Kapitel 31

Es war sieben Uhr, als Simon wieder im Büro auftauchte. Er hatte sich zweieinhalb Stunden Schlaf, anderthalb Tassen Kaffee und eine halbe Kopfschmerztablette gegönnt. Manche Menschen brauchten wenig Schlaf. Simon gehörte nicht zu diesen Menschen.

Vielleicht aber Kari. Sie sah auf jeden Fall überraschend gut aufgelegt aus, als sie im Eilschritt auf ihn zukam.

»Und?«, fragte Simon, ließ sich auf seinen Stuhl fallen und riss den braunen Umschlag auf, der in seinem Postfach gelegen hatte.

»Keiner der drei Verhafteten von gestern Abend redet«, sagte Kari. »Nicht ein Wort. Sie wollen nicht mal sagen, wie sie heißen.«

»Kluge Jungs. Wissen wir es?«

»Na klar. Unsere Fahnder kannten sie. Außerdem haben die alle drei schon mal eingesessen. Und dann ist heute Nacht wie aus dem Nichts ein Anwalt aufgetaucht und hat unsere Versuche, etwas aus ihnen herauszubekommen, gleich im Keim erstickt. Ein Einar Harnes. Aber ich konnte das Handy ausfindig machen, von dem der Sohn die SMS geschickt hat. Das Telefon ist auf einen Fidel Lae angemeldet. Ein Hundezüchter. Da geht niemand dran, die Signale der Basisstation zeigen aber, dass er auf seinem Hof sein muss. Wir haben zwei Streifenwagen rausgeschickt.«

Simon war nun klar, warum sie nicht – wie er – aussah, als käme sie direkt aus dem Bett. Sie hatte die Nacht durchgearbeitet.

»Dann noch dieser Hugo Nestor, Sie haben mich ja gebeten, ihn zu finden …«, fuhr sie fort.

»Ja?«

»Er ist nicht zu Hause, geht nicht ans Telefon und ist auch nicht in seinem Büro, aber das kann ja auch alles getürkt sein. Das Einzige, was ich bis jetzt habe, ist, dass einer der Spitzel Nestor gestern Abend im Vermont gesehen haben will.«

»Hm. Finden Sie, ich habe einen schlechten Atem, Kommissar Adel?«

»Nicht dass ich wüsste, aber wir haben ja auch nicht gerade …«

»Dann soll ich das nicht als Wink mit dem Zaunpfahl auffassen?«

Simon hielt drei Zahnbürsten hoch.

»Die sehen gebraucht aus«, sagte Kari. »Von wem haben Sie die?«

»Gute Frage«, sagte Simon, sah in den Umschlag und fischte einen Zettel mit dem Logo des Radisson Hotels heraus. Ein Absender fehlte. Auf dem Blatt war nur eine kurze handschrift­liche Notiz:

Überprüfen Sie die DNA. S.

Er reichte Kari das Blatt und die Zahnbürsten.

»Irgendein Verrückter«, sagte Kari. »Die haben in der Rechtsmedizin schon genug mit den Morden zu tun, da müssen die nicht auch noch …«

»Bringen Sie die hin«, sagte Simon.

»Was?«

»Die sind von ihm.«

»Wem?«

»S. Das ist Sonny.«

»Woher wissen Sie das …?«

»Lassen Sie das vorrangig behandeln.«

Kari sah ihn an. Simons Telefon klingelte.

»In Ordnung«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.

Sie war gerade am Aufzug angekommen, als Simon neben sie trat. Er hatte sich den Mantel angezogen.

»Aber erst fahren wir noch woandershin«, sagte er.

»Aha?«

»Das war Åsmund Bjørnstad. Es gibt schon wieder eine Leiche.«

Das hohle Flöten eines Raufußhuhns schallte aus dem Wald zu ihnen herüber.

Åsmund Bjørnstad hatte seine Arroganz vollständig abgelegt. Er war blass. Schon am Telefon hatte er Klartext geredet: »Wir brauchen Hilfe, Kefas.«

Simon stand mit Kari neben dem Beamten des Kriminalamts und sah durch das Zwingergitter auf die Reste der Leiche, die anhand einiger Kreditkarten inzwischen als Hugo Nestor identi­fiziert worden war. Gewissheit würden sie allerdings erst haben, wenn die Zähne mit den Röntgenbildern früherer Zahnarztuntersuchungen abgeglichen worden waren. Dass der Tote zum Zahnarzt gegangen war, verrieten Simon die Füllungen in dem freigelegten Kiefer. Die beiden Polizisten der Hundepatrouille hatten die Argentinischen Doggen weggebracht und eine ein­fache Erklärung für den Zustand der Leiche: »Die Hunde waren hungrig. Die sind nicht ausreichend gefüttert worden.«

»Nestor war der Chef von Kalle Farrisen«, sagte Simon.

»Ich weiß«, stöhnte Bjørnstad. »Hier ist die Hölle los, wenn die Presse davon Wind bekommt.«

»Wie haben Sie Lae gefunden?«

»Auf dem Hof waren zwei Streifenwagen. Sie haben nach einem Telefon gesucht«, sagte Bjørnstad.

»Ja, die habe ich rausgeschickt«, sagte Kari. »Jemand hatte uns eine SMS geschickt.«

»Zuerst haben sie Laes Handy gefunden«, sagte Bjørnstad. »Es lag oben auf dem Tor, als hätte man es da hingelegt, damit es gefunden wird. Dann haben sie das Haus durchsucht, Lae aber nicht gefunden. Als sie schon wieder fahren wollte, hat einer der Hunde angeschlagen und wollte in den Wald. Und da haben sie … das hier gefunden.« Er breitete die Arme aus.

»Lae?«, fragte Simon und nickte in Richtung des zitternden Mannes, der in eine Decke gehüllt hinter ihnen auf einem Baumstumpf saß.

»Er sagt, der Täter habe ihn mit einer Pistole bedroht, ihn hier eingeschlossen und ihm Portemonnaie und Handy abgenommen. Lae war anderthalb Tage eingesperrt. Er hat alles mit angesehen.«

»Und was sagt er?«

»Der ist wirklich fertig, er hat eine umfassende Aussage gemacht. Dass Nestor sein Kunde war und er ihm verbotene Hunde verkauft hat. Aber den Täter konnte er nicht richtig beschreiben. Es ist ja bekannt, dass Zeugen sich nicht an die Gesichter von Menschen erinnern können, die sie bedroht haben.«

»Oh doch, sie erinnern sich«, sagte Simon. »Und zwar für den Rest ihres Lebens. Aber sie sehen sie nicht so, wie wir anderen sie sehen. Deshalb sind die Beschreibungen falsch. Warten Sie hier.«

Simon ging zu dem Mann hinüber und setzte sich neben ihn auf einen Baumstumpf.

»Wie hat er ausgesehen?«, fragte Simon.

»Ich habe Ihnen doch schon eine Beschreibung gegeben …«

»Kann es dieser Mann gewesen sein?«, fragte Simon, zog ein Bild aus der Jackeninnentasche und zeigte es ihm. »Versuchen Sie, ihn sich ohne Bart und lange Haare vorzustellen.«

Der Mann sah sich das Bild lange an. Dann nickte er langsam. »Der Blick. Er hatte diesen Blick. Der wirkte so unschuldig.«

»Sicher?«

»Ganz sicher.«

»Danke!«

»Und er hat sich die ganze Zeit über bedankt, und als die Hunde Nestor angefallen haben, hat er geweint.«

Simon steckte das Bild wieder in seine Tasche. »Eine letzte Frage. Sie haben der Polizei gesagt, dass er Sie mit einer Pistole bedroht hat. In welcher Hand hielt er die Pistole?«

Der Mann blinzelte zweimal, als hätte er über diese Frage noch nie nachgedacht. »In der linken. Der war Linkshänder.«

Simon stand auf und ging zu Bjørnstad und Kari. »Es war Sonny Lofthus.«

»Wer?«, fragte Åsmund Bjørnstad.

Simon sah den Kommissar lange an. »Haben Sie nicht den Delta-Einsatz im Ila durchgeführt?«

Bjørnstad schüttelte den Kopf.

»Egal«, sagte Simon und nahm die Fotografie aus der Tasche. »Wir müssen eine Fahndung rausgeben, damit die Bevölkerung uns helfen kann. Die Nachrichtenredaktionen von NRK und TV2 brauchen dieses Foto.«

»Ich bezweifle, dass ihn jemand anhand dieses Fotos wiedererkennt.«

»Dann sollten sie ihm mit Hilfe von Photoshop die Haare schneiden und den Bart abrasieren, was weiß ich. Wie schnell kann das gehen?«

»Sie werden sich gleich darum kümmern, bestimmt«, sagte Bjørnstad.

»Wenn es noch in die Morgensendungen soll, muss es in einer Viertelstunde da sein«, sagte Kari, nahm das Handy und aktivierte die Kamerafunktion.

»Halten Sie das Bild hoch und wackeln Sie nicht. Wen kennen Sie bei NRK? Wem soll ich das schicken?«

Morgan Askøy knibbelte vorsichtig an einem trockenen Wundrand auf seinem Handrücken, doch dann bremste der Bus ganz plötzlich, so dass Morgan den Schorf abriss und ein kleiner Tropfen Blut hervorquoll. Er sah schnell weg, er konnte kein Blut sehen.

Morgan stieg am Staten aus, wo er jetzt seit zwei Monaten arbeitete. Er folgte einer Gruppe anderer Gefängnisangestellter, als ein Mann in Wärteruniform zu ihm aufschloss.

»Guten Morgen.«

»Guten Morgen«, antwortete Morgan automatisch, sah ihn an, wusste aber nicht, wo er ihn hintun sollte. Trotzdem gingen sie weiter nebeneinanderher, als würden sie sich kennen. Vielleicht suchte er auch nur Kontakt.

»Sie sind nicht in der A-Abteilung«, sagte der Mann. »Oder sind Sie neu?«

»Ich bin in der B«, sagte Morgan, »seit zwei Monaten.«

»Ach so.«

Der Mann war jünger als die meisten anderen Uniformträger. Eigentlich gingen nur ältere Semester in Uniform nach Hause, als wären sie stolz darauf. Wie auch ihr Chef, Franck. Morgan wäre sich mit Uniform im Bus wie ein Idiot vorgekommen. Sicher hätten ihn dann alle angestarrt, und vielleicht wäre er sogar gefragt worden, wo er denn arbeitete. Im Staten. Im Gefängnis. Scheiße. Er warf einen Blick auf die Ausweiskarte des Mannes in Uniform. Sørensen.

Sie gingen Seite an Seite am Wachhäuschen vorbei, und Morgan nickte dem Personal zu.

Als sie sich dem Eingang näherten, nahm der Mann ein Handy aus der Tasche und blieb etwas zurück, vielleicht wollte er eine SMS schicken.

Die Tür war vor ihnen ins Schloss gefallen, so dass Morgan seinen Schlüssel herausholen musste. Er schloss auf. »Danke«, sagte Sørensen und schlüpfte vor ihm durch die Tür. Morgan folgte ihm und bog in Richtung Umkleide ab, während der Mann zusammen mit den anderen in die Schleuse ging.

Betty zog sich die Schuhe aus und ließ sich ins Bett fallen. Was für eine Nachtschicht! Sie war total fertig, war sich jedoch sicher, dass sie vermutlich trotzdem nicht gleich einschlafen würde. Versuchen musste sie es aber trotzdem. Und sollte es ihr gelingen, musste sie vorher die Schuldgefühle loswerden, dass sie der Polizei nicht gesagt hatte, was in Suite 4 vorgefallen war. Gemeinsam mit dem Sicherheitsassistenten hatte Betty überprüft, dass nichts kaputt oder gestohlen war. Dann räumte sie etwas auf und fand im Mülleimer eine benutzte Einmalspritze, als sie die halbe Zitrone wegwerfen wollte. Irgendwie brachte ihr Kopf gleich die seltsame Farbe der Zitrone mit der Spritze in Verbindung, und als Betty mit den Fingern über die Schale der Zitrone strich, entdeckte sie mehrere kleine Löcher. Sie drückte sich aus der Zitrone einen Tropfen in die Hand. Der Saft war trüb, als enthielte er Kalk. Sie probierte ihn sogar, ganz vorsichtig und nur mit der Zungenspitze, und schmeckte neben der Zitrussäure etwas Bitteres, Medizinartiges heraus. Sie musste einen Entschluss fassen. Gab es irgendeine Vorschrift, die besagte, dass Gäste keine komisch schmeckenden Zitronen auf ihrem Zimmer haben durften? Oder Einmalspritzen? Vielleicht litten sie ja an Diabetes oder anderen Krankheiten? Oder dass sie mit Besuchern auf ­ihren Zimmern keine seltsamen Spielchen spielen durften? Schließlich hatte sie den Inhalt des Mülleimers mit nach unten zur Rezeption genommen, ihn weggeworfen und dann einen kurzen, etwas abgeschwächten Bericht über den Lärm aus Suite 4 und den an das Klo gefesselten Mann geschrieben. Was hätte sie darüber hinaus noch tun sollen?

Sie schaltete den Fernseher ein, der an der Wand hing, und zog sich aus. Dann ging sie ins Bad, schminkte sich ab und putzte sich die Zähne. Sie hörte das gleichmäßige Stimmengemurmel des Nachrichtensenders von TV2. Sie schlief einfach besser ein, wenn der Fernseher leise lief. Vielleicht weil die feste Stimme des Nachrichtensprechers sie an ihren Vater erinnerte und mit ihrer Kraft und Stärke auch den Untergang der Welt verkünden konnte, ohne dass man sich dadurch weniger sicher fühlte. Doch das alleine reichte nicht. Seit kurzem nahm sie auch Schlaftabletten. Zwar nur leichte, aber trotzdem, der Hausarzt hatte ihr geraten, sich von den Nachtschichten befreien zu lassen, um zu sehen, ob das half. Man kam auf der Karriereleiter nur nicht weiter nach oben, wenn man den Weg des geringsten Widerstands ging. Sie musste ihre Aufgaben meistern. Durch das Rauschen des Wassers beim Zähneputzen hörte sie, dass die Polizei eine Person wegen eines Mordes in einem Hundezwinger suchte und dass diese Person auch etwas mit dem Mord an Agnete Iversen und dem Dreifachmord in Gamlebyen zu tun haben konnte.

Betty spülte sich den Mund aus, drehte das Wasser ab und ging ins Schlafzimmer. Auf der Türschwelle erstarrte sie, als sie im Fernsehen das Foto eines Mannes sah.

Es war ihr Gast.

Er trug einen Bart und lange Haare, aber Betty war trainiert darin, ein Gesicht auszuziehen und zu demaskieren und im Kopf mit der Datenbank abzugleichen, die das Plaza und andere internationale Hotels zum Thema notorische Hotelbetrüger führten, die früher oder später an der Rezeption auftauchen konnten. Er war es, sie hatte gesehen, wie der Mann eincheckte, da noch ohne Brille und mit Augenbrauen.

Sie starrte auf das Telefon, das sie auf das Nachtschränkchen gelegt hatte.

Aufmerksam, aber diskret. Die Interessen des Hotels sollten immer im Vordergrund stehen. Sie konnte es weit bringen.

Sie kniff die Augen zusammen.

Ihre Mutter hatte recht. Diese verfluchten Nachrichten.

Arild Franck stand am Fenster, sah die Beamten der Nachtschicht durchs Tor gehen und merkte sich diejenigen, die zu spät zur Schicht kamen. Er ärgerte sich über Menschen, die ihre Arbeit nicht anständig machten. Wie die Leute von Kripos oder vom Morddezernat. Wenn er nur an den Einsatz im Ila dachte, bei dem sie alle Informationen gehabt hatten und Lofthus ihnen trotzdem entwischt war, könnte er platzen. Das ging gar nicht. Und jetzt hatten sie den Preis dafür zahlen müssen. Hugo Nestor war in der letzten Nacht ermordet worden. In einem Hundezwinger. Es war wirklich nicht zu glauben, dass ein Mann, ein Drogenabhängiger, so viel zerstören konnte. Es war der gute Bürger in Franck, der sich über ihre Unfähigkeit aufregte, ja manchmal regte er sich insgeheim sogar darüber auf, dass sie ihn, den korrupten Gefängnisleiter, noch nicht entlarvt hatten. Denn sie ahnten etwas, das hatte er an Simon Kefas’ Blick gesehen. Aber Kefas war viel zu feige und hatte selbst viel zu viel zu verlieren, um zuzuschlagen. Dieser Mann war nur dann mutig, wenn das, was im Pott lag, tot war. Geld. Das verdammte Geld. Was hatte er geglaubt? Dass er sich damit eine Büste erkaufen konnte, einen Namen, dass er als guter Bürger in Erinnerung blieb? War man erst mal in dem Strudel aus Geld gefangen, war es wie mit Heroin, dann zählten nur noch die Zahlen auf dem Bankkonto, dann gab es kein sinnvolles Ziel mehr. Genau wie ein Junkie wusste und verstand man das ganz genau, konnte aber trotzdem nichts dagegen tun.

»Ein Wachmann namens Sørensen will Sie sprechen«, sagte die Sekretärin durch die Gegensprechanlage.

»Nicht …«

»Er ist direkt an mir vorbeigegangen. Meinte, es würde nur eine Minute dauern.«

»Na dann«, sagte Franck. Sørensen. Wollte er sich etwa wieder gesundmelden? Sollte dem so sein, wäre das für einen norwegischen Arbeitnehmer ganz ungewöhnlich. Hinter Arild Franck ging die Tür auf.

»Nun, Sørensen?«, sagte er laut, ohne sich umzudrehen. »Vergessen anzuklopfen?«

»Setzen Sie sich.«

Franck hörte, dass das Schloss verriegelt wurde, und drehte sich überrascht zu der Stimme um. Er hielt inne, als er die Pistole sah.

»Ein Mucks, und ich schieße Ihnen direkt in die Stirn.«

Eine Pistole hat eine seltsame Eigenschaft. Wird sie auf jemanden gerichtet, blickt der Betreffende häufig derart fokussiert auf die Waffe, dass es eine ganze Weile dauert, bis er die Person, die ihn bedroht, erkennt. Erst als der junge Mann ihm mit dem Fuß einen Stuhl herüberschob, sah Franck, wen er vor sich hatte. Er war zurückgekommen.

»Sie haben sich verändert«, sagte Franck heiser. Er hatte autoritärer klingen wollen, aber sein Hals war so trocken, dass kaum ein hörbarer Laut herauskam.

Die Pistole wurde etwas angehoben, und Franck setzte sich ­sofort hin.

»Legen Sie die Arme auf die Lehne«, sagte der junge Mann. »Ich drücke jetzt auf den Knopf der Gegensprechanlage, und Sie sagen Ina, dass Sie uns beim Bäcker ein paar Teilchen holen soll. Und zwar sofort.«

Der Mann drückte den Knopf.

»Ja?«, war die Stimme der Sekretärin zu hören.

»Ina …« Francks Hirn suchte verzweifelt nach Alternativen.

»Ja?«

»Kannst …«, Franck hielt schlagartig inne, als er sah, wie der Mann den Finger am Abzug langsam krümmte, »… kannst du zum Bäcker gehen und uns frische Teilchen kaufen? Bitte jetzt gleich?«

»Wenn Sie das wollen.«

»Danke, Ina.«

Der Mann ließ den Knopf los, nahm eine Rolle weißes Klebeband aus seiner Jackentasche, ging um den Stuhl herum und klebte Francks Unterarme an die Lehnen. Danach zog er das Klebeband um die Brust und die Rückenlehne sowie um die Knöchel und das stählerne Fußkreuz des Stuhls. Ein merkwürdiger Gedanke überkam Franck: Er hätte mehr Angst haben sollen. Der Mann hatte Agnete Iversen getötet. Kalle. Sylvester. Hugo Nestor. War ihm nicht klar, dass er, Franck, nun selbst an der Reihe war? Vielleicht wollte sein Hirn das einfach deshalb nicht begreifen, weil er sich am helllichten Tag in seinem eigenen, sicheren Büro im Staten befand. Oder weil er den Jungen in seinem eigenen Gefängnis hatte groß werden sehen, ohne dass der auch nur ein einziges Mal zu Gewalt geneigt hätte – sah man einmal von dem einen Vorfall mit Halden ab.

Der junge Mann durchwühlte Francks Taschen und nahm das Portemonnaie und die Autoschlüssel heraus.

»Porsche Cayenne«, las er laut, einen Blick auf den Schlüssel werfend. »Ein teures Auto für einen Beamten, nicht wahr?«

»Was wollen Sie?«

»Ich will Antworten auf drei einfache Fragen. Beantworten Sie alle drei wahrheitsgemäß, lasse ich Sie leben. Tun Sie das nicht, bin ich leider gezwungen, Sie zu töten.« Er klang beinahe bedauernd.

»Die erste Frage lautet: Auf welches Konto hat Nestor das Geld überwiesen, wenn er bezahlt hat, und auf welchen Namen ist dieses Konto eingetragen?«

Franck dachte nach. Niemand wusste von dem Konto. Er könnte also irgendetwas Unüberprüfbares aus dem Hut zaubern. Franck öffnete den Mund, aber der Mann kam ihm zuvor:

»An Ihrer Stelle würde ich gut nachdenken, bevor ich antworte.«

Franck starrte auf die Mündung der Waffe. Wie meinte er das? Niemand konnte bestätigen oder bestreiten, welches sein Konto war. Außer Nestor natürlich, von dem er sein Geld erhalten hatte. Franck blinzelte. Hatte der Mann Nestor über das Konto ausgequetscht, bevor er ihn umgebracht hatte? War das ein Test?

»Das Konto läuft auf den Namen einer Gesellschaft«, sagte Franck. »Dennis Limited, registriert auf den Cayman Islands.«

»Und die Kontonummer?« Der Junge hielt etwas in die Höhe, das wie eine vergilbte Visitenkarte aussah. Hatte er sich die Nummer aufgeschrieben, die er von Nestor bekommen hatte? Oder war das ein Bluff? Auch wenn er ihm die Kontonummer gab, Geld konnte er ja trotzdem nicht abheben.

Franck begann mit den Zahlen.

»Langsamer«, sagte der Mann und warf einen Blick auf die Karte. »Und deutlicher.«

Franck gehorchte.

»Dann bleiben nur noch zwei Fragen«, sagte der Mann, als Franck fertig war. »Wer hat meinen Vater getötet? Und wer war der Maulwurf, der dem Zwilling geholfen hat?«

Arild Franck blinzelte. Sein Körper hatte mittlerweile verstanden und sonderte aus jeder Pore Schweiß ab. Die Angst war angekommen. Auch wegen des Messers. Des kleinen, hässlichen, krummen Dings von Nestor.

Er schrie.

»Okay, das verstehe ich«, sagte Simon, als er sein Handy in die Jackentasche gleiten ließ und aus dem Tunnel in das Licht über Bjørvika und dem Oslofjord fuhr.

»Was verstehen Sie?«, fragte Kari.

»Eine der Rezeptionistinnen von der Nachtschicht im Plaza hat gerade bei der Polizei angerufen und ausgesagt, dass die gesuchte Person dort heute Nacht in einer Suite abgestiegen ist. Unter dem Namen Fidel Lae. Und dass eine andere Person, ein Mann, nach einer Beschwerde des Nachbarn in der Suite gefunden wurde. Er war an die Kloschüssel gefesselt. Der ist aber gegangen, nachdem sie ihn losgebunden hatten. Das Hotel hat die Überwachungskameras am Eingang überprüft, und die zeigen Lofthus, wie er gemeinsam mit Nestor und dem Mann, der später im Zimmer gefunden worden ist, das Hotel betritt.«

»Sie haben noch immer nicht gesagt, was Sie verstanden haben.«

»Ach so. Wie die drei in der Enerhauggata wissen konnten, dass wir sie hochnehmen wollten. Laut dem Protokoll der Re­zeptionistin hat der gefesselte Mann das Plaza verlassen, als wir noch vor dem Haus im Auto warteten. Vielleicht hat er rumtelefoniert und allen gesagt, dass Nestor verschleppt worden ist. Vielleicht haben sie daraufhin alle gefährdeten Positionen geräumt, sollte Nestor etwas verraten. Schließlich wussten sie ja, was mit Kalle passiert war. Und als sie mit den Mädchen wegfahren wollten, waren wir bereits da. Das ist ihnen nicht entgangen. Also haben sie darauf gesetzt, dass wir wieder verschwinden. Oder beide ins Haus gehen, damit sie unbemerkt wegfahren können.«

»Sie haben sich ziemlich viele Gedanken darüber gemacht, wie die wissen konnten, dass wir kommen«, sagte Kari.

»Hm«, sagte Simon und fuhr vor das Präsidium. »Aber jetzt weiß ich es ja.«

»Sie wissen, was möglicherweise passiert ist«, korrigierte ihn Kari. »Erzählen Sie mir, woran Sie jetzt denken?«

Simon zuckte mit den Schultern. »Dass wir Lofthus finden müssen, bevor er noch mehr Chaos anrichtet.«

»Seltsamer Typ«, sagte Morgan Askøy zu seinem älteren Kollegen, als sie über den breiten Flur des Zellentraktes gingen. Alle Türen standen weit offen, bereit für die Morgeninspektion. »Ein gewisser Sørensen. Ist einfach zu mir gekommen.«

»Da musst du dich irren«, sagte der Kollege. »Es gibt nur einen Sørensen in der A, und der ist krankgeschrieben.«

»Doch, der war das. Ich habe die Ausweiskarte mit seinem Namen auf der Uniform gelesen.«

»Ich habe erst vor ein paar Tagen mit Sørensen geredet, da war er gerade erst wieder in die Klinik gekommen.«

»Der ist dann aber schnell wieder fit geworden.«

»Merkwürdig, und der ist in Uniform gekommen, sagst du? Das war nicht Sørensen, der hasst Uniformen, der hat die immer in seinem Spind in der Garderobe gelassen. Dort hat Lofthus sie ja geklaut.«

»Der Ausbrecher?«

»Ja. Wie gefällt’s dir eigentlich hier bei uns?«

»Super.«

»Gut. Sieh aber zu, dass du deine freien Tage nutzt, und arbeite ja nicht zu viel.«

Sie gingen ein paar Schritte weiter, bis sie beide plötzlich ­stehen blieben und sich mit weit aufgerissenen Augen anblickten.

»Wie sah der Typ aus?«, fragte der Kollege.

»Wie sieht Lofthus aus?«, fragte Morgan.

Franck atmete durch die Nase. Sein Schrei war von der Hand des Mannes erstickt worden. Er hatte sie ihm auf den Mund gelegt, dann einen Schuh abgestreift und eine Socke ausgezogen. Die hatte er Franck in den Mund gedrückt und ihm Klebeband über die Lippen gezogen.

Jetzt schnitt der Mann etwas von dem Klebeband an der rechten Lehne ab, so dass Franck die Finger um den Stift legen und an das Blatt kommen konnte, das am äußersten Rand des Schreibtisches lag.

»Antworte.«

Franck schrieb:

Weiß nicht.

Dann ließ er den Stift fallen.

Er hörte das Knistern des Klebebands, als ein weiterer Streifen abgerissen wurde, und roch den Leim und die Lösungsmittel, ehe sich das Tape über seine Nasenlöcher legte und ihm die Luft abschnitt. Franck spürte, wie sein Körper am Stuhl zerrte und ruckte, als wäre er außer Kontrolle geraten. Rüttelte und riss. Er tanzte diesem Teufel etwas vor! Der Druck in seinem Kopf stieg bis ins Unermessliche, und er bereitete sich auf den Tod vor, als der Mann das spitze Ende des Stifts durch das straff gespannte Tape auf seinen Nasenlöchern stieß.

Ein Loch bohrte. Das linke Nasenloch saugte Luft ein, während die ersten warmen Tränen über Francks Wangen liefen.

Der Mann reichte ihm zum zweiten Mal den Stift. Franck konzentrierte sich:

Gnade. Würde den Namen des Maulwurfs aufschreiben, wenn ich ihn wüsste.

Der Mann las. Schloss die Augen und schnitt eine Grimasse, als hätte er Schmerzen. Dann riss er einen neuen Klebestreifen ab.

Das Telefon auf dem Tisch klingelte, und Franck starrte voller Hoffnung auf die interne Nummer, die auf dem Display aufleuchtete. Goldsrud, der Chef vom Wachdienst. Aber der Mann kümmerte sich nicht darum, sondern klebte Franck wieder die Nase zu. Der stellvertretende Gefängnisleiter spürte, wie das Zittern begann, das seine Panik begleitete. Es war so stark, dass er sich nicht sicher war, ob er zitterte oder lachte.

»Der Chef geht nicht dran«, sagte Geir Goldsrud und legte auf. »Und Ina ist nicht im Büro, sonst geht immer sie ans Telefon, wenn er nicht da ist. Aber bevor wir den Chef suchen, gehen wir das noch einmal durch. Du hast gesagt, dass der Typ, der sich Sørensen nannte, so aussah wie …«

Der Leiter des Wachdienstes zeigte auf den PC-Bildschirm, auf dem ein Foto von Sonny Lofthus abgebildet war.

»Der sieht nicht nur so aus …, er ist es!«, rief Morgan. »Wirklich, hundert Prozent.«

»Immer mit der Ruhe«, sagte Goldsrud.

»Ruhe, du hast gut reden«, schnaubte Morgan. »Der Typ wird wegen sechsfachen Mordes gesucht.«

»Ich rufe Ina auf ihrem Handy an. Wenn sie nicht weiß, wo der Chef ist, starten wir hier drin eine Suchaktion. Aber ich will keine Panik, verstanden?«

Morgan sah zu seinem Kollegen und dann wieder zum Leiter des Wachdienstes. Sie schienen mehr zu Panik zu neigen als er. Er war nur aufgeregt. Verdammt aufgeregt! Schließlich brach nicht jeden Tag ein Ausbrecher ins Gefängnis ein!

»Ina?«, Goldsrud schrie fast ins Telefon, und Morgan sah die Erleichterung auf seinem Gesicht. Es war einfach, dem Leiter des Wachdienstes Vorwürfe zu machen, dass er keine Verantwortung übernahm, andererseits musste es die Hölle sein, direkt dem stellvertretenden Gefängnisdirektor unterstellt zu sein. »Wir müssen Franck erreichen, sofort! Wo ist er?«

Morgan sah, dass die Erleichterung erst Verblüffung und dann blankem Entsetzen wich. Der Wachdienstleiter unterbrach die Verbindung.

»Was …?«, wollte der ältere Kollege wissen.

»Sie hat gesagt, er habe Besuch bekommen«, sagte Goldsrud, stand auf und trat an den Schrank ganz hinten im Raum. »Von einem Sørensen.«

»Und was tun wir jetzt?«, fragte Morgan.

Geir steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum und öffnete. »Das hier«, sagte er.

Morgan zählte zwölf Gewehre.

»Dan und Harald, ihr kommt mit!«, rief Goldsrud, und Morgan hörte in ihren Stimmen weder Verblüffung noch Entsetzen oder mangelnde Verantwortungsbereitschaft. »Jetzt!«

Simon und Kari standen vor dem Aufzug im Atrium des Polizeipräsidiums, als Simons Handy klingelte.

Der Anruf kam von der Rechtsmedizin.

»Wir haben vorläufige DNA-Analysen von deinen Zahnbürsten.«

»Gut«, sagte Simon. »Und?«

»Wir haben derzeit eine fünfundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit.«

»Wofür?«, fragte Simon, als sich die Fahrstuhltüren öffneten.

»Dafür, dass wir für den Speichel an zwei Zahnbürsten einen Treffer in unserer Datenbank haben. Interessant ist nur, dass das kein Krimineller oder Polizist, sondern ein Opfer ist. Genauer gesagt, sieht es so aus, als wären diejenigen, die diese Zahnbürsten benutzt haben, eng mit diesem Mordopfer verwandt.«

»Damit habe ich gerechnet«, sagte Simon und trat in den Fahrstuhl. »Das sind nämlich die Zahnbürsten der Familie Iversen. Ich habe gesehen, dass in Iversens Bad nach dem Mord die Zahnbürsten fehlten. Der Treffer ist Agnete Iversen, nicht wahr?«

Kari sah rasch zu Simon, der triumphierend die Arme ausbreitete.

»Nein«, antwortete die Stimme aus der Rechtsmedizin. »Agnete Iversen ist noch gar nicht in unserem zentralen DNA-Register eingetragen.«

»Oh? Und wie … wer?«

»Es handelt sich um ein unbekanntes Mordopfer.«

»Ihr habt eine Verbindung zwischen zwei von drei Zahnbürsten und einem unbekannten Mordopfer gefunden? Unbekannt wie …?«

»Wie nicht identifiziert, ja. Ein sehr, sehr junges und sehr totes Mädchen.«

»Wie jung?«, fragte Simon und starrte auf die sich schließenden Aufzugtüren.

»Jünger, als sie sonst sind.«

»Jetzt red schon.«

»Vermutlich vier Monate.«

Simons Hirn arbeitete auf Hochtouren. »Eine zu späte Abtreibung von Agnete Iversen?«

»Nein.«

»Nicht? Mann, wer ist das … verflucht!« Simon schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen die Wand.

»Verbindung unterbrochen?«, fragte Kari.

Simon nickte.

»Wir sind ja gleich wieder draußen«, sagte sie.

Der Mann machte mit dem Stift zwei kurze Schnitte in das Tape. Einen unter jedem Nasenloch. Und Arild Franck sog neue Lebenssekunden in seine Lunge. Er wollte jetzt nur noch leben. Und sein Körper folgte einzig und allein diesem Willen.

»Willst du jetzt einen Namen aufschreiben?«, fragte der Mann leise.

Franck atmete hart, er wünschte sich, breitere Nasenlöcher zu haben, weitere Atemwege, um mehr von dieser wunderbaren Luft in sich aufnehmen zu können. Franck horchte auf Geräusche, in der Hoffnung, dass sie unterwegs waren, dass Rettung nahte, während er den Kopf schüttelte und mit der trockenen Zunge hinter der Socke und den Lippen hinter dem Tape signalisieren wollte, dass er keinen Namen nennen konnte und nicht wusste, wer der Maulwurf war. Er wollte einfach nur Gnade. Vergebung.

Er erstarrte, als der Mann wieder vor ihn trat und das Messer hob. Franck konnte sich nicht rühren, alles war festgeklebt. Alles … Das Messer kam. Nestors hässliches, krummes Messer. Er drückte den Kopf gegen die Lehne des Stuhls, spannte jeden Muskel an und schrie innerlich, als er das Blut aus seinem Körper spritzen sah.


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