Kapitel 25

Markus hatte in seinem Zimmer das Licht ausgemacht. Es war ein seltsames Gefühl, jemanden zu beobachten und dabei zu wissen, dass man selbst nicht gesehen werden konnte. Trotzdem durchzuckte es ihn jedes Mal, wenn der Sohn aus dem Fenster direkt in seine Richtung sah. Als wüsste er, dass ihn da draußen jemand ausspionierte. Er war jetzt im Schlafzimmer der Eltern und saß auf der rosa gestrichenen Kiste. Markus wusste, dass sie abgesehen von ein paar Bettbezügen und Laken leer war. Der gardinenlose Raum wurde durch eine Deckenlampe mit vier Glühbirnen beleuchtet, so dass alles zu erkennen war. Und da das gelbe Haus tiefer lag als ihr eigenes und Markus noch dazu auf dem oberen Stockbett saß, das er direkt ans Fenster geschoben hatte, konnte er auch sehen, was der Sohn tat. Nicht viel, denn er saß jetzt schon eine Ewigkeit da und hörte sich über die Kopfhörer etwas an, das er in seinem Handy gespeichert hatte. Bestimmt ein toller Song, denn alle drei Minuten tippte er auf dem Display herum, als hörte er wieder und wieder das gleiche Lied. Außerdem lächelte er an der immer gleichen Stelle, dabei war er bestimmt traurig wegen des Mädchens. Sie hatten sich geküsst, doch dann war sie einfach Hals über Kopf abgehauen. Der Arme. Vielleicht sollte Markus zu ihm nach drüben gehen und anklopfen. Ihn fragen, ob er Lust hatte, rüberzukommen und mit ihnen zu Abend zu essen. Mama würde das sicher nett finden. Aber der Sohn hatte so traurig ausgesehen, dass er vielleicht gar keine Gesellschaft wollte. Das konnte bis morgen warten. Markus hatte sich vorgenommen, früh aufzustehen, mit frischen Brötchen nach drüben zu gehen und zu klingeln. Ja, das würde er tun. Markus gähnte. Und in seinem Kopf spielte auch er ein Lied ab. Nicht wirklich ein Lied, eigentlich eher einen Satz. Aber der war ihm wieder und wieder durch den Kopf gegangen, seit dieser Tåsen-Idiot den Mann gefragt hatte, ob er Markus’ Vater sei: »Kann schon sein.«

Kann schon sein, haha!

Markus gähnte. Zeit zu schlafen. Er wollte ja früh aufstehen und Brötchen aufbacken. Gerade als er das Fernrohr weglegen wollte, geschah drüben etwas. Der Sohn war aufgestanden. Markus setzte das Fernrohr wieder vor die Augen. Der Sohn nahm den Teppich weg und hob die lose Bodendiele an. Das Versteck. Er hatte etwas ins Versteck gelegt. Die rote Sporttasche. Er öffnete sie. Nahm ein Tütchen mit weißlichem Pulver heraus. Markus wusste genau, was das war, er hatte so etwas schon im Fernsehen gesehen. Drogen. Dann hob der Sohn plötzlich den Kopf. Er lauschte, spitzte die Ohren, wie es die Antilopen an der Wasserstelle bei Animal Planet machten.

Auch Markus hörte jetzt das Motorengeräusch. Ein Auto. So spät am Abend kamen hier nur selten Autos vorbei. Besonders in den Sommerferien. Der Sohn war wie versteinert. Markus sah das Scheinwerferlicht auf dem Asphalt. Ein großes schwarzes Auto, ein sogenannter SUV, hielt zwischen ihren beiden ­Häusern. Zwei Männer stiegen aus. Markus studierte sie durch das Fernrohr. Beide trugen schwarze Anzüge. Men in Black. Der zweite war ziemlich überzeugend, während der kleinere der beiden blonde Haare hatte, und das kam ja gar nicht hin. Der große hatte auch schwarze Locken wie Will Smith, mitten auf dem Kopf aber eine kahle Stelle, und er war kreidebleich.

Markus sah, dass sie ihre Jacken zurechtzogen, als sie zum gelben Haus hinüberschauten. Der mit der Glatze zeigte zu dem hell erleuchteten Schlafzimmerfenster, und dann gingen sie zum Tor. Jetzt bekam er wenigstens Besuch. Genau wie Markus sprangen sie über den Zaun, statt durch das Gartentor zu gehen. Es war nämlich viel leiser, wenn man über den Rasen statt über den Kies lief. Markus richtete das Fernrohr wieder auf das Schlafzimmer. Der Sohn war verschwunden. Vermutlich hatte auch er sie gesehen und war nach unten gegangen, um seinen Gästen zu öffnen. Markus richtete das Fernrohr auf die Haustür. Die beiden Männer waren bereits auf der Treppe. Es war zu dunkel, so dass Markus nicht genau erkennen konnte, was geschah. Dann krachte es, und die Haustür flog auf. Markus stockte der Atem.

Sie … sie waren eingebrochen. Das waren Einbrecher!

Vielleicht hatte ihnen jemand erzählt, dass das Haus leer stand. Auf jeden Fall musste er den Sohn warnen, vielleicht waren sie ja gefährlich!

Markus sprang vom Bett herunter. Sollte er Mama wecken? Oder die Polizei rufen? Und was sollte er dann sagen? Dass er den Nachbarn mit einem Fernrohr ausspioniert hatte? Und wenn sie kamen und Fingerabdrücke nahmen, würden sie ja auch seine, Markus’ Fingerabdrücke, finden! Und die Drogen des Sohns, so dass auch der ins Gefängnis kam. Ratlos blieb Markus mitten im Zimmer stehen. Erahnte drüben im Schlafzimmer eine Bewegung und nahm wieder das Fernrohr. Es waren die Männer, sie hatten jetzt den Raum betreten und suchten. Im Kleiderschrank, unter dem Bett. Sie … sie hatten Pistolen! Markus machte unwillkürlich einen Schritt zurück, als der Große mit den Locken zum Fenster trat und prüfte, ob die Luft rein war. Er sah direkt zu Markus. Der Sohn musste sich versteckt haben, aber wo? Es schien so, als hätte er es noch geschafft, die Sporttasche mit den Drogen zurück in das Versteck zu legen, aber für ­einen erwachsenen Menschen gab es da nicht genug Platz. Ha! Sie würden den Sohn niemals finden, er kannte das Haus viel besser als sie, genau wie die vietnamesischen Soldaten den Dschungel besser gekannt hatten als die Amerikaner. Er musste einfach mucksmäuschenstill sein, wie Markus es auch war. Der Sohn würde das schon schaffen! Er musste es schaffen! Lieber Gott, hilf ihm.

Sylvester sah sich im Schlafzimmer um. Kratzte sich den kahlen Schädel zwischen den dunklen Locken.

»Verdammt, Bo, er muss hier gewesen sein! Ich bin mir sicher, dass hier gestern kein Licht gebrannt hat.« Er ließ sich auf die rosa Truhe fallen, steckte die Pistole in sein Schulterhalfter und zündete sich eine Zigarette an.

Der kleine Blonde blieb mitten im Zimmer stehen, die Pistole noch immer in der Hand. »Ich habe das Gefühl, dass er noch hier ist.«

Sylvester wedelte mit der Zigarette herum. »Entspann dich, er war hier und ist wieder gegangen. Ich habe beide Klos und das andere Schlafzimmer überprüft.«

Der Kleine schüttelte den Kopf. »Nein, er ist irgendwo im Haus.«

»Komm schon, Bo, das ist kein Gespenst, bloß ein Amateur, der bis jetzt Riesenglück gehabt hat.«

»Mag sein. Aber er ist der Sohn von Ab Lofthus, und den würde ich lieber nicht unterschätzen.«

»Ich weiß nicht einmal, wer das ist.«

»Das war auch vor deiner Zeit, Sylvester. Ab Lofthus war der taffste Bulle der Stadt, mit Abstand.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ich dem Kerl begegnet bin, du Idiot. Irgendwann in den Neunzigern war ich mit Nestor bei einer Drogenübergabe in Alnabru, als Lofthus und ein anderer Bulle mehr oder weniger zufällig vorbeifuhren. Lofthus erkannte sofort, dass da ein Drogendeal lief, aber statt Verstärkung zu rufen, haben die beiden Idioten versucht, uns zu stellen. Zu zweit. Ab Lofthus hat vier von uns mit den Fäusten zur Strecke gebracht, bevor wir ihn endlich auf dem Boden hatten. Und ich sage dir, das war kein einfacher Job, der Kerl war mal Ringer. Wir haben damals überlegt, ihn abzuknallen, aber Nestor war zu feige und meinte, Polizeiblut gibt zu viel Ärger. Und während wir noch diskutierten, lag der Verrückte am Boden und schrie: ›Kommt schon, versucht es doch!‹ Fast wie dieser bekloppte Ritter bei Monty Python, du weißt schon. Dem Arme und Beine abgehackt werden, der aber trotzdem nicht aufgibt.«

Bo lachte. Wie über eine schöne Erinnerung, dachte Sylvester. Der Mann war krank, liebte Tod und Verstümmelung und machte zu Hause nichts anderes, als sich Ridiculousness im Internet anzusehen, weil da Videos von Leuten gezeigt wurden, die sich richtig übel verletzten, und nicht bloß irgendwelche dummen Familienvideos, in denen sich jemand den Finger verstauchte, so dass alle darüber lachen konnten.

»Ich dachte, es waren zwei«, sagte Sylvester.

Bo schnaubte. »Sein Partner hat gleich klein beigegeben. War bereit zur Zusammenarbeit und zu Kompromissen, der hat die ganze Zeit nur auf den Knien gelegen und um Gnade gewinselt, man kennt diese Typen ja.«

»Klar«, sagte Sylvester. »Loser.«

»Nee«, sagte Bo. »Siegertypen. Leute mit Gespür für die Situation. Dieses Gespür hat ihn weitergebracht, als du glaubst. Aber genug. Lass uns das Haus durchsuchen.«

Sylvester zuckte mit den Schultern, stand auf und war bereits halb aus dem Raum, als er bemerkte, dass Bo ihm nicht folgte. Er drehte sich um und sah, dass Bo auf den Platz starrte, wo Sylvester gerade noch gesessen hatte. Die Truhe. Bo wandte sich ihm zu, legte den Zeigefinger auf die Lippen und zeigte auf die Truhe. Sylvester zückte seine Waffe und entsicherte sie. Er spürte, wie sich alle Sinne schärften, das Licht intensiver wurde, die Ge­räusche klarer. Seine Halsschlagader kribbelte. Bo trat links neben die Truhe, so dass Sylvester freie Schussbahn hatte. Sylvester legte beide Hände um den Schaft der Waffe und kam näher. Bo gab ihm zu verstehen, dass er die Truhe jetzt öffnen würde. Sylvester nickte.

Er hielt den Atem an – die Pistole auf die Truhe gerichtet –, als Bo die Fingerkuppen der linken Hand unter den Rand des Schlosses legte. Bo wartete eine Sekunde und lauschte. Dann klappte er den Deckel hoch.

Sylvester spürte den Widerstand des Abzugs am Zeigefinger.

»Verdammt«, flüsterte Bo.

Bis auf etwas Bettzeug war die Truhe leer.

Sie durchsuchten gemeinsam die anderen Räume, schalteten die Lampen an und aus, entdeckten aber nichts. Nicht das geringste Anzeichen, dass sich in der letzten Zeit überhaupt jemand im Haus befunden hatte. Zum Schluss gingen sie zurück ins Schlafzimmer, wo noch immer alles so war, wie sie es vorgefunden hatten.

»Du hast dich geirrt«, sagte Sylvester und sprach die vier Worte langsam und deutlich aus, weil er wusste, wie wütend sie Bo machen würden. »Er ist weg.«

Bo schüttelte sich, als säße sein Anzug nicht richtig. »Wenn der gegangen ist, ohne das Licht auszumachen, heißt das ja vielleicht, dass er gleich wieder zurückkommt. Und wenn wir dann bereit sind, sollten wir eigentlich leichtes Spiel haben.«

»Vielleicht«, sagte Sylvester. Er hatte ein Gefühl, wie diese Sache enden würde.

»Nestor will, dass wir uns den Typ so schnell wie möglich schnappen. Es steht viel auf dem Spiel.«

»Klar«, sagte Sylvester sauer.

»Also bleibst du heute Nacht hier und wartest ab, ob er zurückkommt.«

»Warum kriege immer ich die Scheißjobs?«

»Die Antwort beginnt mit A.«

Anciennität. Sylvester seufzte. Er wünschte sich einen neuen Partner. Einen mit weniger Anciennität. Wenn doch nur jemand diesen Bo abknallte.

»Am besten setzt du dich ins Wohnzimmer. Von da kannst du sowohl die Haustür sehen als auch die Tür, die in den Keller führt«, sagte Bo. »Es ist nicht sicher, dass der hier ebenso leicht zu liquidieren ist wie der Pastor.«

»Das hast du schon mal gesagt«, brummte Sylvester.

Markus sah, dass die beiden Männer das hell erleuchtete Schlafzimmer verließen. Gleich darauf kam der kleine Blonde aus dem Haus, setzte sich in den Wagen und fuhr davon. Der Sohn war noch immer irgendwo im Haus, aber wo? Vielleicht hatte er den Wagen wegfahren hören, aber wusste er dann auch, dass einer der Männer im Haus geblieben war?

Markus richtete das Fernrohr auf die dunklen Fenster, sah jedoch nichts. Der Sohn konnte das Haus natürlich auf der Rückseite verlassen haben, allerdings glaubte Markus nicht daran, sein Fenster hatte die ganze Zeit offen gestanden, und er hatte nichts gehört.

Markus bemerkte eine Bewegung und richtete das Fernrohr auf das Schlafzimmer, das noch immer der einzige hell erleuchtete Raum war. Er hatte tatsächlich recht gehabt.

Das Bett. Es bewegte sich. Oder besser gesagt, die Matratze. Sie wurde angehoben und zur Seite geschoben. Und da war er. Er musste sich irgendwo zwischen Lattenrost und der dicken weichen Doppelbettmatratze versteckt haben, auf der Markus so gerne lag. Nur gut, dass der Sohn so dünn war. Wäre er so dick, wie Mama glaubte, dass Markus einmal werden würde, hätten sie ihn gesehen. Der Sohn ging vorsichtig zu der losen Bodendiele, hob sie an und nahm etwas aus der roten Sporttasche. Markus stellte scharf. Konzentrierte sich. Und hielt den Atem an.

Sylvester hatte den Sessel so hingestellt, dass er die Haustür und das Gartentor sehen konnte, das im Lichtkegel einer Straßenlaterne lag. Aber durch den Kies würde er ohnehin hören, wenn sich draußen jemand näherte. Bo hatte er schließlich auch gehört, als der gegangen war.

Es konnte eine lange Nacht werden. Er musste etwas finden, das ihn wach hielt. Deshalb hatte er die Bücherregale durchstöbert und schließlich gefunden, was er gesucht hatte. Das Foto­album der Familie. Dann schaltete er eine Leselampe an, drehte sie vom Fenster weg, so dass man das Licht von draußen nicht ­sehen konnte, und begann zu blättern. Die Bilder erzählten die Geschichte einer glücklichen Familie. Überhaupt nicht so wie seine. Vielleicht hatten ihn die Familienalben der anderen deshalb immer so interessiert. Er liebte es, in die Rollen von Fremden zu schlüpfen und zu spüren, wie es auch sein konnte. Na­türlich wusste er, dass diese Familienbilder nicht die ganze Wahrheit erzählten. Aber einen Teil davon bildeten sie schon ab. Sylvester blieb bei einem Bild hängen, das drei Personen zeigte, möglicherweise irgendwann in den Osterferien aufgenommen. Braungebrannt standen sie lächelnd irgendwo vor einer Steinpyramide. In der Mitte die Mutter. Links am Rand der Vater, dieser Ab Lofthus. Und rechts ein Mann mit rahmenloser Brille. »Die Troika und ich auf Tour, Fotograf Springer« stand mit weib­licher Handschrift unter dem Foto.

Sylvester hob den Kopf. Hatte er etwas gehört? Er sah nach draußen zum Gartentor, aber da war nichts. Das Geräusch war aber auch nicht von dort gekommen, und auch nicht aus dem Keller. Trotzdem hatte sich irgendetwas verändert, als wäre die Luft dichter geworden, als hätte das Dunkel Kontur angenommen. Das Dunkel. Seine Angst davor würde er wohl nie vollständig loswerden, dafür hatte sein Vater gesorgt. Sylvester konzentrierte sich wieder auf das Bild. Darauf, wie glücklich diese Menschen aussahen. Man musste ja auch keine Angst vor dem Dunkeln haben, das wusste doch jeder.

Es knallte wie Vaters Gürtel.

Sylvester starrte auf das Bild.

Es war plötzlich voller Blut, und am Rand war ein Loch, das durch das ganze Album ging. Etwas Weißes schwebte langsam auf das Blut und blieb daran hängen. Federn? Aus der Lehne des Sessels? Sylvester wurde klar, dass er unter Schock stehen musste, denn er spürte keine Schmerzen. Noch nicht. Er starrte auf die Pistole, die auf den Boden gefallen war und außerhalb seiner Reichweite lag, und wartete auf den nächsten Schuss. Aber der kam nicht. Vielleicht hielt der Mann ihn für tot. In diesem Fall hatte er eine Chance, wenn er mitspielte.

Sylvester schloss die Augen, hörte den anderen kommen und hielt den Atem an. Spürte eine Hand auf der Brust. Sie durchsuchte die Innenseite seiner Jacke, fand die Geldbörse und den Führerschein und nahm sie ihm ab. Dann spannten sich zwei Arme um seine Mitte, zogen ihn aus dem Sessel hoch und legten ihn über eine Schulter. Der Mann begann nun zu gehen. Er musste verdammt stark sein.

Das Geräusch einer Tür, die geöffnet wurde. Licht wurde eingeschaltet, unsichere Schritte auf einer Treppe nach unten. Kalte Luft. Er trug ihn in den Keller.

Am Fuß der Treppe war plötzlich ein Geräusch wie von Saugnäpfen zu hören. Dann fiel Sylvester. Er landete weicher, als er es befürchtet hatte, und spürte einen Druck auf den Ohren, als es schlagartig wieder dunkel wurde. Er öffnete die Augen. Stockfinster. Er sah nichts, musste in irgendeiner Kiste liegen. Das Dunkel ist nicht gefährlich. Es gibt keine Monster. Er hörte Schritte, die sich entfernten, dann die Kellertür. Er war allein, der junge Mann hatte nichts bemerkt!

Jetzt musste er nur ruhig bleiben, nicht übereilt handeln. Warten, bis der Mann sich schlafen gelegt hatte. Dann konnte er verschwinden. Oder Bo anrufen und sie bitten, dass sie ihn holen kamen und den Mann erledigten. Das Merkwürdige war, dass er noch immer keine Schmerzen empfand, wohl aber das warme Blut spürte, das auf seine Hand tropfte. Allerdings war es kalt geworden, sehr kalt. Sylvester versuchte, die Beine zu bewegen, um sich so zu drehen, dass er das Handy aus der Tasche ziehen konnte, doch es gelang ihm nicht. Seine Beine mussten eingeschlafen sein. Er schaffte es aber trotzdem, die Hand in die ­Tasche zu stecken und das Telefon herauszuziehen. Als er es einschaltete, brachte das Display etwas Licht ins Dunkel. Wieder stockte Sylvester der Atem.

Das Monster lag direkt vor ihm und starrte ihn mit hervorquellenden Augen an. In dem geöffneten Maul blitzten kleine scharfe Zähne.

Ein Dorsch, dachte er. In Plastikfolie. Daneben andere Gefrierbeutel und ein paar Iglo-Packungen. Hähnchenbrüste, Steaks, Beeren. Die Eiskristalle an den schneeweißen Wänden, die ihn umgaben, reflektierten das Licht. Er lag in einer Gefriertruhe.

Markus starrte auf das Haus und zählte die Sekunden.

Er hatte das Fenster geöffnet, einen Knall im Haus gehört und im Wohnzimmer auch so etwas wie einen Lichtblitz gesehen. Dann war es wieder still geworden.

Markus war sich ziemlich sicher, dass es ein Pistolenschuss gewesen war, aber wer hatte geschossen?

Lieber Gott, lass es den Sohn sein, mach, dass er nicht erschossen wurde.

Er war bei hundert angekommen, als er die Tür des noch immer hell erleuchteten Schlafzimmers aufgehen sah.

Gott sei Dank! Er war es.

Der Sohn legte die Pistole zurück in die Sporttasche, entfernte die Bodendiele und stapelte dann Tüten mit weißem Pulver in die Tasche. Als er fertig war, hängte er sich die Tasche über die Schulter und ging aus dem Raum, ohne das Licht auszumachen.

Gleich darauf knallte die Haustür zu, und Markus sah den Sohn zum Gartentor gehen. Dort blieb er stehen, warf einen Blick nach rechts und links und verschwand dann in der Richtung, aus der Markus ihn am ersten Tag hatte kommen sehen.

Markus warf sich rücklings aufs Bett und starrte an die Decke. Er lebte! Er hatte den Bösen erschossen! Denn … es musste doch der Böse sein? Bestimmt war es so. Markus jubelte ausgelassen. In dieser Nacht würde er kein Auge zumachen, das wusste er ganz genau.

Sylvester hörte, wie oben die Haustür ins Schloss fiel. Die Gefriertruhe war zu dicht, um alle Geräusche durchzulassen, aber die Tür war derart hart zugeknallt worden, dass er sogar die Vi­bration gespürt hatte. Endlich. Das Handy hatte in der Truhe unten im Keller natürlich keinen Empfang, deshalb hatte er nach drei Versuchen aufgegeben anzurufen. Sylvester spürte jetzt auch Schmerzen und wurde zunehmend schläfrig. Aber die Kälte schien ihn irgendwie wach zu halten. Er stemmte die Handflächen gegen den Deckel und drückte. Spürte einen Anflug von Panik, als der nicht sofort aufging. Er drückte mit aller Kraft. Der Deckel rührte sich nicht. Sylvester erinnerte sich an das Schmatzen der Gummidichtungen, sie hatten sich verklebt, er musste also nur ein bisschen mehr Kraft aufwenden. Er presste die Hände gegen den Deckel und drückte, so fest er konnte, aber der Deckel rührte sich nicht. Und dann verstand er. Der Mann hatte die Kühltruhe abgeschlossen.

Dieses Mal war die Panik nicht bloß ein Kribbeln. Sie packte ihn mit einem Würgegriff.

Sylvester schnappte nach Luft, versuchte aber, einen klaren Kopf zu behalten, damit das Dunkel, das wirkliche Dunkel nicht über ihn kam. Er musste nachdenken. Eine Lösung finden.

Die Beine. Natürlich. In denen hatte er viel mehr Kraft als in den Armen. Mit den Beinen drückte er mehr als zweihundert Kilo, gegen knappe fünfundsiebzig mit den Armen. Und schließlich ging es nur um ein simples Tiefkühltruhenschloss, dafür gedacht, dass die Nachbarn sich nicht gegenseitig Fleisch und Moltebeeren klauen konnten, wenn die Truhe im Gemeinschaftskeller stand. Diese Schlösser waren nicht dafür gemacht, verzweifelte Männer zurückzuhalten, die rauswollten. Sylvester drehte sich auf den Rücken. Bis zum Deckel müsste Platz genug sein, um die Knie anzuwinkeln und die Füße dagegenzustemmen …

Aber er konnte die Beine nicht anwinkeln. Verdammt, waren die tief eingeschlafen. Er versuchte es noch einmal, aber sie reagierten nicht. Es fühlte sich an, als hätten sie sich komplett abgekoppelt. Er kratzte sich am Schenkel. Kniff in die Haut, und in seinem Kopf klickte es. Nachdenken. Nein, nicht nachdenken! Zu spät. Das Loch im Album. Das Blut. Die Kugel musste seinen Rücken durchschlagen haben. Die ausbleibenden Schmerzen. Sylvester legte sich die Hand auf den Bauch. Nass von Blut. Nur dass es sich so anfühlte, als würde er einen anderen anfassen.

Er war gelähmt.

Vom Bauch abwärts. Er trommelte mit den Händen gegen den Deckel über sich, aber damit lieferte er sich der Panik nur vollends aus. Dabei hatte er von seinem Vater gelernt, immer einen klaren Kopf zu behalten. Doch damit war es jetzt vorbei, plötzlich fiel alles in sich zusammen, und Sylvester gestand sich ein, dass er wie in seinen Alpträumen sterben würde. Eingesperrt. Allein. Im Dunkeln.


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