Kapitel 17

»Und da heißt es, Norwegen habe keine Oberschicht.« Simon Kefas hob das weiß-orangefarbene Absperrband an, damit Kari Adel darunter hindurchtauchen konnte.

Vor der Doppelgarage wurden sie von einem uniformierten Polizisten angesprochen. Seine Stirn glänzte vor Schweiß, und er atmete schwer. Sie zeigten ihm ihre Ausweise, und er kontrollierte die Fotos und bat Simon, die Sonnenbrille abzunehmen.

»Wer hat sie gefunden?« Simon blinzelte in die grelle Sonne.

»Die Hausangestellten«, sagte der Polizist. »Sie sind gegen zwölf gekommen und haben gleich den Notruf gewählt.«

»Irgendwelche Zeugen?«

»Gesehen hat niemand was«, sagte der Polizist. »Aber die Nachbarin meint einen Knall gehört zu haben. Sie dachte allerdings eher an einen geplatzten Reifen. Schüsse vermutet man hier oben weniger.«

»Danke«, sagte Simon, setzte die Sonnenbrille wieder auf und ging vor Kari die Treppe hoch. Ein weißgekleideter Kriminaltechniker untersuchte mit einem kleinen schwarzen Pinsel die Haustür. Miniaturwimpel markierten den Pfad, der von der Kriminaltechnik freigegeben worden war und der sie zur Küche führte, wo die Tote auf dem Boden lag. Ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster und glitzerte auf dem Wasser rings um die zerbrochene Vase mit den Margeriten. Neben der Leiche hockte ein schwarzgekleideter Mann, der Simon unbekannt war, und konferierte mit dem Gerichtsmediziner.

»Entschuldigung?«, sagte Simon. Der Mann in dem schwarzen Anzug blickte auf. Seine Haare glänzten von allerlei Produkten, und der sorgsam gestutzte schmale Backenbart ließ Simon automatisch an einen Italiener denken. »Wer sind Sie?«

»Ich könnte Sie das Gleiche fragen.« Der Mann machte keine Anstalten aufzustehen. Simon schätzte ihn auf Anfang dreißig.

»Kommissar Kefas vom Morddezernat.«

»Angenehm, Åsmund Bjørnstad, Hauptkommissar des Kriminalamts, Kripos. Man könnte meinen, Sie wären nicht darüber informiert worden, dass wir den Fall übernehmen?«

»Wer sagt das?«

»In diesem Fall Ihr eigener Chef.«

»Der Kriminalrat?«

Der Anzugmann schüttelte den Kopf und deutete mit dem Finger an die Decke. Simon starrte auf den Fingernagel. Manikürt.

»Der Polizeipräsident?«

Bjørnstad nickte. »Er hat Kripos informiert und uns gebeten, lieber gleich zu kommen.«

»Warum das denn?«

»Vermutlich weil er unsere Unterstützung so oder so angefordert hätte, in diesem Fall.«

»Und dann übernehmen Sie einfach alles?«

Åsmund Bjørnstad lächelte knapp. »Hören Sie, das war nicht meine Entscheidung. Aber wenn das Kriminalamt gebeten wird, bei einem Mordfall zu assistieren, stellt es immer die Bedingung, die Ermittlungen auch zu leiten, sowohl taktisch als auch technisch.«

Simon nickte. Er wusste das alles, schließlich war es nicht das erste Mal, dass sich das Osloer Morddezernat und das auf nationaler Ebene arbeitende Kriminalamt in die Quere kamen. Und er sollte sich glücklich schätzen, einen Fall weniger am Hals zu haben. So konnte er sich voll und ganz auf den Vollan-Fall konzentrieren.

»Da wir aber schon mal hier sind, können wir doch wohl auch einen Blick riskieren, oder?«, sagte Simon.

»Und wofür soll das gut sein?« Bjørnstad ließ seiner Verärgerung freien Lauf.

»Ich bin mir sicher, dass Sie alles unter Kontrolle haben, Bjørnstad, aber ich habe eine neue, noch junge Ermittlerin bei mir, für die es sicher nützlich wäre, eine reale Tatortaufnahme mitzumachen. Wäre das in Ordnung für Sie?«

Der Kripos-Beamte sah zögernd zu Kari hinüber und zuckte mit den Schultern.

»Gut«, sagte Simon und hockte sich ebenfalls hin.

Erst jetzt richtete er den Blick auf die Tote. Er hatte den Anblick bewusst vermieden, darauf gewartet, sich wirklich mit allen Sinnen auf den toten Körper konzentrieren zu können. Für den ersten Eindruck gab es schließlich nur eine Chance. Der fast kreisrunde Blutfleck auf der weißen Schürze der Toten ließ ihn an die japanische Flagge denken. Nur dass die Sonne für die Frau, die mit leerem Blick an die Decke starrte, definitiv unter- und nicht aufgegangen war. Daran würde Simon sich nie gewöhnen. Offenbar irritierte ihn die Kombination aus menschlichem Körper und einem entmenschten Blick. Die Abwesenheit von Leben, der Mensch als Ding.

Offensichtlich war, dass man dem Opfer, ihr Name war wohl Agnete Iversen, in die Brust geschossen hatte. Allem Anschein nach nur ein einziges Mal. Er betrachtete ihre Hände. Nicht ein Nagel war gebrochen, und die Finger zeigten keine Anzeichen eines Kampfes. Im Nagellack des linken Mittelfingers war ein Kratzer, aber der konnte beim Sturz entstanden sein.

»Gibt es Spuren eines Einbruchs?«, fragte Simon und gab dem Rechtsmediziner zu verstehen, dass er die Leiche umdrehen sollte.

Hauptkommissar Bjørnstad schüttelte den Kopf. »Es ist möglich, dass die Tür offen stand, der Ehemann und ihr Sohn waren gerade vorher zur Arbeit gefahren. Es sind auch keine Fingerabdrücke auf der Klinke.«

»Keine?« Simon ließ seinen Blick über den Rand der Arbeitsplatte gleiten.

»Nein, wie Sie sehen, hielt sie hier Ordnung.«

Simon studierte die Austrittswunde in Agnetes Rücken. »Glatter Durchschuss. Die Kugel scheint keine Knochen getroffen zu haben.«

Der Rechtsmediziner kniff die Lippen zusammen und zuckte mit den Schultern, eine Geste, die vage Zustimmung signalisierte.

»Und die Kugel?«, fragte Simon und musterte die Küchenwand.

Åsmund Bjørnstad zeigte widerwillig schräg nach oben.

»Danke«, sagte Simon. »Und die leere Hülse?«

»Ist noch nicht gefunden worden.« Der Ermittler zog ein Handy mit goldener Hülle aus der Tasche.

»Verstehe. Wie lautet Ihre vorläufige Theorie, was ist hier passiert?«

»Theorie?« Bjørnstad lächelte und hielt sich das Handy ans Ohr. »Das ist doch wohl klar. Der Dieb ist eingedrungen, hat sein Opfer hier drinnen erschossen, die Wertsachen mitgenommen, die er finden konnte, und ist dann geflohen. Ein geplanter Raub, der zu einem vorher nicht geplanten Mord führte, denke ich. Vielleicht hat sie Widerstand geleistet oder zu schreien angefangen.«

»Und wie meinen Sie …?«

Bjørnstad hob die Hand, um zu signalisieren, dass er jemanden in der Leitung hatte. »Hallo, ich bin’s. Wir haben es hier ­vermutlich mit Mord und schwerem Raub zu tun, kannst du mir sagen, welche gewalttätigen Räuber derzeit auf freiem Fuß sind? Und überprüf bitte gleich auch, ob die in Oslo sein können. Mit Priorität auf Schusswaffengebrauch. Danke.« Er beendete das Gespräch und ließ das Handy in seine Tasche gleiten. »Hören Sie, Opa, ich habe hier einen Job zu erledigen, und Sie ­haben ja bereits eine Assistentin, wenn Sie also so freundlich wären …«

»Schon gut«, sagte Simon mit einem breiten Lächeln. »Aber wenn wir versprechen, nicht im Weg herumzustehen, können wir uns ja vielleicht auf eigene Faust ein bisschen umsehen?«

Der Kripos-Beamte sah den älteren Kollegen misstrauisch an.

»Wir bleiben auch auf den gekennzeichneten Wegen.«

Bjørnstad willigte mit herablassendem Blick ein.

»Hier hat er gefunden, was er gesucht hat«, sagte Kari, als sie vor dem Bett im Schlafzimmer mit dem dicken Wandteppich standen. Auf der Bettdecke lagen eine geöffnete Handtasche, eine leere Geldbörse und ein ebenso leeres Schmuckkästchen mit rotem Samtfutter.

»Vielleicht.« Simon verließ den gekennzeichneten Bereich und hockte sich neben dem Bett hin. »Er muss in etwa hier gestanden haben, als er die Tasche und das Schmuckkästchen leer geräumt hat, nicht wahr?«

»So wie die Sachen auf dem Bett liegen, ja.«

Simon studierte den Teppich unter sich. Er wollte schon wieder aufstehen, als er in der Bewegung innehielt und sich tief nach unten beugte.

»Was ist da?«

»Blut«, sagte Simon.

»Er hat auf den Teppich geblutet?«

»Kaum, das ist ein kleines Rechteck, vermutlich also eher ein Abdruck. Wenn Sie hier im Nobelviertel der Stadt in diese Villa einbrechen würden, wo würden Sie dann den Safe vermuten?«

Kari zeigte auf den Kleiderschrank.

»Das sehe ich auch so«, sagte Simon, stand auf und öffnete den Schrank.

Der Safe war in der Mitte der Wand platziert und etwa so groß wie ein Mikrowellenherd. Simon versuchte ihn zu öffnen, aber er war verschlossen.

»Wenn er sich nicht die Zeit genommen hat, ihn wieder zu schließen, was in Anbetracht der herumliegenden Tasche und des Schmuckkästchens unwahrscheinlich ist, hat er den hier nicht mal angerührt«, sagte Simon. »Schauen wir mal, ob die Tote jetzt allein ist.«

Auf dem Rückweg in die Küche machte Simon einen Schlenker ins Badezimmer und kam mit einer tiefen Falte auf der Stirn wieder heraus.

»Was ist?«, fragte Kari.

»Wussten Sie, dass in Frankreich eine Zahnbürste auf einundvierzig Einwohner kommt?«

»Alte Mythen, alte Statistiken«, antwortete sie.

»Alter Mann«, sagte Simon. »Aber egal, in der Familie Iversen scheint niemand eine Zahnbürste zu benutzen.«

Sie gingen in die Küche, wo Agnete Iversen inzwischen allein gelassen worden war. Simon konnte sie ungehindert in Augenschein nehmen. Er musterte ihre Hände und studierte dann die Ein- und Austrittswunde. Schließlich bat er Kari, sich direkt vor die Füße der Toten und mit dem Rücken zur Arbeitsplatte zu stellen.

»Ich entschuldige mich schon mal im Voraus«, sagte er, stellte sich neben sie, legte einen Zeigefinger auf die Stelle, wo die Kugel bei Agnete Iversen eingetreten war, zwischen Karis kleine Brüste und den anderen auf die Stelle des Austritts zwischen ihren Schulterblättern. Dann betrachtete er den Winkel zwischen beiden Punkten, bevor sein Blick zu dem Einschussloch oben in der Wand schweifte. Schließlich bückte er sich, knickte die Blüte von einer der Margeriten ab, stemmte sich mit dem Knie auf die Arbeitsplatte und schob sie in das Einschussloch.

»Kommen Sie«, sagte er, stieg herunter und ging über den Flur zur Eingangstür. Er blieb vor einem Bild stehen, das schief hing, beugte sich vor und zeigte auf etwas Rotes am Rand des Bilderrahmens.

»Blut?«, fragte Kari.

»Nagellack.« Simon stellte sich in die Mitte des Flurs und legte die Rückseite seiner linken Hand an das Bild, bevor er sich noch einmal zur Toten umdrehte.

An der Tür hockte er sich hin und betrachtete einen Erdklumpen, der mit einem Wimpel gekennzeichnet worden war.

»He, nicht anfassen!«

Sie schauten hoch.

»Ach, du bist das, Simon«, sagte der weißgekleidete Mann auf dem Treppenabsatz und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die feuchten Lippen in seinem roten Bart.

»Hallo, Nils, lange nicht gesehen. Sind sie auch nett zu dir bei Kripos?«

Der Rotbärtige zuckte mit den Schultern. »Ja, schon. Vermutlich aber nur, weil ich so alt und längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit bin. Ich tue ihnen wohl leid.«

»Bist du das?«

»Ja, schon«, seufzte der Kriminaltechniker. »Heute zählt doch nur noch DNA, Simon. DNA und Computerprogramme, die Leute wie wir nicht mehr verstehen. Es ist nicht mehr wie früher, Simon.«

»Na ja, so ganz am Ende sind wir noch nicht«, sagte Simon und studierte das Schloss der Tür. »Grüß deine Frau, Nils.«

Der Mann mit dem roten Bart blieb stehen. »Äh, ich habe noch immer …«

»Dann eben deinen Hund.«

»Der ist tot, Simon.«

»Dann vergiss das Grüßen, mach’s gut, Nils.« Simon trat vor die Tür. »Kari, zählen Sie mal bis drei und schreien Sie dann so laut, wie Sie können. Anschließend kommen Sie nach draußen auf die Treppe und bleiben da stehen, okay?«

Sie nickte, und er schloss die Tür.

Kari sah zu Nils, der den Kopf schüttelte und sich über den Flur entfernte. Dann schrie sie aus vollem Hals das Wort »Fore!«, die vorschriftsmäßige Warnung, wenn ihr beim Golfen, was selten genug vorkam, ein Ball komplett verrutschte.

Schließlich öffnete sie die Tür wieder.

Am Fuß der Treppe stand Simon und zielte mit dem Zeigefinger auf sie.

»Ein bisschen zur Seite«, sagte er.

Sie tat, was er verlangte, und bemerkte, dass auch er einen Schritt nach links trat und ein Auge zukniff.

»Er muss genau hier gestanden haben«, sagte Simon und zielte über den Zeigefinger. Sie drehte sich um und schaute direkt auf die weiße Margerite in der Wand.

Simon wandte sich dem Fächerahorn rechts zu und drückte die Äste zur Seite. Kari verfolgte seine Suche nach der Hülse aufmerksam.

»Sieh mal einer an«, sagte er leise, nahm das Handy heraus, hielt es vor sich, und das digital simulierte Geräusch einer auslösenden Kamera erklang. Er zerdrückte etwas Erde zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ sie zu Boden rieseln. Dann ging er die Treppe zu ihr hoch und zeigte ihr das Bild, das er aufgenommen hatte.

»Ein Schuhabdruck«, sagte sie.

»Vom Mörder«, ergänzte er.

»Sicher?«

»Ich würde sagen, die Schulstunde ist jetzt beendet, Kefas. Geht das in Ordnung?«

Sie drehten sich um. Bjørnstad wirkte wütend. Hinter ihm standen drei Kriminaltechniker, darunter Nils.

»Dauert nicht mehr lang«, sagte Simon und wollte wieder ins Haus gehen. »Ich denke, wir sollten nur noch kurz …«

»Ich denke, Sie sind fertig«, sagte der Kripos-Beamte und versperrte ihm breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen den Weg. »Blumen in Einschusslöchern gehen mir einfach zu weit, verstanden? Auf Wiedersehen.«

Simon zuckte mit den Schultern. »In Ordnung, wir haben wohl auch so genug, um unsere eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen. Viel Glück bei der Suche nach dem Attentäter, Leute.«

Bjørnstad lachte kurz. »Wollen Sie Ihrer jungen Kollegen imponieren, oder warum sprechen Sie von einem Attentat?« Er drehte sich zu Kari um. »Tut mir leid, dass die Wirklichkeit nicht ganz so aufregend ist, wie Opa es gerne hätte. Das hier ist doch nur wieder ein ganz normaler, ganz durchschnittlicher Mord.«

»Da irren Sie sich«, sagte Simon.

Bjørnstad stemmte die Hände in die Hüften. »Meine Eltern haben mir beigebracht, Respekt vor dem Alter zu haben. Ich gewähre Ihnen noch zehn Sekunden Respekt, dann sind Sie hier verschwunden.« Einer der Techniker lachte.

»Gutes Elternhaus«, sagte Simon.

»Neun Sekunden.«

»Die Nachbarn geben an, einen Schuss gehört zu haben.«

»Ach ja?«

»Die Grundstücke hier oben sind riesig, und es ist weit bis zum nächsten Haus. Außerdem sind die Häuser gut isoliert. Wäre der Schuss drinnen im Haus gefallen, hätte man in der Nachbarschaft nichts Brauchbares gehört. Draußen hingegen liegen die Dinge anders …«

Bjørnstad legte den Kopf nach hinten, als wollte er Simon aus einem anderen Winkel betrachten: »Wie meinen Sie das?«

»Frau Iversen ist etwa so groß wie meine Kollegin Kari. Und wenn sie aufrecht gestanden hat und hier getroffen wurde …«, er zeigte auf Karis Brust, »und die Austrittswunde im Rücken etwas höher liegt, kann der Täter nur hier unten gestanden haben. Das passt dann auch zu dem Einschussloch etwas höher in der Wand, das ich mit der Margerite gekennzeichnet habe. Er muss etwas unterhalb von ihr gestanden haben, und beide müssen ­dabei ein Stück von der Wand entfernt gewesen sein. Agnete stand hier, wo wir jetzt stehen, während ihr Mörder dort unten vor der Treppe stand, auf den Fliesen. Deshalb hat die Nachbarin den Schuss gehört. Sie hörte aber keinen Schrei oder irgend­etwas anderes, nichts das auf einen Streit oder Gegenwehr hindeutete, weshalb ich von einem ziemlich raschen Verlauf ausgehe.«

Bjørnstad warf unwillkürlich seinen hinter ihm stehenden Kollegen einen Blick zu. Dann verlagerte er sein Gewicht von einem Bein auf das andere. »Sie meinen, dass er sie anschließend durch den Flur geschleppt hat?«

Simon schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke, sie ist nach hinten getaumelt.«

»Und was lässt Sie das glauben?«

»Frau Iversen war, wie Sie richtig bemerkt haben, sehr ordentlich. Das Einzige, das hier im Haus schief hängt, ist dieses Bild da.«

Alle schauten zu der Stelle, auf die er zeigte. »Außerdem ist Nagellack am Rahmen, auf der Türseite. Ergo ist ihre Hand dagegengeschlagen, als sie nach hinten stolperte. Das passt auch zu dem Kratzer im Nagellack auf ihrem linken Mittelfinger.«

Bjørnstad schüttelte den Kopf. »Wenn sie in der Tür angeschossen worden wäre, müssten wegen der großen Austrittswunde überall im Flur Blutflecken sein.«

»Die waren auch da«, sagte Simon. »Aber der Täter hat sie weggewischt. Sie haben ja selbst gesehen, dass auf der Klinke keine Fingerabdrücke waren. Nicht einmal die der Familie. Nicht weil Agnete Iversen gerade zum Großreinemachen angesetzt und die Klinke geputzt hatte, kaum dass Mann und Sohn das Haus verlassen hatten, sondern weil der Mörder keine Spuren hinter­lassen wollte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er den Boden ­gewischt hat, weil er in das Blut getreten ist und Abdrücke hinterlassen hat. Bestimmt hat er anschließend auch seine Schuhsohlen abgewischt.«

»Ach ja?«, sagte Bjørnstad, den Kopf noch immer nach hinten gelehnt, jetzt aber nicht mehr ganz so breit grinsend. »Und all das schließen Sie einfach so aus dem Blauen?«

»Wenn man Schuhsohlen abwischt, entfernt man nicht das Blut, das noch im Profil steckt«, sagte Simon und sah auf die Uhr. »Das tritt aber aus, wenn man zum Beispiel eine Weile auf einem dicken Teppich steht, die Fasern saugen das Blut dann wie Löschpapier auf. Im Schlafzimmer werden Sie einen kleinen länglichen Blutfleck auf dem Teppich finden. Ich denke, Ihre Blutspezialisten stimmen mir zu, Bjørnstad.«

In der Stille, die folgte, hörte Kari das Motorengeräusch eines Wagens, der oben auf der Straße von den Beamten angehalten wurde. Erregte Stimmen, eine davon von einem jungen Mann. Ehemann und Sohn waren im Anmarsch. »Wie dem auch sei«, sagte Bjørnstad mit gequälter Leichtigkeit. »Warum das Opfer erschossen wurde, ist nicht essentiell. Es handelt sich in jedem Fall um Raubmord und nicht um ein Attentat. Es scheint, als hätten wir gleich jemanden hier, der uns bestätigen kann, dass Schmuck gestohlen worden ist.«

»Das mag ja sein«, sagte Simon. »Aber wenn ich jemanden ausrauben wollte, würde ich ihn mit ins Haus nehmen und so lange bedrohen, bis er mir zeigt, wo die wirklich wertvollen Sachen versteckt sind, oder bis er mir die Kombination des Safes verrät. Dass es in einem Haus wie diesem einen Safe gibt, weiß sicher auch der dümmste aller Einbrecher. Stattdessen erschießt er sie bereits hier, wo die Nachbarn es hören können. Nicht weil er Panik hatte, die Art, wie er seine Spuren beseitigt hat, zeigt, wie kaltblütig er ist. Nein, er ist so vorgegangen, weil er weiß, dass er nicht viel Zeit braucht und längst wieder verschwunden sein wird, wenn die Polizei kommt. Im Grunde will er nämlich gar nicht viel mitnehmen, oder? Nur so viel, dass ein etwas zu junger Ermittler aus gutem Hause etwas zu früh zu der Schlussfolgerung gelangt, dass es ein Raubmord war, und schon sucht niemand mehr nach dem eigentlichen Motiv.«

Simon musste sich eingestehen, dass er die Stille und das Er­röten Bjørnstads genoss. Er war da ganz einfach gestrickt. Aber ­Simon Kefas war kein boshafter Mann. Und deshalb ließ er die Schlussreplik aus, auch wenn sie ihm auf der Zunge brannte: Ist es in Ordnung, wenn wir sagen, dass der Unterricht jetzt beendet ist, Bjørnstad?

Schließlich war es durchaus möglich, dass Åsmund Bjørnstad mit etwas mehr Zeit und Erfahrung ein guter Ermittler wurde. Kluge Menschen konnten schließlich auch Demut lernen.

»Interessante Theorie, Kefas«, sagte Bjørnstad. »Ich werde die im Hinterkopf behalten. Aber die Zeit läuft und …« Ein knappes Lächeln. »Und vielleicht haben Sie ja auch noch was anderes zu tun?«

»Warum haben Sie dem Hauptkommissar nicht alles gesagt?«

Simon manövrierte den Wagen vorsichtig durch die engen Kurven vom Holmenkollåsen nach unten in die Stadt.

»Alles?«, fragte Simon unschuldig. Kari musste lächeln. Der Charme der alten Männer.

»Sie haben erkannt, dass die leere Hülse irgendwo in diesem Strauch gelandet sein muss. Sie haben keine Hülse, dafür aber einen Schuhabdruck gefunden, von dem Sie ein Foto gemacht haben. Und die Erde stimmte mit der überein, die wir im Flur gefunden haben, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und warum haben Sie ihm diese Informationen vorenthalten?«

»Weil er ein ehrgeiziger Ermittler ist, dessen Ego größer als sein Teamgeist ist. In solchen Fällen ist es manchmal besser, ihn das selber herausfinden zu lassen. Er wird motivierter sein, alles zu geben, wenn er das Gefühl hat, seiner eigenen und nicht meiner Spur zu folgen, wenn sie sich auf die Suche nach dem Mann mit Schuhgröße 43 machen, der die leere Hülse aus dem Blumenbeet gefischt hat.«

Sie hielten am Stasjonsveien vor einer roten Ampel. »Und woher wissen Sie, wie ein Ermittler wie Bjørnstad tickt?«

Simon lachte. »Ganz einfach. Ich war auch mal jung und ehrgeizig.«

»Und der Ehrgeiz verschwindet?«

»Ein Teil davon, ja.« Simon lächelte, aber Kari fand, dass er ganz schön traurig aussah. »Haben Sie deshalb im Dezernat für Wirtschaftskriminalität aufgehört?«

»Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«

»Sie waren da doch Dezernatsleiter. Erster Hauptkommissar mit Personalverantwortung. Im Morddezernat durften Sie den Titel behalten, aber eigentlich bin ich die Einzige, die Ihnen da untergeordnet ist.«

»Stimmt«, sagte Simon, rollte über die Kreuzung und weiter in Richtung Smestad. »Überbezahlt, überqualifiziert, überflüssig. Im Großen und Ganzen, überfällig.«

»Was ist passiert?«

»Das wollen Sie nicht …«

»Doch, das will ich wissen!«

Sie fuhren schweigend weiter. Kari spürte aber, dass ihr dieses Schweigen in die Karten spielte, weshalb sie den Mund hielt. Trotzdem dauerte es bis hinunter nach Majorstua, bis Simon zu erzählen begann.

»Ich war einer umfangreichen Geldwäscheoperation auf der Spur. Es ging um Riesenbeträge. Und um große Namen. Irgendjemand aus der Führungsetage war aber wohl der Meinung, dass meine Ermittlungen ein gewisses Risiko darstellten. Dass meine Beweise nicht reichten und wir uns den Hals brechen würden, wenn wir die Sache weiterverfolgten, ohne einen wirklichen Erfolg. Diese Leute sind keine normalen Kriminellen, das sind Menschen mit Macht, Menschen, die innerhalb des Systems zurückschlagen können, das normalerweise auf Seiten der Polizei ist. Die Polizeiführung hatte Angst davor, dass wir selbst bei einem Sieg einen hohen Preis zahlen müssten, backlash eben.«

Erneutes Schweigen, das bis zum Frognerparken andauerte, wo Kari die Geduld verlor.

»Dann haben die Sie einfach rausgeschmissen, weil Sie unangenehme Fragen gestellt haben?«

Simon schüttelte den Kopf. »Ich hatte ein Problem. Gambling. Oder um es etwas genauer auszudrücken: Spielsucht. Ich habe Aktien gekauft und verkauft. Nicht viel. Aber wenn man im Dezernat für Wirtschaftskriminalität hockt …«

»… hat man Zugang zu Insiderinformationen.«

»Ich habe nie mit Aktien gehandelt, über die ich Informationen hatte, aber ein Regelverstoß war es trotzdem. Und den haben sie für ihre Zwecke genutzt.«

Kari nickte. Sie schoben sich durch das Zentrum in Richtung Ibsentunnel. »Und jetzt?«

»Jetzt spiele ich nicht mehr. Und nerve auch niemanden mehr.« Wieder dieses traurige, resignierte Lächeln.

Kari dachte an ihre Pläne für den Nachmittag. Training, Essen mit den Schwiegereltern in spe und eine Wohnungsbesichtigung in Fagerborg. Und dann hörte sie sich selbst eine Frage stellen, die aus einem anderen, beinahe unbewussten Teil ihres Gehirns kommen musste: »Was hat es zu bedeuten, dass der Mörder die Hülse mitgenommen hat?«

»Die Hülsen haben Seriennummern, führen uns aber nur selten direkt zum Täter«, sagte Simon. »Vielleicht hatte er Angst, dass sein Fingerabdruck auf der Hülse war, aber ich denke, dieser Mörder hat schon beim Laden der Waffe daran gedacht und Handschuhe getragen. Wir können wohl davon ausgehen, dass er eine relativ neue Schusswaffe hat, die erst in den letzten Jahren produziert worden ist.«

»Warum?«

»Einige Waffenproduzenten sind vor etwa zehn Jahren da­zu übergegangen, die Seriennummer auf den Rand des Schlagbolzens zu prägen, so dass er eine Art Fingerabdruck hinterlässt, wenn er auf die Patronenhülse trifft. Die leere Hülse kann dann über das Waffenregister direkt zum Besitzer der Waffe führen.«

Kari schob die Unterlippe vor und nickte nachdenklich. »Okay, das verstehe ich so weit. Ich kapiere aber nicht, warum er will, dass es wie ein Raubmord aussieht.«

»Aus dem gleichen Grund wie das mit der Hülse. Er fürchtet, dass wir ihm auf die Schliche kommen könnten, wenn wir erst sein wahres Motiv kennen.«

»Dann sollte das doch ziemlich einfach sein«, sagte Kari und dachte an die Anzeige. Darin hatte gestanden, die Wohnung habe zwei Balkone, einen mit Morgen- und einen mit Abendsonne.

»Wieso?«, fragte Simon.

»Der Ehemann«, sagte Kari. »Der Ehemann steht doch immer unter Verdacht. Außer es gelingt ihm, es so aussehen zu lassen, als wäre seine Frau aus einem ganz anderen, konkreten Grund umgebracht worden. Wie zum Beispiel Raub.«

»Einem anderen Grund als was?«

»Als Eifersucht. Liebe. Hass. Gibt es noch mehr?«

»Nein«, sagte Simon. »Gibt es nicht.«


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