Kapitel 32

»Zwei«, flüsterte Goldsrud, der Leiter des Wachdienstes.

Die Männer standen mit schussbereiten Waffen da und lauschten auf die Stille hinter der Tür des stellvertretenden Gefängnisleiters.

Morgan holte tief Luft. Jetzt geschah es. Jetzt war er also endlich bei etwas dabei, wovon er seit seiner Kindheit geträumt hatte. Jemanden festnehmen, vielleicht sogar …

»Drei«, flüsterte Goldsrud.

Dann schwang er die Axt. Die Klinge traf das Türschloss, und die Splitter stoben in alle Richtungen, als Harald, der Größte von ihnen, sich gegen die Tür warf.

Morgan schob sich mit gezückter Waffe in den Raum und trat rasch zwei Schritte zur Seite, wie Goldsrud es ihm eingeschärft hatte. Es war nur eine Person im Raum. Morgan starrte auf den Mann auf dem Stuhl, von dessen Brust, Hals und Kinn das Blut troff. Unglaublich viel Blut! Morgan spürte, wie seine Knie weich wurden, als hätte ihm jemand etwas injiziert. Nein, das durfte jetzt nicht geschehen. Aber das Blut! Der Mann zitterte und zuckte, als gingen elektrische Stöße durch seinen Körper. Und seine Augen starrten sie an, panisch, hervorgequollen wie bei einem Tiefseefisch.

Geir machte zwei Schritte nach vorn und riss das Tape vom Mund des Mannes.

»Wo sind Sie verletzt, Chef?«

Der Mann öffnete weit den Mund, ohne dass ein Laut zu hören war. Goldsrud steckte ihm zwei Finger in den Rachen und zog eine schwarze Socke heraus. Speichel spritzte über die Lippen des Mannes, als er schrie, und Morgan erkannte die Stimme des stellvertretenden Gefängnisleiters, Arild Franck, wieder:

»Holt ihn euch! Lasst ihn nicht entkommen!«

»Wir müssen die Wunde finden und die Blutung …« Der Leiter des Wachdienstes wollte das Hemd seines Chefs aufreißen, aber Franck schrie weiter: »Schließt die Türen, verdammt, er entkommt euch! Er hat meine Autoschlüssel! Und meine Uniformmütze!«

»Immer mit der Ruhe, Chef«, sagte Goldsrud und schnitt das Klebeband an einer der Armlehnen durch. »Er ist eingeschlossen, an den Fingerabdrucksensoren kommt er nicht vorbei.«

Franck starrte ihn wütend an und hielt die befreite Hand hoch. »Doch, das kommt er!«

Morgan taumelte nach hinten und musste sich an die Wand lehnen. Obwohl er es versuchte, konnte er den Blick nicht von dem Blut losreißen, das aus der Hand des stellvertretenden Gefängnisleiters strömte, aus dem Stumpf des Zeigefingers.

Kari folgte Simon aus dem Fahrstuhl über den Flur zum Großraumbüro.

»Also«, sagte sie und versuchte die Information zu verdauen. »Sie haben diese Zahnbürsten in einem Umschlag zugeschickt bekommen, in dem sonst nur noch ein Zettel war, auf dem stand, dass Sie die DNA überprüfen lassen sollen, unterschrieben mit einem S?«

»Ja«, sagte Simon, der eine Nummer wählte.

»Und die DNA auf zwei der Zahnbürsten beweist die Verwandtschaft zu einem ungeborenen Kind? Das als Mordopfer regis­triert ist?«

Simon nickte, während er den Zeigefinger auf die Lippen legte, um ihr zu zeigen, dass er wieder Verbindung hatte. Er sprach laut und deutlich, damit sie beide alles hörten.

»Hier ist wieder Kefas. Wer war das Kind, wie starb es und in welchen verwandtschaftlichen Beziehungen stand es?«

Er hielt das Telefon zwischen sich und Kari, damit auch sie ­alles hörte:

»Wir wissen weder, wer das Kind war, noch, wer die Mutter ist. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass die Mutter an einer Überdosis im Zentrum von Oslo starb, vermutlich wurde sie ermordet. In der Akte ist sie als nicht identifiziert registriert.«

»Wir kennen den Fall«, sagte Simon und fluchte leise. »Asiatisch, vermutlich vietnamesisch. Traffickingopfer.«

»Das ist jetzt Ihre Sache, Kefas. Das Kind oder der Fötus starb als Folge des Todes der Mutter.«

»Verstehe. Und wer war der Vater?«

»Die rote Zahnbürste.«

»Die … rote?«

»Ja.«

»Danke«, sagte Simon und legte auf.

Kari ging zum Automaten, um für sie beide Kaffee zu holen. Als sie zurückkam, telefonierte Simon schon wieder. Diesmal aber so leise, dass sie annahm, er sprach mit Else. Als er auflegte, hatte er das Greisengesicht, das Menschen eines gewissen Alters manchmal für ein paar Sekunden bekommen, als wäre etwas zerbrochen, ja, als würden sie gleich in Staub verwandelt werden. Kari wollte nachfragen, beschloss dann aber, den Mund zu halten.

»Also …«, sagte Simon und versuchte mit aller Kraft, lustig zu klingen. »Wer ist der Vater des Kindes? Was glauben wir? Iver senior oder Iver junior?«

»Da gibt es nichts zu glauben«, sagte Kari. »Das wissen wir.«

Simon sah sie einen Moment lang überrascht an. Sie schüttelte langsam den Kopf. Dann kniff er die Augen fest zusammen, beugte sich vor und strich sich mit der Hand vom Hinterkopf bis über die Stirn, als wollte er sich die Haare glätten.

»Natürlich«, sagte er leise. »Zwei Zahnbürsten. Ich glaube, ich werde langsam alt.«

»Ich überprüfe, was wir über Iver haben«, sagte Kari.

Als sie gegangen war, schaltete Simon den PC ein und öffnete die Mailbox.

Er hatte eine Tondatei geschickt bekommen. Allem Anschein nach von einem Handy.

Sonst bekam er nie Tondateien.

Er öffnete sie und klickte auf Play.

Morgan wandte nicht die Augen von dem wütenden Gefängnisleiter, der mitten im Kontrollraum stand. Er hatte sich eine Mullbinde um den Fingerstumpf gewickelt, lehnte die Aufforderungen des Arztes, sich endlich hinzulegen, aber standhaft ab.

»Sie haben also die Schranke geöffnet und einen Mörder einfach fahren lassen!«, fauchte Franck.

»Er hat Ihren Wagen gefahren«, sagte der Wachmann und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Außerdem hatte er Ihre Uniformmütze auf.«

»Aber das war nicht ich!«, brüllte Franck.

Morgan wusste nicht, ob es wegen des hohen Blutdrucks war, aber die rote, ekelhafte Substanz war bereits durch die weiße Mullbinde gedrungen, so dass ihm wieder schwindelig wurde.

Eines der Telefone neben den Monitoren klingelte. Goldsrud nahm ab.

»Sie haben den Finger gefunden«, sagte er und drückte die Hand auf die Sprechmuschel. »Wir bringen Sie jetzt samt Finger in die Klinik, vielleicht können die …«

»Wo?«, fiel Franck ihm ins Wort. »Wo haben sie ihn gefunden?«

»Gut sichtbar auf dem Armaturenbrett Ihres Porsches. Er hat unten in Grønland in der zweiten Reihe geparkt.«

»Findet ihn! Findet ihn!«

Tor Jonasson streckte die Hand nach der Schlaufe aus, die von der Stange der Straßenbahn herabhing. Er murmelte »Entschuldigung«, als er in der morgendlich vollen Bahn gegen einen anderen müden Fahrgast stieß. Heute wollte er fünf Handys verkaufen. Das war sein Ziel. Und wenn er dann am Abend wieder in der Bahn stand – oder hoffentlich saß –, würde er wissen, ob er es geschafft hatte. Und das würde ihm dann … Freude bereiten. Hoffentlich.

Tor seufzte.

Er sah zu dem Uniformierten, der vor ihm stand und ihm den Rücken zuwandte. Aus seinen Ohrhörern kam Musik. Die Kabel führten zu einem Telefon, das auf der Rückseite den Firmenaufkleber von Tors Laden hatte. Tor stellte sich so, dass er den Mann von der Seite sah. Er erkannte ihn. Es war der Typ, der kürzlich Batterien für sein Steinzeitgerät kaufen wollte. Für diesen Discman. Tor hatte aus Neugier im Internet nachgeschaut. Diese Dinger waren bis 2000 produziert worden, danach hatte es nur noch MP3-Player gegeben. Tor stellte sich so dicht hinter ihn, dass er die Geräusche aus den Ohrhörern durch das Rumpeln der Bahn hören konnte. Nur in den quietschenden Kurven übertönten die Geräusche der Bahn die Musik. Eine dünne Frauenstimme war zu hören. Aber die Melodie kannte er:

»That you’ve always been her lover …« Leonard Cohen.

Simon starrte ratlos auf das Icon der Tondatei. Das Abspielen hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Schließlich klickte er noch einmal auf Play.

Es gab keinen Zweifel, es war wirklich die Stimme, die ihm gleich in den Sinn gekommen war. Nur verstand er nicht, was das sollte.

»Was sind das für Zahlen? Die Lottozahlen?«

Simon drehte sich um. Sissel Thou machte wieder ihre morgendliche Papierkorbrunde.

»So was in der Art«, sagte Simon und klickte auf Stop, als sie den Korb nahm, der unter seinem Schreibtisch stand, und ihn auskippte.

»Sie schmeißen nur Geld aus dem Fenster, Simon. Lotto ist nur etwas für Leute mit Glück.«

»Und wir haben keins?«, fragte Simon und starrte auf den Bildschirm.

»Gucken Sie sich unsere Erde doch an«, sagte sie.

Simon lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und rieb sich die Augen. »Sissel?«

»Ja?«

»Eine junge Frau wurde ermordet, und inzwischen hat sich her­ausgestellt, dass sie schwanger war. Und ich glaube jetzt, dass ihr Mörder nicht Angst vor ihr, sondern vor dem Kind hatte.«

»Wenn du das sagst.«

Stille.

»War das eine Frage, Simon?«

Simon legte den Kopf zurück. »Wenn du wüsstest, dass du den Sohn des Teufels in dir hättest, würdest du ihn trotzdem austragen wollen, Sissel?«

»Darüber haben wir doch schon einmal gesprochen, Simon.«

»Ja, ich weiß, aber was hast du geantwortet?«

Sie sah ihn mitleidig an: »Ich habe gesagt, dass die Natur den armen Müttern leider keine Wahl lässt, Simon. Und den Vätern auch nicht.«

»Ich dachte, Herr Thou wäre gleich abgehauen.«

»Ich rede von dir, Simon.«

Simon schloss die Augen und nickte langsam. »Dann sind wir also Sklaven der Liebe. Und wohin die Liebe fällt, ist wie Lotto. Meinst du das so?«

»Brutal, aber so ist es wirklich«, sagte Sissel.

»Und die Götter lachen nur«, sagte Simon.

»Schon, aber die Schweinerei hier unten müssen wir trotzdem aufräumen.«

Simon hörte, wie sich ihre Schritte entfernten. Dann schickte er die Tondatei vom PC auf sein Handy, nahm es mit auf die Toilette und spielte in einer der Kabinen die Aufnahme noch einmal ab.

Nach dem zweiten Mal wusste er, was es für Zahlen waren.


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