Kapitel 24

Im Großraumbüro war es dämmrig. Jemand hatte beim Gehen das Licht ausgeschaltet, vermutlich im Glauben, der Letzte zu sein, und Simon hatte es nicht wieder angemacht. Die Sommerabende waren hell genug. Außerdem hatte er eine neue, von ­innen beleuchtete Tastatur. Allein ihre Etage im Präsidium brauchte rund eine viertel Million Kilowattstunden pro Jahr. Schafften sie es, den Verbrauch auf zweihunderttausend zu senken, hatten sie genug Geld für zwei weitere Einsatzfahrzeuge gespart.

Er surfte weiter durch die Homepage der Howell-Klinik. Die Bilder der Augenklinik sprachen für sich. Keine amerikanische Privatklinik, kein Fünfsternehotel, aufgetakelt mit lächelnden Patienten, Halleluja-Referenzen und Chirurgen, die wie eine Mischung aus Filmschauspielern und Flugzeugkapitänen aussahen. Diese Klinik präsentierte sich nur mit wenigen Bildern und nüchternen Informationen, die auf die Qualifikationen der Angestellten eingingen, die Resultate, die Publikationen und die Nominierung für den Nobelpreis. Das Wichtigste aber war der Prozentsatz erfolgreich durchgeführter Augenoperationen, und zwar genau des Typs von Operation, den Else brauchte. Die Zahl lag deutlich über fünfzig Prozent, war aber nicht so hoch, wie er gehofft hatte. Andererseits war die Zahl recht glaubhaft. Auf der Webseite standen keine Kosten. Aber die kannte er, und sie waren so hoch, dass auch sie recht glaubhaft wirkten.

Er bemerkte eine Bewegung im Dunkeln. Kari.

»Ich habe versucht, Sie zu Hause anzurufen. Ihre Frau hat mir gesagt, dass Sie hier sind.«

»Ja.«

»Warum arbeiten Sie noch so spät?«

Simon zuckte mit den Schultern. »Wenn man nicht mit guten Neuigkeiten nach Hause kommen kann, verschiebt man die Rückkehr schon mal.«

»Wie meinen Sie das?«

Simon winkte ab. »Um was geht’s denn?«

»Ich habe gemacht, was Sie gesagt haben, und jeden Stein umgedreht, bin jeder noch so kleinen Verbindung zwischen dem Iversen-Mord und dem Dreifachmord nachgegangen. Aber ich finde absolut nichts.«

»Sie schließen aber nicht aus, dass es einen Zusammenhang gibt?«, fragte Simon und hackte weiter auf die Tastatur ein.

Kari nahm einen Stuhl und setzte sich. »Fakt ist, dass ich keinen finde, obwohl ich gut gesucht habe. Und ich habe mir meine Gedanken gemacht …«

»Gedanken sind gut.«

»Vielleicht ist es ja bloß ein Räuber, der zwei gute Möglichkeiten gesehen hat: Iversens Haus und dieses Drogenbüro. Vielleicht hat er beim ersten Raub ja gelernt, dass man sein Opfer erst dazu bringen muss, den Code für den Safe rauszurücken, bevor man es tötet.«

Simon sah von seinem PC auf. »Ein Räuber, der schon zwei Menschen erschossen hat und dann ein halbes Kilo Superboy mit einem Straßenverkaufswert von einer halben Million Kronen vergeudet, nur um auch noch sein drittes Opfer zu töten?«

»Bjørnstad hielt es für eine Abrechnung zwischen rivalisierenden Banden, eine Art Nachricht an den Konkurrenten.«

»Diese Banden versenden Nachrichten, ohne dafür eine halbe Million Porto zu bezahlen, Frau Kommissar.«

Kari legte den Kopf in den Nacken und seufzte.

»Agnete Iversen hat jedenfalls nichts mit Drogenhandel oder Leuten wie Kalle Farrisen zu tun, ich glaube, davon können wir sicher ausgehen.«

»Aber es gibt einen Zusammenhang«, sagte Simon. »Ich verstehe wirklich nicht, dass wir den nicht finden können, wenn wir wissen, dass er alles getan hat, diesen Zusammenhang zu verbergen. Warum hat er sich solch eine Mühe gemacht, uns davon abzulenken, dass dieselbe Person hinter den Morden steht, wenn der Zusammenhang so gut versteckt ist?«

»Vielleicht macht er dieses Versteckspiel gar nicht für uns«, schlug Kari vor und gähnte.

Sie machte den Mund schnell wieder zu, als sie sah, dass Simon sie mit großen Augen anstarrte. »Natürlich, das ist es!«

»Was?«

Simon stand auf. Und setzte sich wieder. Dann schlug er mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Er hat nicht Angst, dass die Polizei ihm auf die Schliche kommen könnte. Er hat Angst vor anderen.«

»Davor, dass die ihn schnappen könnten?«

»Ja. Oder davor, dass sie gewarnt werden. Aber gleichzeitig …« Simon legte die Hand ans Kinn und fluchte lautlos.

»Was?«

»So einfach ist es nicht. Denn er versteckt sich ja nicht wirklich. So wie er Kalle umgebracht hat, hat er ja eine klare Botschaft gesendet.« Simon stieß sich ärgerlich vom Tisch ab, so dass sein Stuhl ein bisschen nach hinten kippte. Danach saßen sie still da, während das Dunkel um sie herum immer dichter wurde. Simon brach als Erster das Schweigen. »Ich muss immer daran denken, dass Kalle genau so ermordet wurde, wie er als Dealer andere umgebracht hat. Atemstillstand als Folge einer Überdosis. Als wäre der Mörder eine Art Racheengel. Klingelt da bei Ihnen irgendwas?«

Kari schüttelte den Kopf. »Nur dass Agnete Iversen sicher nicht nach dem gleichen Prinzip hingerichtet wurde, sie hat, soweit ich weiß, niemand in die Brust geschossen.«

Simon stand auf. Trat ans Fenster und starrte auf die hell erleuchtete Straße. Es ratterte, als zwei Jungs auf Longboards unten vorbeifuhren. Beide trugen Kapuzenpullis.

»Ach, das hatte ich vergessen«, sagte Kari. »Ich habe eine ganz andere Verbindung gefunden. Zwischen Per Vollan und Kalle Farrisen.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Ich habe mit einem der Informanten gesprochen, die ich im Drogendezernat hatte. Er findet es schon seltsam, dass zwei Leute, die sich so gut kannten, so kurz hintereinander gestorben sind.«

»Vollan kannte Farrisen?«

»Ja, sogar gut. Zu gut, meint meine Quelle. Und da ist noch was.«

»Lassen Sie hören.«

»Ich habe Kalles Akte überprüft. Er ist vor ein paar Jahren mehrmals zu einem Mordfall befragt worden und hat sogar in Untersuchungshaft gesessen. Das Opfer war eine Jane Doe.«

»Nicht identifiziert?«

»Wir wissen nur, dass es eine junge Asiatin war. Sie war erst sechzehn, das hat die Zahnanalyse ergeben. Ein Zeuge hat gesehen, dass ihr jemand in einem Hinterhof eine Spritze gesetzt hat. Und bei der Gegenüberstellung hat er Kalle erkannt.«

»Und dann?«

»Ja, aber Kalle kam frei, weil jemand anders die Tat gestanden hat.«

»Was für ein Glück für ihn.«

»Kann man sagen. Gestanden hat damals übrigens der Kerl, der jetzt aus dem Staten abgehauen ist.«

Kari musterte den Rücken vor sich, Simon stand regungslos am Fenster. Sie fragte sich, ob er sie gehört hatte, und wollte gerade ansetzen, es noch einmal zu sagen, als sie seine raue, sichere Großvaterstimme hörte:

»Kari?«

»Ja?«

»Ich will, dass Sie Agnete Iversen noch einmal gründlich überprüfen. Vielleicht gibt es in ihrem Umfeld ja doch einen Pistolenschuss. Irgendetwas, verstehen Sie?«

»Okay. An was denken Sie jetzt?«

»Ich denke …« Die Sicherheit war aus der Großvaterstimme verschwunden. »… dass, wenn … dann …«

»Dann was?«

»Dann ist das alles erst der Anfang.«


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