Sonnenuntergang. Und Kari hatte verstanden, dass Else etwas loswerden wollte. »Er hat mir erzählt, dass die beiden anderen, die ein Auge auf sie geworfen hatten, Ab und Pontius, schneller, stärker und klüger waren als er. Aber er war derjenige, der sie so sah, wie sie war. Das war das Besondere an Simon. Er sah Menschen, er sah ihre Engel und Dämonen. Und hatte selbst mit seinen eigenen zu kämpfen. Simon litt unter Spielsucht.«

»Das hat er mir erzählt.«

»Er und Helene wurden ein Paar, aber sein Leben war durch das Spielen das reinste Chaos. Die Beziehung hielt nicht lange, aber Simon sagte, dass er sie schon nach kurzer Zeit fast mit in den Abgrund gezogen hätte. Irgendwann kam Ab Lofthus und rettete sie vor ihm. Ab und Helene zogen aus. Simon war am Boden zerstört. Und kurz darauf erfuhr er, dass sie schwanger war. Er spielte wie ein Verrückter, verlor alles, und als er am Rand des Abgrunds stand, ging er zum Teufel und bot ihm das Letzte, was er hatte. Seine Seele.«

»Er ging zum Zwilling.«

»Ja. Simon war einer der wenigen, der wusste, wer der Zwilling war. Aber der Zwilling erfuhr nie, wer Simon und Ab waren, sie übermittelten ihm ihre Informationen immer nur per Telefon oder Brief. Später dann über den Computer.«

In der Stille, die folgte, hörten sie das Rauschen des Verkehrs auf dem Trondheimsveien und dem Sinsenkrysset.

»Simon und ich haben über alles geredet, weißt du. Aber dieser Punkt ist ihm verdammt schwergefallen. Wie er seine Seele verkauft hat. Andererseits meinte er, dass er sich diese Scham vielleicht wirklich gewünscht hatte, diese Demütigung, diese Selbstverachtung; sie bewirkte eine Taubheit in ihm, die den anderen Schmerz überlagerte. War eine Form von mentaler Selbstverletzung.«

Sie strich sich den Rock glatt, und Kari fiel auf, dass sie irgendwie dünn und zerbrechlich und doch auch stark wirkte.

»Am schlimmsten für Simon aber war das, was er Ab angetan hatte. Er hasste Ab, weil er ihm das Einzige genommen hatte, was jemals für ihn von Bedeutung gewesen war. Deshalb zog er ihn mit in den gleichen Abgrund. Ab und Helene hatten derart hohe Schulden, als die Bankenkrise kam und die Zinsen stiegen, dass nur eins sie davor bewahren konnte, nicht auf die Straße ­gesetzt zu werden, und das war schnelles Geld. Gleich nachdem ­Simon die Vereinbarung mit dem Zwilling getroffen hatte, ging er zu Ab und bot auf seine Seele. Zuerst weigerte Ab sich, er wollte Simon sogar anzeigen, doch dann traf Simon Abs Achillesferse. Seinen Sohn. Er argumentierte, dass die Welt nun einmal so sei und dass letztendlich sein Sohn mit einer Kindheit und Jugend in Armut den Preis für Abs weiße Weste zahlen müsse. Später hat er mir gesagt, es sei das Schlimmste gewesen zuzusehen, wie Ab innerlich aufgefressen wurde und immer mehr seine Seele verlor. Aber er habe sich dadurch auch weniger einsam gefühlt. Bis der Zwilling seinen Maulwurf an der Spitze der Polizei haben wollte und es keinen Platz mehr gab für zwei.«

»Warum erzählst du mir das, Else?«

»Weil er mich darum gebeten hat. Er meinte, du solltest das wissen, bevor du deine Entscheidung fällst.«

»Er hat dich gebeten, mir das zu erzählen? Heißt das, er wusste, dass …?«

»Ich weiß es nicht, Kari. Er hat nur gesagt, er habe in dir viel von sich selbst wiedererkannt. Er wollte, dass du aus den Fehlern lernst, die er als Polizist begangen hat.«

»Aber er wusste, dass ich gar nicht bei der Polizei bleibe.«

»Bleibst du nicht?« Das schräg einfallende Sonnenlicht glänzte matt in dem tiefroten Wein, als Else ihr Glas an die Lippen führte, vorsichtig einen Schluck trank und es wieder abstellte.

»Als Simon erkannte, dass Ab Lofthus bereit war, ihn zu töten, damit er den einen Platz bekam, nahm er mit dem Zwilling Kontakt auf und sagte, Ab müsse eliminiert werden, denn er sei ihm auf der Spur. Und Simon sagte, die Sache sei sehr dringend. Er gebrauchte ein Bild, als er mir das erzählte. Er sagte, Ab und er seien wie eineiige Zwillinge gewesen, die denselben Alptraum gehabt hätten; jeder wollte dem anderen das Leben nehmen. Deshalb kam er Ab zuvor. Simon hat seinen besten Freund getötet.«

Kari schluckte und kämpfte gegen die Tränen an. »Aber er hat es bereut«, flüsterte sie.

»Ja, er hat es bereut. Er hat als Maulwurf aufgehört. Er hätte weitermachen können. Aber dann starb auch Helene. Er war am Ende. Hatte alles verloren, was er verlieren konnte. Deshalb hatte er auch keine Angst mehr. Stattdessen nutzte er den Rest seines Lebens, um Buße zu tun. Und um alles wiedergutzumachen. Er war chancenlos bei seiner Jagd auf die anderen, die ebenso korrupt waren, wie er es gewesen war. So schafft man sich keine Freunde bei der Polizei. Er wurde einsam. Aber ohne Selbstmitleid, er meinte, er habe diese Einsamkeit verdient. Ich erinnere mich noch, wie er gesagt hat, der Selbsthass ist ein Hass, der jeden Morgen neue Nahrung findet, wenn man in den Spiegel schaut.«

»Du hast ihn gerettet, nicht wahr?«

»Er hat mich seinen Engel genannt. Aber es war nicht meine Liebe zu ihm, die ihn gerettet hat. Egal was all die klugen Menschen sagen, ich glaube nicht daran, dass auch nur ein Mensch dadurch gerettet wird, dass man ihn liebt. Es war Simons Liebe zu mir, die ihm geholfen hat. Er hat sich selbst gerettet.«

»Weil er deine Liebe erwidert hat.«

»Amen.«

Sie hatten bis Mitternacht zusammengesessen, bis Kari gegangen war.

Auf dem Weg durch das Haus, im Flur, hatte Else ihr eine Fotografie gezeigt. Drei Personen vor einer Steinpyramide.

»Simon hatte es bei seinem Tod bei sich. Das ist sie, Helene.«

»Ich habe das Bild von ihr in dem Haus gesehen, das später abbrannte. Ich habe Simon gesagt, dass sie mich an irgendeine Sängerin oder Schauspielerin erinnerte.«

»Mia Farrow. Er hat mich in Rosemaries Baby mitgenommen. Nur um sie zu sehen. Obwohl er behauptete, diese Ähnlichkeit selbst nicht zu erkennen.«

Das Bild rührte Kari auf seltsame Weise. Es hatte irgendwie mit dem Lächeln zu tun, es war so voller Optimismus, so voller Glauben. »Ihr habt nie an Kinder gedacht? Du und Simon?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er hatte Angst.«

»Wovor?«

»Dass er seine eigenen Laster weitergeben könnte. Das Abhängigkeitsgen. Die destruktive Risikobereitschaft. Die Maßlo­sigkeit. Und die abgründige Seele. Er hatte wohl Angst davor, es könnte ein Sohn des Teufels werden. Ich habe ihn immer damit aufgezogen, dass er irgendwo ein Kind hatte und deshalb solche Angst. Aber es war so, wie es war.«

Kari nickte. Rosemaries Baby. Sie musste an die kleine alte Frau denken, die im Präsidium putzte und an deren Namen sie sich schließlich erinnert hatte.

Dann hatte sie sich verabschiedet und war hinaus in die Sommernacht getreten. Eine milde Brise – und dann die Zeit – hatte sie gefangen genommen, entführt und aus der Fassung gebracht, bis sie schließlich hier saß, in einem Auto, und auf den Neuschnee starrte und sich darüber wunderte, wie sehr er die Landschaft veränderte. Wie oft entwickelten sich die Dinge ganz anders, als man sie geplant hatte. Wie dass sie und Sam bereits jetzt ihr erstes Kind bekommen sollten.

Und zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie das erste fachlich interessante Jobangebot im Justizministerium abgelehnt und erst kürzlich die hochdotierte Stelle bei der Versicherung.

Erst als sie aus der Stadt herausgefahren waren, die schmale Brücke überquert hatten und auf die Schotterstraße kamen, fragte sie Åsmund, was denn passiert sei.

»Die Polizei in Drammen hat angerufen und unsere Unterstützung angefordert«, sagte Åsmund. »Der Tote ist Reeder. Yngve Morsand.«

»Moment, ist das nicht der Ehemann?«

»Ja.«

»Mord? Selbstmord?«

»Genaues weiß ich nicht.«

Sie parkten den Wagen hinter den Einsatzfahrzeugen, gingen durch das Tor im Staketenzaun und dann durch die Tür in das große Haus. Ein Hauptkommissar aus dem Polizeidistrikt Buskerud empfing sie, umarmte Kari und stellte sich Åsmund als Henrik Westad vor.

»Kann es Selbstmord sein?«, fragte Kari auf dem Weg ins Zimmer.

»Warum glauben Sie das?«, fragte Westad.

»Trauer um seine Frau«, sagte Kari. »Oder weil er unter diesem Verdacht stand? Oder er hat sie selber getötet und konnte damit nicht mehr leben.«

»Möglich …«, sagte Westad und führte sie ins Wohnzimmer. Die Leute der Spurensicherung krochen fast über den Mann in dem Sessel. Wie weiße Maden, dachte Kari.

»… ich bezweifle das aber«, sagte Westad abschließend.

Kari und Bjørnstad starrten den Toten an.

»Verdammt«, sagte Bjørnstad leise zu Kari. »Glaubst du … er …?«

Kari musste an das hartgekochte Ei denken, das sie zum Frühstück gegessen hatte. Oder war sie schon schwanger? War ihr deshalb übel? Sie schob den Gedanken beiseite und konzen­trierte sich auf die Leiche. Ein Auge des Mannes war aufgerissen, eine Augenklappe vor dem anderen und darüber eine unebene Schnittfläche. Jemand hatte ihm den oberen Teil des Schädels abgesägt.


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