Kapitel 12

Arild Franck stand am Fenster seines Büros und sah auf die Uhr. Die meisten Ausbrecher wurden im Laufe der ersten zwölf Stunden gefasst. Der Presse gegenüber hatte er allerdings von vierundzwanzig Stunden gesprochen, um sich etwas mehr Luft zu verschaffen. Inzwischen war allerdings die fünfundzwanzigste Stunde angebrochen, und noch immer fehlte jede Spur.

Er war gerade erst im großen Büro gewesen, dem Büro ohne Aussicht, in dem ihn der Mann ohne Weitblick um eine Erklärung gebeten hatte. Der Gefängnisdirektor war schlecht gelaunt, da er wegen dieses Vorfalls die jährliche Tagung der nordischen Gefängnisdirektoren in Reykjavík hatte verlassen müssen. Schon am Vortag, noch in Island, hatte er am Telefon gesagt, dass er selbst mit der Presse sprechen wolle. Der Direktor liebte den Umgang mit den Medien. Franck hatte um einen Tag Zeit gebeten, um Lofthus ohne Aufsehen wieder einbuchten zu können, war damit beim Direktor aber auf Granit gestoßen. Er wollte diesen Vorfall auf keinen Fall unter den Teppich kehren. Erstens mussten die Bürger vor dem verurteilten Mörder Lofthus gewarnt werden. Außerdem, zweitens, konnten sie die Öffentlichkeit nur zur aktiven Mithilfe aufrufen, wenn Sonnys Foto in den Medien präsent war.

»Und drittens, damit auch mal wieder Ihr Bild in der Zeitung erscheint«, sagte Franck. »Ihre Politikerfreunde müssen doch sehen, dass da drüben in Island gearbeitet und nicht nur in der Blauen Lagune gebadet und Svartadaudir getrunken wird.«

Nichts hatte den Direktor überzeugen können, es interessierte ihn nicht, dass die zwölf Jahre alten Fotos von Sonny Lofthus, mit Bart und langen Haaren, in der Zeitung nichts bewirken würden. Und auch nicht, dass die Bilder der Überwachungskamera, auf denen Sonny rasiert und mit beinahe kahlgeschorenem Schädel zu sehen war, so körnig waren, dass sie nicht verwendet werden konnten. Der Direktor hatte darauf bestanden, das Gefängnis und seinen Namen in den Dreck zu ziehen.

»Die Polizei fahndet nach ihm, Arild, es sollte auch Ihnen klar sein, dass es nur eine Frage von Stunden ist, bis mich jemand von der Presse anruft und fragt, warum wir das nicht publik gemacht haben und ob es womöglich noch weitere geheim gehaltene Ausbrüche gibt. In solchen Fällen ziehe ich es wirklich vor, die Zügel in der Hand zu halten, Arild.«

Gerade eben hatte der Gefängnisdirektor ihn gefragt, welche Routineabläufe Francks Meinung nach verbessert werden könnten. Franck wusste, warum. So konnte er zu seinen Politikerfreunden gehen und die Ideen seines Stellvertreters als die ­seinen verkaufen. Als die Ideen eines Mannes mit Weitblick. Trotzdem hatte er diesen Idioten ins Vertrauen gezogen und ihm seine Vorstellungen erläutert. Stimmerkennungssoftware anstelle von Fingerabdrücken und Fußfesseln mit GPS-Chips, die sich nicht zerstören ließen. Diese Dinge waren ihm, wie auch das ganze Staten, wichtiger als seine eigene Person.

Arild Franck sah zum Ekeberg hinüber, der in der Morgensonne badete. Früher war das einmal die Sonnenseite des Arbeiterviertels gewesen. Auch er hatte seinerzeit davon geträumt, sich dort oben ein kleines Häuschen zu kaufen. Jetzt besaß er ein größeres Anwesen in einem teureren Viertel, träumte aber noch immer von diesem kleinen Haus am Ekeberg.

Nestor hatte die Nachricht von Sonnys Ausbruch mit Fassung getragen. Aber diese Art Selbstkontrolle war typisch für Leute, die Franck Sorgen machten. Sie waren durch und durch kontrolliert, sogar dann, wenn sie Entscheidungen fällten, die so brutal waren, dass ihm das Blut in den Adern gefror. Entscheidungen, die andererseits aber auch so simpel, klar und logisch waren, dass sie Arild Franck immer wieder tief beeindruckten.

»Finde ihn«, hatte Nestor gesagt. »Oder sorg dafür, dass niemand ihn findet.«

Fassten sie Lofthus, konnten sie ihn überreden, den Mord an Frau Morsand zu gestehen, bevor ihnen die Polizei in die Quere kam. Sie hatten da so ihre Methoden. Und brachten sie ihn um, waren die Indizien und biologischen Spuren an Frau Morsand nicht mehr zu entkräften. Andererseits stand Lofthus dann für weitere Fälle nicht mehr zur Verfügung. Alles hatte, wie immer, Vor- und Nachteile. Im Grunde aber eine simple Logik.

»Simon Kefas ist am Telefon«, meldete sich Inas Stimme durch die Sprechanlage.

Arild Franck schnaubte.

Simon Kefas.

Wieder so einer, dem nichts wichtiger war als sein eigenes Wohlbefinden. Ein rückgratloser Schwächling, der mit seiner Spielsucht mehr als einen über die Klinge hatte springen lassen. Angeblich sollte er sich verändert haben, seit er diese Frau kennengelernt hatte. Franck wusste allerdings besser als alle anderen, dass Menschen sich nie veränderten. Ja, über Simon Kefas wusste er wirklich alles, was er wissen musste.

»Sag ihm, dass ich nicht da bin.«

»Er will noch im Laufe des Tages einen Termin mit Ihnen. Es geht um Per Vollan.«

Vollan? Hatten sie seinen Tod nicht längst als Selbstmord abgehakt? Franck seufzte schwer und blickte zur Zeitung, die auf seinem Schreibtisch lag. Zum Glück war der Ausbruch nicht die Titelstory. Vermutlich war der Artikel aber nur deshalb auf den Innenseiten gelandet, weil die Redaktionen keine anständigen Bilder hatten. Diese Geier warteten sicher nur darauf, dass sie Phantombilder bekamen, auf denen der Mörder so richtig teuflisch aussah. Diesmal würden sie sehr enttäuscht sein.

»Arild?«

Es war eine unausgesprochene Regel, dass man ihn beim Vornamen nennen durfte, wenn niemand sonst zugegen war.

»Schau in meinen Kalender und mach einen Termin, Ina. Aber gib ihm nicht mehr als dreißig Minuten.«

Franck blinzelte in Richtung Moschee. Bald brach die sechsundzwanzigste Stunde an.

Lars Gilberg trat einen Schritt näher.

Der junge Mann lag auf einem aufgeklappten Pappkarton und hatte einen langen Mantel über sich gebreitet. Er war tags zuvor gekommen und hatte sich hinter die Büsche gesetzt, die zwischen dem Pfad und den dahinterliegenden Bäumen wuchsen. Er hatte einfach nur dagesessen, ruhig und stumm, als spielte er Verstecken mit jemandem, der doch nicht kommen würde. Wobei ja tatsächlich zwei Uniformierte mit einem Bild in der Hand vorbeigekommen waren und Gilberg genau gemustert hatten, ehe sie weitergegangen waren.

Als es am Abend zu regnen begonnen hatte, war der junge Mann zu ihm unter die Brücke gekommen. Ohne um Erlaubnis zu fragen. Das Problem war nicht, dass er das nicht durfte, sondern dass er nicht gefragt hatte. Und dass er eine Uniform trug. Lars Gilberg war sich nicht ganz sicher, was das für eine Uniform war, schließlich war er schon zu Beginn der Grundausbildung aus dem Militär geflogen, weshalb er nur die grünen Uniformen der Unteroffiziere kannte. »Ungeeignet« hatte damals die vage Begründung gelautet. Er hatte sich seither mehr als einmal gefragt, ob es überhaupt etwas gab, wofür er geeignet war. Und ob er jemals herausfinden würde, was das war. Vielleicht ja die Gabe, dass er sich immer wieder Geld für Drogen beschaffen und unter einer Brücke leben konnte.

Wie jetzt.

Der junge Mann schlief. Sein Atem ging ruhig. Lars Gilberg trat noch einen Schritt näher. Der Gang und die Hautfarbe des Mannes hatten ihm verraten, dass er Heroin nahm. Vielleicht hatte er ja etwas dabei.

Gilberg war so nah, dass er das Zucken im Augenwinkel und die Bewegung der Augäpfel sehen konnte. Er hockte sich hin und schob den Mantel vorsichtig zur Seite. Dann glitten seine Finger in die Brusttasche der Uniformjacke.

Es ging so schnell, dass Lars es nicht einmal bemerkte. Die Finger des jungen Mannes krallten sich um sein Handgelenk, und im nächsten Augenblick lag Lars mit dem Gesicht auf dem regennassen Boden, den Arm hinter seinem Rücken nach oben gebogen.

Eine Stimme flüsterte ihm ins Ohr: »Was willst du?«

Sie klang nicht wütend, nicht aggressiv, nicht einmal ängstlich. Eher höflich, fast so, als fragte der Junge ihn, ob er ihm einen Gefallen tun dürfe. Lars Gilberg tat das, was er immer tat, wenn er ganz klar verloren hatte. Er gestand, ehe es noch schlimmer wurde.

»Ich wollte dir dein Dope klauen, oder dein Geld, falls du welches hast.«

Der Griff, mit dem der Mann ihn festhielt, war ihm mehr als bekannt. Das Handgelenk zum Unterarm gepresst, den Ellenbogen nach innen. Polizeigriff. Aber Gilberg wusste auch, wie die Fahnder sich bewegten, wie sie redeten. Er roch sie schon von weitem und wusste, dass dieser Mann keiner von ihnen war.

»Was nimmst du?«

»Murphy«, stöhnte Gilberg.

»Und wie viel kriegst du für einen Fünfziger?«

»Wenig, nicht viel.«

Der Griff löste sich, und Gilberg zog den Arm rasch nach vorn.

Dann glitt sein Blick zu dem jungen Mann und dem Schein, den dieser ihm hinhielt.

»Tut mir leid, aber mehr habe ich nicht.«

»Ich … äh … ich hab nichts zu verkaufen.«

»Der ist für dich. Ich habe aufgehört.«

Gilberg kniff ein Auge zusammen. Wie hieß das noch mal? War etwas zu gut, um wahr zu sein, war es in der Regel auch nicht wahr? Andererseits war dieser Kerl vielleicht einfach nur verrückt. Er schnappte sich den Fünfziger und steckte ihn in seine Tasche.

»Miete für den Schlafplatz«, sagte er.

»Ich habe gestern Bullen vorbeilaufen sehen«, sagte der Mann. »Kommen die hier oft lang?«

»Ab und an, in letzter Zeit aber ziemlich oft.«

»Du kennst nicht zufällig einen Ort, wo die … sich nicht so oft blicken lassen?«

Gilberg legte den Kopf zur Seite und musterte den anderen. »Wenn du den Bullen ganz aus dem Weg gehen willst, dann bemüh dich um ein Zimmer im Ila. Da dürfen sie nicht rein.«

Der Mann sah nachdenklich zum Fluss, ehe er langsam nickte. »Danke für die Hilfe, mein Freund.«

»Dafür nicht«, murmelte Gilberg verblüfft. Wirklich verrückt.

Wie zur Bestätigung begann der Mann sich auszuziehen. Gilberg rutschte zur Sicherheit ein Stückchen weg. Schließlich stand der Mann nur in Unterhose da und faltete Uniform und Hemd zusammen, bevor er beides um die Schuhe wickelte. Er bat Gilberg um eine Plastiktüte, in der er die Sachen verstaute, bevor er die Tüte unter einem Stein hinter den Büschen versteckte, wo er tags zuvor gesessen hatte.

»Ich achte schon drauf, dass die niemand findet«, sagte Gilberg.

»Danke, ich vertraue dir.« Lächelnd knöpfte der junge Mann den Mantel ganz zu, bis nicht einmal mehr seine nackte Brust zu sehen war.

Dann ging er über den Pfad davon. Gilberg sah ihm nach. Seine nassen Füße ließen das Wasser der Pfützen nach rechts und links spritzen.

Vertraue dir?

Vollkommen verrückt.

Martha betrachtete den Monitor in der Rezeption, auf dem die Überwachungsbilder aus dem Hospiz wiedergegeben wurden. Vor dem Eingang stand ein Mann und starrte in die Kamera. Er hatte noch nicht geklingelt, hatte das kleine Loch im Plexiglas über dem Klingelknopf noch nicht gefunden. Diesen Schutz hatten sie anbringen müssen, da viele, denen der Zutritt verwehrt war, erst einmal wild auf die Klingel hämmerten. Martha drückte den Knopf der Gegensprechanlage.

»Ja, was kann ich für Sie tun?«

Der junge Mann antwortete nicht. Martha hatte längst erkannt, dass er keiner der siebenundsechzig Bewohner war. Trotz der hohen Fluktuation, allein in den letzten vier Monaten waren hundert neue Bewohner hinzugekommen, kannte sie jedes ­Gesicht. Aber er gehörte eindeutig zur Zielgruppe des Ila: drogenabhängige Männer. Er sah zwar clean aus, aber sein abgemagertes Gesicht sprach Bände. Wie auch das Zucken in den Mundwinkeln. Der miserable Haarschnitt. Sie seufzte.

»Suchen Sie ein Zimmer?«

Der Mann nickte, und sie drehte den Schlüssel, um unten die Tür zu öffnen. Dann rief sie Stine, die nebenan in der Küche für einen der Bewohner Brote schmierte, und bat sie, die Rezeption zu übernehmen. Sie ging nach unten und passierte die Gittertür, die sie von oben schließen konnten, sollten Unbefugte eindringen. Der junge Mann wartete draußen vor der Haustür. Sein bodenlanger Mantel war bis zum Hals zugeknöpft. Er hatte nackte Füße, und in seiner feuchten Fußspur entdeckte sie Blut. Aber Martha war einiges gewohnt, weshalb ihr im Grunde nur sein Blick auffiel. Er sah sie. Anders konnte sie das nicht beschreiben. Er hatte seine Augen auf sie gerichtet, und diesen Augen konnte man entnehmen, dass er über sie nachdachte. Martha. Vielleicht nicht viel, aber deutlich mehr, als sie es hier im Ila gewohnt war. Einen Moment lang flatterte der Gedanke durch ihren Kopf, dass er vielleicht doch keine Drogen nahm, aber sie wies ihn schnell von sich.

»Hallo. Komm erst mal mit.«

Er folgte ihr in den ersten Stock, wo sie in das Besprechungszimmer gegenüber der Rezeption gingen. Die Tür ließ sie wie immer offen, damit Stine sie sehen konnte. Dann bot sie ihm einen Platz an und suchte die Formulare für das obligatorische Aufnahmegespräch heraus.

»Name?«

Er zögerte.

»Weißt du, irgendeinen Namen muss ich in dieses Formular eintragen.« Ein Hinweis, den viele, die ins Ila kamen, gut gebrauchen konnten.

»Stig«, sagte er etwas fragend.

»Stig ist gut«, sagte sie. »Und wie weiter?«

»Berger?«

»Okay. Dann schreiben wir das. Geboren?«

Er nannte ihr ein Datum und eine Jahreszahl, und sie kam rasch zu dem Schluss, dass er gerade dreißig geworden war. Er sah jünger aus. Es war wirklich seltsam, aber bei Drogenabhängigen lag man oft daneben, wenn es darum ging, das Alter zu schätzen. Und das in beiden Richtungen.

»Hat dich jemand hergeschickt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wo hast du letzte Nacht geschlafen?«

»Unter einer Brücke.«

»Dann gehe ich davon aus, dass du keinen festen Wohnsitz hast und auch nicht weißt, welchem Sozialamt du unterstehst. Ich nehme also die Zahl Elf aus deinem Geburtsdatum, und die führt uns zum …« Sie warf einen Blick auf eine Liste. »Sozialamt Alna, das in seiner Güte hoffentlich für dich bezahlen wird. Was für Drogen nimmst du?«

Sie hatte den Stift gezückt, aber er antwortete nicht.

»Ich brauche nur dein Leibgericht.«

»Ich habe aufgehört.«

Sie legte den Stift weg. »Wir nehmen hier im Ila nur akut Drogenabhängige auf. Ich kann aber in der Sporveisgata anrufen und fragen, ob sie dich da nehmen. Da ist es auch um einiges angenehmer als hier.«

»Du meinst …«

»Ja, ich meine, dass du tatsächlich regelmäßig Drogen nehmen musst, um hier wohnen zu dürfen.« Sie lächelte ihn müde an.

»Und wenn ich sage, dass ich dich angelogen habe, weil ich dachte, dass ich dann eher ein Zimmer kriege?«

»Dann hast du auch diese Frage richtig beantwortet, aber mehr Tipps gebe ich dir jetzt nicht mehr.«

»Heroin«, sagte er.

»Und?«

»Nur Heroin.«

Sie machte ein Kreuzchen auf ihrem Formular, fragte sich aber, ob das wirklich stimmen konnte. Es gab kaum noch einen Abhängigen in Oslo, der nur Heroin nahm, da man das eh schon gestreckte Zeug, das man auf der Straße bekam, mit Benzodiazepinen wie zum Beispiel Rohypnol aufpeppen konnte, um mehr von seinem Rausch zu haben.

»Was erwartest du dir von deinem Aufenthalt hier?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ein Dach über dem Kopf.«

»Spezielle Krankheiten oder wichtige Medikamente?«

»Nein.«

»Hast du Pläne für die Zukunft?«

Er sah sie an. Martha Lians Vater hatte einmal gesagt, dass die Geschichte eines Menschen in seinem Blick verborgen liege, und dass man lernen könne, diese Geschichte zu lesen. Aber nicht die Zukunft. Über die Zukunft wusste man nichts. Trotzdem sollte Martha sich später an diesen Moment erinnern und sich immer wieder fragen, ob sie darin doch etwas über die Zukunftspläne des sogenannten Stig Berger hätte lesen können.

Er schüttelte den Kopf und wiederholte das, als sie nach Arbeit, Ausbildung, Überdosen, somatischen Krankheiten, Blut­infektionen und psychischen Problemen fragte. Zum Schluss erklärte sie ihm, dass sie der Schweigepflicht unterlägen und seinen Aufenthaltsort an niemanden weitergeben würden, dass er aber eine Einverständniserklärung unterzeichnen könne, damit bestimmte Menschen Auskunft bekämen, sollten sie sich an das Hospiz wenden.

»Damit zum Beispiel deine Eltern, Freunde oder Lebensgefährtin sich bei dir melden können.«

Er lächelte. »Habe ich alles nicht.«

Martha Lian hatte diese Antwort schon oft gehört. So oft, dass sie keinen Eindruck mehr auf sie machte.

Ihr Psychologe nannte das compassion fatigue, eine Art Nachlassen des Mitgefühls. Und dann hatte er ihr erklärt, dass das in ­ihrem Metier fast alle irgendwann erwischte. Was Martha allerdings Sorgen machte, war, dass es nicht vorüberging. Es mochte zynisch klingen, aber ihre Energiequelle war immer die Em­pathie gewesen. Das Mitgefühl. Die Liebe. Doch jetzt war davon fast nichts mehr übrig. Deshalb reagierte sie, als sie spürte, wie sehr sie die Worte »Habe ich alles nicht« zusammenzucken ließen, als hätte jemand mit einer Nadel einen Nervenknoten in einem Muskel getroffen, der lange nicht mehr benutzt worden war.

Sie steckte die Formulare in eine Mappe, die sie in die Rezeption brachte, und begleitete den neuen Bewohner nach unten, ins kleine Kleiderlager im Erdgeschoss.

»Ich hoffe, du gehörst nicht zu der paranoiden Sorte, die keine Kleider von anderen tragen.« Sie drehte ihm den Rücken zu, während er den Mantel ablegte und die Sachen anzog, die sie ihm hingelegt hatte.

Sie wartete, bis er sich räusperte, und drehte sich um. Aus irgendeinem Grund sah er mit dem hellblauen Pullover und der Jeans größer und fitter und auch nicht mehr so abgemagert aus, wie er in dem Mantel gewirkt hatte. Er starrte auf die einfachen blauen Joggingschuhe.

»Ja«, sagte sie trocken. »Pennerschuhe.«

Große Mengen überschüssige Joggingschuhe waren in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts vom Militär an wohltätige Organisationen gespendet worden, und diese Schuhe waren mittlerweile zu einem Erkennungsmerkmal der Drogenabhängigen und Obdachlosen geworden.

»Danke«, sagte er leise.

Da war es. Dieses Wort, das sie seinerzeit angetrieben hatte, zum Psychologen zu gehen. Weil es eben nie fiel. Weil wieder einer dieser Sich-selbst-Zerstörer nichts für das System übrighatte. Dabei hatten all diese Menschen doch nur dank des Wohlfahrtsstaates und der sozialen Einrichtungen, die sie nicht zu beschimpfen aufhörten, eine Art Existenz. Auslöser war ein Streit mit einem Bewohner gewesen. Sie war ausgerastet, hatte einen Wutanfall bekommen und ihn angeschrien, dass er zum Teufel gehen sollte, wenn ihm die Dicke der Einmalspritze, die er gratis bekäme, nicht passte, oder das Zimmer, für das das Sozialamt sechstausend Kronen im Monat zahlte und in dem er sich doch nur die Drogen schoss, die er mit in der Nachbarschaft geklauten Fahrrädern ­finanzierte. Der Junkie hatte sich in einem vierseitigen Brief über sie beschwert und seine Leidensgeschichte lang und breit aus­gerollt, woraufhin sie sich entschuldigen hatte müssen.

»Dann gehen wir mal zu deinem Zimmer«, sagte sie.

Auf dem Weg in den zweiten Stock zeigte sie ihm die Waschräume und Toiletten. Männer hasteten mit schnellen Schritten und Drogen im Blick an ihnen vorbei.

»Willkommen in Oslos bestem Drogensupermarkt«, sagte Martha.

»Hier drinnen?«, fragte der Mann. »Darf man hier Sachen verkaufen?«

»Nach Hausordnung nicht, aber wer Drogen nimmt, muss ja auch welche haben. Du musst wissen, dass wir uns definitiv nicht darum kümmern, ob du ein Gramm oder ein Kilo auf deinem Zimmer hast. Wir gehen da nur rein, wenn wir den Verdacht haben, dass du dort Waffen aufbewahrst.«

»Waffen gibt es hier auch?«

Sie sah ihn von der Seite an. »Warum willst du das alles wissen?«

»Nur um einschätzen zu können, wie gefährlich es hier ist.«

»Alle Dealer im Haus haben Laufburschen, die auch als Geldeintreiber arbeiten. Und diese Leute sind bei dem, was sie tun, sehr kreativ. Sie benutzen alles von Baseballschlägern bis hin zu regulären Schusswaffen. Letzte Woche habe ich beim Ausräumen eines Zimmers eine Harpune unterm Bett gefunden.«

»Eine Harpune?«

»Ja, eine geladene Sting 65.«

Ihr Lachen überraschte sie selbst. Er antwortete mit einem Lächeln. Einem schönen Lächeln, wie es so viele einmal gehabt hatten.

Sie schloss die Tür des Zimmers 323 auf.

»Wir haben viele Zimmer wegen Feuerschäden schließen müssen, deshalb leben einige Bewohner zu zweit, bis die Schäden behoben sind. Dein Zimmergenosse heißt Johnny, die anderen nennen ihn Johnny Puma. Er leidet am Erschöpfungssyndrom und verbringt die meiste Zeit des Tags im Bett. Aber er ist ruhig und nett, du wirst keine Probleme mit ihm haben.«

Sie öffnete die Tür. Es war dunkel, die Gardine war vorgezogen, und sie machte das Licht an. Die Neonröhren blinkten zweimal, bevor sie sich einschalteten.

»Schön«, sagte der Mann.

Martha ließ den Blick durch den Raum schweifen. Es war das erste Mal, dass jemand einen Raum im Ila als schön bezeichnet hatte. Aber irgendwie hatte er ja recht. Das Linoleum war zwar verblichen und die himmelblauen Wände waren voller Löcher, Gekritzel und Zeichnungen, die sie nicht mehr wegbekamen, aber der mit einem Etagenbett, einem Schrank und einem niedrigen verkratzten Tisch möblierte Raum war sauber und hell. Die Farbe des Tisches blätterte ab, aber alles war ordentlich und funktional. Es roch nach dem Mann, der im unteren Bett lag und schlief. Der Neue hatte angegeben, noch nie eine Überdosis genommen zu haben, weshalb sie ihm ein Bett oben geben konnte. Die unteren Betten waren für Risikokandidaten reserviert, da es im Notfall unten leichter war, die Bewusstlosen vom Bett auf die Trage zu heben.

»Stimmt«, sagte Martha und reichte ihm den Schlüsselbund. »Ich bin dein Primärkontakt, das heißt, sollte etwas sein, wendest du dich an mich. Verstanden?«

»Danke«, sagte er, nahm den blauen Plastikanhänger entgegen und warf einen Blick darauf. »Vielen Dank.«


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