Kapitel 43

»Hier hört die Blutspur auf«, sagte Simon und zeigte auf den Asphalt. Der Zwilling musste gemerkt haben, dass ihn die Blutspur verrät, und irgendwie die Blutung gestoppt haben. Solche Typen überleben auch Schiffsuntergänge.

Simon starrte über den menschenleeren Ruseløkkveien. Ließ den Blick über die Sankt-Pauls-Kirche gleiten und weiter über die kleine Brücke, hinter der die Straße einen Bogen machte und nicht mehr einzusehen war. Dann sah er links und rechts den Munkedamsveien hinunter. Nichts.

»Verdammt …!« Sonny schlug sich mit der Uzi frustriert auf den Schenkel.

»Wenn er über die Straße gelaufen wäre, hätten wir ihn noch sehen müssen«, sagte Simon. »Er muss irgendwo reingegangen sein.«

»Aber wo?«

»Weiß ich nicht.«

»Vielleicht hatte er hier irgendwo ein Auto stehen.«

»Möglich. Aber Moment mal!« Er zeigte auf den Boden zwischen Sonnys Schuhen. »Da ist ja doch noch ein Blutfleck. Vielleicht …«

Sonny schüttelte den Kopf und hob seine Jacke hoch. Eine Seite des sauberen Hemdes, das er von Simon bekommen hatte, war rot.

Simon fluchte leise. »Hat dieses Arschloch es geschafft, dass die Wunde wieder aufgeplatzt ist?«

Sonny zuckte mit den Schultern.

Simon sah wieder hoch. Hier parkten keine Autos, und Läden gab es auch nicht. Nur geschlossene Tore und verriegelte Haustüren. Wohin konnte er geflohen sein? Blickwinkel ändern, schärfte Simon sich ein. In die Haut des anderen … Er hob den Blick, und seine Pupillen reagierten. Die Sonne wurde von einem kleinen Stück Glas, das sich bewegte, reflektiert. Oder von Metall. Messing.

»Kommen Sie«, sagte Sonny. »Wir checken noch mal das Restaurant, vielleicht ist er …«

»Nein«, sagte Simon leise. Der Messingtürgriff. Schwergängige Türangeln, eine massive Tür, die sich nur langsam schloss. Die Kirche war immer offen. »Ich weiß, wo er ist.«

»Sie wissen, wo er ist?«

»Die Kirchentür da oben, siehst du die?«

Sonny starrte geradeaus. »Nein.«

»Sie schließt sich gerade. Er ist in die Kirche gegangen. Los, komm.«

Simon rannte. Setzte den einen Fuß vor den anderen. Eine ­einfache Bewegung, die er schon als Kind gelernt hatte. Er war gelaufen, immer wieder, und war mit jedem Jahr schneller geworden, bis er dann – ebenso systematisch – wieder langsamer geworden war, Jahr für Jahr. Weder die Knie noch die Atmung wollten so funktionieren, wie er das von früher kannte. Auf den ersten zwanzig Metern konnte er mit Sonny Schritt halten, dann entfernte der Junge sich immer mehr. Der Junge hatte gut fünfzig Meter Vorsprung, als Simon ihn die drei Stufen raufrennen und durch die schwere Tür verschwinden sah.

Simon wurde langsamer. Wartete auf das Geräusch. Das ploppende, fast kindliche Geräusch der Schüsse, wenn man sie durch Wände hört. Aber es kam nicht.

Er ging die Treppe hoch. Öffnete die schwere Tür und trat in die Kirche.

Der Geruch. Die Stille. Die tiefe Überzeugung so vieler denkender Menschen. Die Reihen waren leer, aber vorn am Altar brannten Kerzen. Simon fiel ein, dass in einer halben Stunde die Morgenmesse begann. Das Licht der Kerzen flackerte über die verlorene Gestalt am Kreuz. Dann hörte er die flüsternd mahnende Stimme und drehte sich nach links.

Sonny saß in der offenen Kabine des Beichtstuhls, die Uzi auf das perforierte Holzbrett gerichtet, das die Kabinen trennte. Auf der anderen Seite war der schwarze Vorhang beinahe vollständig zugezogen. Nur ein winziger Spalt öffnete sich, aber durch den sah Simon eine Hand. Und dass sich auf dem Steinboden unter dem Vorhang langsam eine Blutlache bildete.

Simon schlich sich näher und konnte Sonnys geflüsterte Worte verstehen:

»Alle irdischen und himmlischen Götter erbarmen sich deiner und vergeben dir deine Sünden. Du wirst sterben, aber die Seelen der Sünder, denen vergeben wurde, werden ins Paradies eingehen. Amen.«

Es wurde still.

Simon sah, wie sich Sonnys Finger um den Abzug legte.

Simon steckte die Pistole zurück ins Schulterhalfter. Er hatte nicht vor, irgendetwas zu tun. Der Junge sollte das Urteil fällen und vollstrecken. Er selbst würde später gerichtet werden.

»Ja, wir haben deinen Vater getötet.« Die Stimme des Zwillings drang leise durch den Vorhang. »Das mussten wir. Ich hatte eine Nachricht vom Maulwurf erhalten, dass dein Vater plante, ihn umzubringen. Hörst du?«

Sonny antwortete nicht. Simon hielt den Atem an.

»Es sollte in der gleichen Nacht geschehen, in den mittelalterlichen Ruinen im Maridalen«, sagte der Zwilling. »Der Maulwurf sagte, die Polizei sei ihm auf der Spur und es sei sicher nur eine Frage der Zeit, bis er entlarvt würde. Deshalb wollte er, dass wir den Mord wie einen Selbstmord aussehen ließen, als wäre dein Vater der Maulwurf. Die Polizei würde dann die Suche einstellen. Ich bin darauf eingegangen, ich musste schließlich meinen Maulwurf verteidigen.«

Simon sah, dass Sonny sich die Lippen mit der Zunge befeuchtete. »Und wer ist dieser Maulwurf?«

»Das weiß ich nicht. Ich schwöre es. Wir haben ausschließlich über Mail kommuniziert.«

»Dann erfahren Sie es auch nicht mehr.« Sonny hob die Uzi wieder und legte den Finger erneut auf den Abzug. »Haben Sie Angst?«

»Warte! Du brauchst mich nicht zu töten, Sonny, ich verblute hier sowieso. Ich bitte dich nur darum, dass ich von meinen Liebsten Abschied nehmen darf, bevor ich sterbe. Ich habe deinem Vater gestattet, zum Schluss noch in ein paar Worten auszudrücken, wie sehr er dich und deine Mutter liebte. Willst du mir armen Sünder nicht das gleiche Recht zugestehen?«

Simon sah, wie Sonnys Brust sich hob und senkte. Seine Kiefermuskeln zuckten.

»Nein«, sagte Simon, »geh nicht darauf ein, Sonny, er …«

Sonny wandte sich ihm zu. Sein Blick war voller Wärme. Helenes Blick. Er hatte die Uzi bereits gesenkt. »Simon, er bittet doch nur darum …«

Simon sah eine Bewegung hinter dem Spalt in der Gardine, eine Hand, ein vergoldetes Feuerzeug in Form einer Pistole. Und Simon wusste bereits in diesem Moment, dass die Zeit nicht reichte. Die Zeit, Sonny zu warnen oder selbst zu reagieren und die Pistole aus dem Schulterhalfter zu ziehen, oder Else zu geben, was sie verdient hatte. Er stand auf dem Geländer der Brücke über den Akerselva, und unter ihm brodelte der Wasserfall.

Simon sprang.

Er katapultierte sich aus dem Leben in das wunderbar surrende Casinorad. Es brauchte weder Intelligenz noch Mut, nur die Dreistigkeit der Dummen und Verdammten, die bereit sind, um eine für sie nicht sonderlich wertvolle Zukunft zu spielen, und die wissen, dass sie weniger zu verlieren haben als andere.

Er sprang in die offene Kabine, zwischen den Sohn und das perforierte Holz, und hörte den Knall. Spürte den Biss, den lähmenden Stich der Kälte oder Hitze, die seinen Körper entzweiriss und alle Verbindungen trennte.

Dann kamen die anderen Geräusche. Die Uzi. Simons Kopf lag auf dem Boden des Beichtstuhls, und er registrierte, wie Holzsplitter auf ihn herabregneten. Er hörte den Schrei des Zwillings, hob den Kopf und sah den großen Mann. Er taumelte aus dem Beichtstuhl zwischen die Bankreihen. Die Kugeln zerfetzten wie ein wütender Bienenschwarm den Rücken seiner Anzugjacke. Die leeren Hülsen der Uzi fielen noch immer glühend heiß auf Simon und verbrannten ihm die Stirn. Der Zwilling stieß auf beiden Seiten Bankreihen um, bevor er in die Knie ging. Er bewegte sich aber noch immer. Er wollte nicht sterben. Das war nicht normal. Vor vielen Jahren hatte Simon gemerkt, dass die Mutter eines der von ihnen am meisten gesuchten Verbrecher bei ihnen arbeitete – in der Putzkolonne –, und als er zu ihr ging, waren das ihre ersten Worte: Levi ist nicht normal. Sie als Mutter liebte ihn, aber seit seiner Geburt hatte er ihr mit ­seiner Größe Angst gemacht. Und dann hatte sie Simon von dem einen Mal erzählt, als der kleine große Levi mit ihr zur Arbeit gekommen war, weil zu Hause niemand auf ihn aufpassen konnte. Er stand auf ihrem Putzwagen hinter dem Eimer, starrte auf die Wasserfläche und sagte, da unten sei einer, der genauso aussehe wie er. Sissel schlug vor, er könne ja mit ihm spielen und ging die Papierkörbe leeren. Als sie zurückkam, hatte der Junge den Kopf tief in den Eimer gesteckt und strampelte verzweifelt mit den Beinen. Seine Schultern hatten sich am Rand des Eimers verkeilt, sie brauchte all ihre Kraft, um ihn ­herauszuziehen. Er war klitschnass und sein Gesicht bereits blau. Doch statt zu ­weinen, wie es die meisten Kinder getan hätten, lachte er. Und sagte, der Zwilling sei böse gewesen und habe versucht, ihn zu töten.

Die Mutter hatte sich mehr als einmal gefragt, woher ihr Sohn eigentlich kam, und erst an dem Tag, an dem er auszog, fühlte sie sich frei.

Der Zwilling.

Zwei Löcher kamen direkt zwischen dem breiten Stiernacken und dem gewaltigen Hinterkopf zum Vorschein, und die Bewegungen stoppten abrupt.

Natürlich, dachte Simon. Er war eben ein normales Einzelkind.

Der große Mann war schon tot, ehe er nach vorn kippte und seine Stirn mit einem weichen Platsch auf dem Steinboden aufschlug.

Simon schloss die Augen.

»Simon, wo …?«

»In der Brust«, sagte Simon und hustete. Das Klebrigfeuchte auf seiner Haut konnte nur Blut sein.

»Ich rufe einen Krankenwagen.«

Simon öffnete die Augen. Sah an sich herunter. Ein tiefes Rot breitete sich auf seinem Hemd aus.

»Das reicht nicht mehr, lass es sein.«

»Doch, vielleicht …«

»Hör zu!« Sonny hatte das Handy herausgeholt, aber Simon legte die Hand darauf. »Ich weiß zu viel über Schussverletzungen, verstanden?«

Sonny legte die Hand auf Simons Brust.

»Das reicht nicht«, sagte Simon. »Und du musst jetzt los. Du bist frei, hast getan, was du tun musstest.«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Dann hau mir zuliebe ab«, sagte Simon und nahm Sonnys Hand. Sie fühlte sich so warm und vertraut an, als wäre es seine eigene. »Du hast deine Arbeit getan.«

»Bleiben Sie still liegen.«

»Ich habe gesagt, der Maulwurf würde heute hier sein, und das war er. Und jetzt ist er tot. Lauf.«

»Gleich kommt ein Krankenwagen.«

»Hörst du nicht …«

»Wenn Sie nicht reden …«

»Ich war das, Sonny.« Simon sah in die klaren, sanften Augen des Jungen. »Ich war der Maulwurf.«

Simon hatte erwartet, die Pupillen des Jungen würden sich durch den Schock weiten und das Schwarz das helle Grün der Iris verdrängen. Aber es geschah nicht. Und er verstand.

»Du wusstest es, Sonny.« Simon versuchte zu schlucken, musste aber wieder husten. »Du wusstest, dass ich es war? Wie?«

Sonny wischte mit seinem Ärmel das Blut von Simons Mund. »Arild Franck.«

»Franck?«

»Er hat geredet, nachdem ich ihm den Finger abgeschnitten hatte.«

»Geredet? Er wusste nicht, wer ich war. Niemand wusste, dass Ab und ich die Maulwürfe waren, Sonny. Niemand.«

»Nein, aber Franck hat mir gesagt, was er wusste. Dass der Maulwurf einen Spitznamen hatte.«

»Das hat er dir gesagt?«

»Ja, und dieser Spitzname sollte Springer gewesen sein.«

»Der Springer, ja. Unter dem Namen habe ich Kontakt mit dem Zwilling aufgenommen. Es gab aber nur eine Person, die mich damals so genannt hat. Eine einzige Person. Woher wusstest du …?«

Sonny holte etwas aus seiner Jackentasche und hielt es Simon hin. Das Foto mit den angetrockneten Blutflecken zeigte zwei Männer und eine Frau vor einer Steinpyramide. Alle drei waren jung und lachten.

»Als ich klein war, habe ich oft unser Fotoalbum durchgeblättert, und dabei ist mir dieses Bild aus den Bergen aufgefallen. Und ich habe Mama gefragt, wer der Fotograf mit dem geheimnisvollen Namen war, Springer. Sie hat mir damals erzählt, dass sei Simon, der dritte der drei Freunde. Und dass sie ihn Springer getauft habe, weil er sich zu springen traute, wo sonst niemand es wagte.«

»Und du hast dann zwei und zwei zusammengezählt …«

»Franck wusste nicht, dass es zwei Maulwürfe waren. Aber was er sagte, hörte sich logisch an. Dass mein Vater Sie entlarvt hatte. Und dass Sie ihn getötet haben, bevor er Sie anzeigen konnte.«

Simon blinzelte, aber das Dunkel kroch von den Rändern des Sichtfeldes heran. Trotzdem sah er besser als je zuvor. »Und du hast dann deinen Plan gemacht, mich zu töten. Deshalb hast du Kontakt zu mir aufgenommen. Du wolltest, dass ich dich finde. Du hast auf mich gewartet.«

»Ja«, sagte Sonny. »Bis ich das Tagebuch gefunden habe und plötzlich verstand, dass mein Vater an der Sache beteiligt war. Dass ihr beide Verräter wart.«

»Da ist alles zusammengestürzt, und du hast dein Vorhaben aufgegeben. Weil es nichts mehr gab, wofür du töten konntest.«

Sonny nickte.

»Und was hat dich dann dazu gebracht, dich doch anders zu entscheiden?«

Sonny sah ihn lange an. »Etwas, was Sie gesagt haben. Es ist nicht die Aufgabe der Söhne, wie ihre Väter zu sein, sondern …«

»… besser als sie.« Simon hörte in der Ferne Polizeisirenen. Spürte Sonnys Hand auf der Stirn. »Also, Sonny, sei besser als dein Vater.«

»Simon?«

»Ja.«

»Du stirbst. Wünschst du dir noch etwas?«

»Ich will, dass sie mein Augenlicht bekommt.«

»Und Vergebung, willst du die auch?«

Simon presste die Augen zu und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht … ich verdiene das nicht.«

»Niemand von uns tut das. Wir sind nur menschlich, wenn wir sündigen. Aber wir sind göttlich, wenn wir vergeben.«

»Aber ich bin ein Niemand für dich, ein Fremder, der dir die Menschen genommen hat, die du geliebt hast.«

»Du bist jemand. Du bist der Springer, du warst immer da, aber auf keinem Bild zu sehen.« Der Junge zog Simons Jacke hoch und schob ihm das Bild in die Innentasche. »Nimm es mit auf die Reise, es sind deine Freunde.«

Simon schloss die Augen. Dachte: Okay.

Die Worte des Jungen hallten zwischen den Wänden der leeren Kirche wider: »Alle irdischen und himmlischen Götter erbarmen sich deiner und …«

Simon sah auf einen Blutstropfen, der gerade aus der Jacke des Jungen auf den Boden gefallen war. Er legte den Zeigefinger auf die rotgolden glänzende Oberfläche. Sah, wie sich der Tropfen förmlich an seiner Haut festsaugte, legte den Finger auf die Lippen und schloss die Augen. Er starrte hinunter in das tosende Wasser. Eine eiskalte Umarmung. Stille, Einsamkeit. Und Frieden. Und dieses Mal würde er nicht wieder an die Oberfläche kommen.

In der Stille, die nach dem zweiten Abspielen der Aufnahme eintrat, hörte Kari die Vögel; vollkommen unbeirrt zwitscherten sie draußen vor dem halbgeöffneten Fenster des Steakhauses.

Der Polizeipräsident starrte ungläubig auf den PC.

»Okay?«, fragte Øhre.

»Okay«, antwortete Parr.

Anwalt Jan Øhre zog den Speicherstick heraus und reichte ihn dem Polizeipräsidenten. »Haben Sie die Stimme erkannt?«

»Ja«, sagte Parr. »Er heißt Arild Franck und ist faktisch der Leiter des Hochsicherheitsgefängnisses Staten. Adel, überprüfen Sie, ob das Konto auf den Cayman-Inseln, das er angegeben hat, tatsächlich existiert? Wenn es stimmt, was er sagt, stehen wir vor einem Riesenskandal.«

»Das tut mir leid«, sagte Øhre.

»Ganz und gar nicht«, sagte Parr. »Ich hatte schon jahrelang so einen Verdacht. Erst neulich haben wir einen Hinweis von einem mutigen Polizisten aus Drammen erhalten. Er hat angedeutet, Lofthus habe vielleicht nur deshalb Freigang bekommen, um als Sündenbock für den Morsand-Mord herzuhalten. Vorerst sind wir der Sache noch nicht nachgegangen. Wir wollten sicher sein, dass wir genug gegen Franck in der Hand hatten. Aber mit dem Material haben wir mehr als genug Munition. Eine letzte Frage, bevor wir gehen …«

»Ja?«

»Hat Hauptkommissar Kefas gesagt, warum Sie ausgerechnet uns und nicht ihn selbst treffen sollten?«

Iversen warf Øhre einen Blick zu, ehe er mit den Schultern zuckte: »Er sagte, er sei anderweitig sehr beschäftigt. Und dass Sie beide die einzigen Kollegen seien, denen er hundertprozentig vertraue.«

»Verstehe«, sagte Parr und stand auf.

»Eine Sache noch …«, sagte Øhre und nahm sein Handy. »Mein Klient hat meinen Namen Hauptkommissar Kefas genannt, und der hat mich daraufhin kontaktiert und gefragt, ob ich mich um einen Krankentransport und die Bezahlung einer Augenoperation kümmern könnte, die er in der Howell-Klinik in Baltimore für morgen in Auftrag gegeben hat. Ich bin gerade von der Empfangsdame unserer Kanzlei informiert worden, dass eben eine junge Frau da war und eine rote Sporttasche abgeliefert hat, in der sich eine beträchtliche Summe Bargeld befinden soll. Ich möchte nur wissen, ist das etwas, dem die Polizei nachgehen wird?«

Kari merkte, dass das Gezwitscher draußen verstummt und nur noch das entfernte Heulen von Sirenen zu hören war. Mehrere Sirenen. Polizeiwagen.

Parr räusperte sich. »Ich weiß nicht, warum eine solche Information für die Polizei relevant sein sollte. Und da der Auftraggeber in diesem Fall als Ihr Klient zu betrachten ist, unterliegen Sie, soweit ich das sehe, der Schweigepflicht. Sie dürften mir also ohnehin nichts mehr sagen, sollte ich fragen.«

»Gut, dann sehen wir die Sache gleich«, sagte Øhre und klappte seine Mappe zu.

Kari spürte das Handy in ihrer Tasche vibrieren, stand schnell auf, ging ein paar Schritte zur Seite und nahm das Handy heraus. Gleich darauf hörte sie das dumpfe Klackern der Murmel, die auf den Holzboden fiel.

»Adel.«

Sie starrte auf die Murmel, die irgendwie zu zögern schien, unsicher, ob sie sich bewegen oder still liegen sollte. Dann rollte sie etwas unstet und langsam in Richtung Süden.

»Danke«, sagte Kari und steckte das Telefon in die Tasche, ehe sie sich zu Parr umdrehte, der sich gerade erhob. »In einem Fischrestaurant namens Nautilus sind vier Tote gefunden worden.«

Der Polizeipräsident blinzelte vier Mal hinter seinen Brillengläsern, und Kari fragte sich, ob das wohl eine Zwangshandlung war. Vielleicht blinzelte er ja einmal für jede neue Leiche in seinem Distrikt.

»Wo ist das?«

»Hier.«

»Hier?«

»Hier auf dem Kai. Nur ein paar hundert Meter entfernt.« Kari hatte die Murmel wiederentdeckt.

»Kommen Sie.«

Sie wollte zur Murmel laufen und sie mitnehmen.

»Auf was warten Sie, Adel! Kommen Sie!«

Die Murmel hatte jetzt einen gradlinigeren Kurs und mehr Tempo. Wenn sich Kari nicht entschloss, würde sie die Murmel aus den Augen verlieren.

»Ja«, sagte sie und rannte hinter Parr her. Die Sirenen waren inzwischen lauter, der Ton schwoll an und ab und durchschnitt die Luft wie eine Sense.

Sie liefen nach draußen ins weiße Sonnenlicht, in den vielversprechenden Morgen der blauen Stadt. Der Menschenstrom, der ihnen entgegenkam, teilte sich vor ihnen. Gesichter flimmerten durch Karis Sichtfeld. Und irgendwo, tief im Inneren ihres Gehirns, reagierte etwas auf eine Sonnenbrille und einen hellgrauen Anzug. Parr hatte Kurs auf die schmale Gasse genommen, in der bereits einige uniformierte Beamte verschwunden waren. Kari blieb stehen, drehte sich um und sah den grauen Anzugrücken an Bord der Nesoddenfähre gehen, die zur Abfahrt bereitstand. Dann drehte sie sich um und lief weiter.

Martha hatte das Verdeck geöffnet und den Kopf an die Kopfstütze gelehnt. Sie beobachtete eine Möwe, die zwischen dem blauen Himmel und dem blauen Fjord still im Wind stand. Die Möwe balancierte die Kräfte aus, maß die eigenen mit den äußeren, während sie nach Nahrung Ausschau hielt. Martha atmete ruhig und tief, aber ihr Herz klopfte wild, denn das Schiff legte gerade an. Nur wenige Leute fuhren so früh am Morgen von Oslo nach Nesoddtangen, so dass sie ihn kaum übersehen konnte, wenn er es geschafft haben sollte. Wenn. Sie wiederholte das stille Gebet, das sie auf den Lippen hatte, seit sie vor anderthalb Stunden bei Tomte & Øhre losgefahren war. Auf der letzten Fähre, die vor einer halben Stunde angelegt hatte, war er nicht gewesen, aber sie hatte sich selbst einzureden versucht, dass das auch ziemlich unwahrscheinlich gewesen wäre. Doch wenn er jetzt auch nicht auf dieser war … Was dann? Sie hatte keinen Plan B. Wollte keinen haben.

Jetzt kamen die Passagiere. Es waren nicht viele, die Menschen fuhren um diese Uhrzeit in die Stadt und nicht heraus. Sie nahm die Sonnenbrille ab. Spürte ihr Herz schlagen, als sie einen hellgrauen Anzug sah. Aber er war es nicht. Ihr Hals schnürte sich zusammen.

Doch da war noch einer mit Anzug.

Er ging etwas schief, als hätte er Wasser aufgenommen und segelte mit Schlagseite.

Ihr Herz schlug wieder schneller, und Tränen traten ihr in die Augen. Vielleicht war es nur die Morgensonne auf dem hellen Anzug, aber irgendwie schien er zu strahlen.

»Danke«, flüsterte sie. »Danke, danke.«

Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, wischte sich die Tränen ab und rückte sich das Kopftuch zurecht. Dann winkte sie. Und er winkte zurück.

Und als er über den Hang auf sie zuging, wurde ihr plötzlich eine Sache bewusst: Das alles war zu schön, um wahr zu sein. Es musste eine Fata Morgana sein, ein Gespenst. Er war tot, erschossen, irgendwo gekreuzigt worden, und was sie jetzt sah, war nur seine Seele.

Er setzte sich mühsam ins Auto und nahm die Sonnenbrille ab. Er war blass, und seinen roten Augen sah sie an, dass auch er geweint hatte. Dann schlang er die Arme um sie und zog sie an sich. Erst glaubte sie, das Zittern käme von ihr, doch es ging von seinem Körper aus.

»Wie …?«

»Okay«, sagte er, ohne sie loszulassen. »Es ist alles gutgegangen.«

Sie blieben einen Moment fest umschlungen sitzen, als könnten sie nur aneinander Halt finden. Sie wollte eine Frage stellen, ließ es aber. Später würden sie noch genug Zeit haben.

»Was jetzt?«, fragte sie flüsternd.

»Jetzt«, sagte er, ließ sie vorsichtig los und richtete sich stöhnend auf. »Jetzt geht’s los. Großer Koffer.« Er nickte in Richtung Rückbank.

»Nur das Allernötigste«, erwiderte sie lächelnd, drückte die CD in den Player und reichte ihm das Handy. »Ich fahre die erste Strecke. Guckst du auf die Karte?«

Er sah auf das Display des Handys, während die flache, roboterartige Stimme leise aus den Lautsprechern sang: »My … personal …«

»Eintausenddreißig Kilometer«, sagte er. »Vermutliche Fahrzeit: zwölf Stunden und einundfünfzig Minuten.«


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