Schwarzpappeln

Es war die Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar, die Neujahrsnacht im zweiten Jahr. Wir wurden um Halbnacht vom Lautsprecher auf den Appellplatz befohlen. Flankiert von acht Wachsoldaten mit ihren Gewehren und Hunden trieb man uns die Lagerstraße entlang. Ein Lastauto fuhr hinterher. Im hohen Schnee an der Rückseite der Fabrik, wo das Brachland anfing, mussten wir uns vor dem gemauerten Zaun in Reihen aufstellen und warten. Wir dachten, das ist die Nacht der Erschießung.

Ich drängte mich in die vordere Reihe, dass ich unter den ersten bin, nicht vorher noch Leichen aufladen muss — denn das Lastauto wartete am Straßenrand. Schischtwanjonow und Tur Prikulitsch waren in die Kabine gekrochen, und der Motor lief, damit sie nicht frieren. Die Wachsoldaten gingen auf und ab. Die Hunde standen beisammen, der Frost drückte ihre Augen zu. Hie und da hoben sie die Pfoten, um nicht anzufrieren.

Da standen wir, vergreist im Gesicht, die Augenbrauen aus Rauhreif. Manchen Frauen bibberten die Lippen nicht nur vom Frieren, sie murmelten Gebete. Ich sagte mir, jetzt hat alles ein Ende. Der Abschied meiner Großmutter war: Ich weiß, du kommst wieder. Das war zwar auch in der Mitte der Nacht, aber in der Mitte der Welt. Jetzt haben sie zu Hause Silvester gefeiert, um Mitternacht vielleicht auf mich angestoßen, damit ich lebe. Hoffentlich haben sie die ersten Stunden im neuen Jahr an mich gedacht und sich dann ins warme Bett gelegt. Auf dem Nachtkästchen der Großmutter liegt schon ihr Ehering, den sie jeden Abend abstreift, weil er drückt. Und ich stehe und warte auf die Erschießung. Ich sah uns alle in einer riesengroßen Schachtel stehen. Ihr Himmeldeckel war schwarzlackiert von der Nacht und geschmückt mit scharf geschliffenen Sternen. Und der Boden der Schachtel war knietief ausgelegt mit Watte, damit wir ins Weiche fallen. Und die Wände der Schachtel waren drapiert mit steifem Eisbrokat, seidigem Fransengewirr und Spitzenstoff ohne Ende. Auf der Lagermauer drüben, zwischen den Wachtürmen, war der Schnee ein Katafalk. Darauf stand ein turmhohes Etagenbett in den Himmel, ein Etagensarg, in dem wir alle übereinander aufgebahrt Platz hatten wie in den Bettgestellen der Baracken. Über der obersten Etage lag der schwarzlackierte Deckel. In den Wachtürmen am Kopf- und Fußende des Katafalks hielten zwei Schwarzgekleidete aus der Ehrengarde Totenwache. Am Kopfende in Richtung Lagertor schimmerte das Bewachungslicht des Lagerhofs wie Kerzenleuchter. Am dunkleren Fußende stand die Krone des schneebedeckten Maulbeerbaums als prunkvolles Blumengebinde mit allen Namen auf zahllosen Papierschleifen. Schnee dämpft, dachte ich, das Schießen wird man kaum hören. Unsere Angehörigen schlafen angesäuselt, arglos und silvestermüd in der Mitte der Welt. Vielleicht träumen sie von unserem verwunschenen Begräbnis im neuen Jahr.

Ich wollte aus der Schachtel mit dem Etagensarg gar nicht mehr heraus. Wenn man seine Todesangst bezwingen will, ihr aber nicht entkommen kann, schaltet sie um auf Betörung. Auch die Eiseskälte, in der man sich nicht rühren darf, spinnt das Grausige mild. In der Trance des Erfrierens ergab ich mich dem Erschießen.

Aber dann warfen uns zwei eingemummte Russen vom Anhänger des Autos Schaufeln vor die Füße. Tur Prikulitsch und einer der Eingemummten legten zwischen die Dunkelheit und Schneehelle vier zusammengeknotete Stricke parallel zur Fabrikmauer. Der Kommandant Schischtwanjonow war in der Kabine im Sitzen eingeschlafen. Vielleicht war er betrunken. Er schlief mit dem Kinn auf der Brust wie ein Reisender, der am letzten Bahnhof im Zugabteil vergessen wird. Er schlief, solang wie wir schippten. Nein, wir schippten, solang er schlief, weil Tur Prikulitsch auf seine Anweisungen warten musste. Solang wir zwischen den Stricken für unsere Erschießung zwei Gänge schippten, schlief er. Ich weiß nicht wie lang, bis der Himmel grau wurde. Und solang wiederholte mir der Takt der Schaufel: Ich weiß, du kommst wieder. Ich war vom Schippen schon wieder ernüchtert und wollte lieber weiter für die Russen hungern, frieren und schuften, als erschossen werden. Ich gab der Großmutter recht: Ich komm wieder, widersprach aber dennoch mit: Ja aber weißt du, wie schwer das ist.

Dann stieg Schischtwanjonow aus der Kabine, rieb sich das Kinn und schüttelte die Beine, weil sie vielleicht noch schliefen. Er winkte die Eingemummten zu sich. Sie öffneten die Ladeklappe und schmissen Spitzhacken und Brechstangen herunter. Schischtwanjonow gestikulierte mit dem Zeigefinger, sprach ungewöhnlich kurz und leise. Er stieg wieder in die Kabine, und das leere Auto fuhr mit ihm davon.

Tur musste dem Gemurmel den Befehlston geben und schrie: Baumlöcher graben.

Wie Geschenke suchten wir die Werkzeuge im Schnee. Die Erde war knochenhart gefroren. Die Spitzhacken prallten ab, die Brechstangen tönten wie Eisen auf Eisen. Nussgroße Brocken spritzten uns ins Gesicht. Ich schwitzte im Frost und fror im Schwitzen. Ich zerfiel in eine Gluthälfte und eine Eishälfte. Der Oberkörper war ausgebrannt, beugte sich mechanisch und gluste aus Angst vor der Norm. Der Unterleib war ausgefroren, die Beine schoben sich totkalt in die Därme.

Nachmittags waren die Hände blutig, die Baumlöcher aber nicht tiefer als eine Hand. So blieben sie.

Erst im Spätfrühjahr wurden die Löcher fertiggegraben und zwei lange Baumreihen gepflanzt. Die Allee wuchs schnell. Diese Bäume gab es sonst nirgends, nicht in der Steppe, nicht im Russendorf und in keinem Ort der Umgebung. Die ganzen Jahre wusste niemand im Lager, wie die Bäume heißen. Je größer sie wurden, um so weißer wurden Astholz und Stämme. Nicht filigran und wachsweiß durchscheinend wie die Birken, sondern imposant im Wuchs und mit stumpfer Haut wie Gipspaste.

Als ich im ersten Sommer aus dem Lager daheim war, sah ich diese gipsweißen Lagerbäume im Erlenpark, alt und riesig. Im Baumlexikon von meinem Onkel Edwin stand: Der schnellwachsende Baum schießt bis zu 35 Meter in die Höhe. Standhaftigkeit bezeugt der Baum mit seinem Stamm, der 2 Meter dick werden und ein Lebensalter von 200 Jahren erreichen kann.

Mein Onkel Edwin ahnte nicht, wie richtig, besser gesagt treffend, die Beschreibung war, als er mir das Wort schießt vorlas. Er sagte: Dieser Baum ist anspruchslos und ausgesprochen schön. Aber majestätisch verlogen. Wieso nennt er sich SCHWARZPAPPEL mit seinem weißen Stamm.

Ich habe nicht widersprochen. Nur gedacht hab ich mir: Wenn man einmal unterm schwarzlackierten Himmel die halbe Nacht auf die Erschießung gewartet hat, ist der Name nicht mehr verlogen.

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