Fenja hatte nie eine Pufoaika-Jacke an, sondern einen weißen Arbeitskittel und darüber ihre gehäkelten Wolljacken, immer eine andere. Die eine war nussbraun, die andere schmutzlila, wie ungeschälte rote Rüben, eine war lehmgelb und eine weißgrau gesprenkelt. Jede hatte zu weite Ärmel und spannte über dem Bauch. Man wusste nie, welche Wolljacke für welchen Tag bestimmt ist und wozu Fenja sie überhaupt und noch dazu über den Kittel anzieht. Warmhalten konnten sie nicht, sie waren aus vielen Löchern und wenig Wolle. Vorkriegswolle, schon oft gestrickt und aufgezogen, die immer noch gut zum Häkeln war. Vielleicht die Wolle aller ausgedienten Jacken einer ganzen Großfamilie oder der geerbten Jacken aller Toten dieser Familie. Über Fenjas Familie wussten wir nichts, nicht einmal, ob sie vor oder nach dem Krieg eine hatte. An Fenja persönlich war keiner von uns interessiert. Aber jeder war ihr ergeben, weil sie das Brot verteilte. Sie war das Brot, die Herrin, der wir jeden Tag aus der Hand gefressen haben.
Unsere Augen hingen an ihr, als würde sie das Brot für uns erfinden. Unser Hunger beobachtete alles an Fenja sehr genau. Ihre Augenbrauen wie zwei Zahnbürsten, das Gesicht mit dem mächtigen Kinn, ihre zu kurzen Pferdelippen, die das Zahnfleisch nicht ganz bedeckten, die grauen Fingernägel mit dem großen Messer für die Feinabstimmung der Portionen, ihre Küchenwaage mit den zwei Schnäbeln. Vor allem ihre schweren Augen, leblos wie die Holzkugeln auf ihrem Abakus, den sie kaum benutzte. Dass Fenja abstoßend hässlich war, durfte man nicht einmal sich selbst eingestehen. Man hatte Angst, sie sieht, was man denkt.
Sobald sich die Schnäbel ihrer Waage auf und ab bewegten, folgte ich ihnen mit den Augen. Wie die Schnäbel zuckte mir im Mund die Zunge, ich biss die Zähne zusammen. Den Mund ließ ich offen, dass Fenja meine Zähne lächeln sieht. Man lächelte notgedrungen und grundsätzlich, echt und falsch in einem lächelte man, wehrlos und hinterhältig, um sich Fenjas Gunst nicht zu verscherzen. Um Fenjas Gerechtigkeit nicht zu riskieren, sondern aufzumuntern, wenn es geht, die Gerechtigkeit um ein paar Gramm zu erhöhen.
Es half nichts, Fenja blieb trotzdem missgelaunt. Und sie hatte einen viel zu kurzen rechten Fuß. Sie hinkte so stark zum Brotregal, dass wir sagten, sie lahmt. Der Fuß war so viel kürzer, dass er auch ihre Mundwinkel hinunterzog, den linken ständig, den rechten immer mal wieder. Und immer so, als käme die schlechte Laune von dem dunklen Brot, nicht von dem kurzen Fuß. Durch das Mundzucken kriegte besonders ihre rechte Gesichtshälfte etwas Gequältes.
Und da sie uns allen das Brot gab, waren ihr Lahmen und die Gequältheit in ihrem Gesicht für uns etwas Schicksalhaftes, wie der torkelige Gang der Geschichte. Fenja hatte etwas kommunistisch Heiliges. Sie war bestimmt eine treue Kaderfrau der Lagerleitung, eine Brotoffizierin, sonst hätte sie nie in den Rang einer Brotherrin und Komplizin des Hungerengels aufsteigen können.
Ganz allein stand sie in ihrer weißgekalkten Kammer mit dem großen Messer hinterm Schalter, zwischen Küchenwaage und Abakus. Sie musste Listen im Kopf haben. Sie wusste ganz genau, wer die 600-Gramm-, wer die 800-Gramm- und wer die 1000-Gramm-Ration zu bekommen hat.
Ich war der Hässlichkeit von Fenja erlegen. Mit der Zeit sah ich eine umgekrempelte Schönheit in ihr, die auf eine Verehrung hinauslief. Abscheu hätte mich hart gemacht und wäre vor den Schnäbeln der Waage riskant gewesen. Ich buckelte und kam mir dabei oft abstoßend vor, aber erst, nachdem ihr Brot mir geschmeckt hatte und ich halbwegs satt war für ein paar Minuten.
Heute glaube ich, Fenja verteilte alle drei Brotsorten, die ich damals kannte. Die erste Sorte war das siebenbürgische tägliche, seit eh und je im Schweiße seines Angesichts saure Brot vom evangelischen Herrgott. Die zweite war das braune Vollkornbrot von Hitlers goldenen Ähren aus dem deutschen Reich. Und die dritte war die Ration Chleb auf der russischen Waage. Und ich glaube, der Hungerengel wusste von dieser Dreifaltigkeit im Brot, und er nutzte sie.
Die Brotfabrik lieferte den ersten Transport im Morgengrauen. Wenn wir zwischen 6 und 7 Uhr in die Kantine kamen, hatte Fenja die Rationen schon fertig ausgewogen. Jedem von uns legte sie die Portion noch einmal auf die Waage, tarierte sie aus, tat noch ein Schnipsel drauf oder schnitt eine Ecke weg. Sie zeigte dann mit der Messerspitze auf die Schnäbel, hielt das Pferdekinn schief mit einem fremden Schauen, als sehe sie mich seit vierhundert Tagen jeden Morgen zum ersten Mal.
Schon ein halbes Jahr vorher, als der Kriminalfall mit dem Brot passierte, dachte ich mir, dass wir vor Hunger imstande sind zu töten, weil sich Fenjas kalte Heiligkeit ins Brot geschlichen hat.
Mit dem akkuraten Nachwiegen des Brotes zeigte Fenja uns, dass sie gerecht ist. Die fertiggewogenen Rationen lagen zugedeckt mit weißen Leintüchern in den Regalen. Für jede Ration deckte sie das Brot ein bisschen auf und wieder zu, genauso wie geübte Bettler den Kohlebrocken beim Hausieren. Fenja zelebrierte in der weißgekalkten Kammer, im weißen Kittel, mit den weißen Leintüchern die Brothygiene als Lagerkultur. Als Weltkultur. Die Fliegen mussten sich auf die Leintücher setzen statt aufs Brot. Aufs Brot kamen sie erst, wenn wir es in der Hand hatten. Wenn sie nicht schnell genug wegflogen, aßen wir mit unserem Brot auch ihren Hunger mit. Über den Hunger der Fliegen habe ich nie nachgedacht, nicht einmal über die inszenierte Hygiene mit den weißen Leintüchern.
Fenjas Gerechtigkeit machte mich regelrecht hörig, diese Paarung von Schiefmäuligkeit und Präzision auf der Waage. Das Abstoßende an Fenja war eine Perfektion. Fenja war weder gut noch böse, sie war keine Person, sondern ein Gesetz in Häkeljacken. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, Fenja mit anderen Frauen zu vergleichen, weil keine andere so gequält diszipliniert und makellos hässlich war. Sie war wie das begehrte, schrecklich nasse, klebrige, schandbar nahrhafte, rationierte Kastenbrot.
Die Brotration bekamen wir morgens für den ganzen Tag. Wie die meisten gehörte ich zu den 800-Gramm-Kandidaten, es war die Normalration. 600 Gramm gab es für die Leichtarbeit auf dem Lagergelände: Latrinenkot in Zisternen füllen, Schneekehren, Herbst- und Frühjahrsputz, Randsteine vom Korso weißen. Und 1000 Gramm bekamen wenige, es war die Ausnahme für Schwerstarbeit.
Schon 600 Gramm klingt nach viel. Aber das Brot war so schwer, dass selbst 800 Gramm nur eine daumendicke Scheibe ergaben, wenn sie aus der Mitte des Brotes geschnitten wurde. Wenn man Glück hatte und das Brotende mit der eckigen trockenen Kruste bekam, war die Scheibe zwei Daumen dick.
Die erste Entscheidung des Tages war: Bin ich so standhaft, heute beim Frühstück nicht die ganze Ration zur Krautsuppe zu essen. Kann ich mir mitten im Hunger ein Stückchen aufheben für den Abend. Mittagessen gab es keines, man war in der Arbeit und hatte nichts zu entscheiden. Abends nach der Arbeit kam, falls ich beim Frühstück standhaft geblieben war, die zweite Entscheidung: Bin ich so standhaft, nur unters Kissen zu greifen, ob mein gespartes Brot da ist. Kann ich warten, bis der Abendappell vorbei ist und es erst in der Kantine essen. Das konnte noch zwei Stunden dauern. Wenn der Appell nicht aufhörte, noch länger.
Wenn ich am Morgen nicht standhaft geblieben war, hatte ich abends gar keinen Brotrest und nicht einmal etwas zu entscheiden. Ich nahm den Löffel nur halbvoll, schlürfte tief. Ich hatte gelernt, langsam zu essen, nach jedem Löffel Suppe Speichel zu schlucken. Der Hungerengel sagte: Speichel macht die Suppe länger, und früh Schlafengehen macht den Hunger kürzer.
Ich ging früh schlafen, wachte aber ständig auf, weil das Gaumenzäpfchen anschwoll und pulsierte. Ob ich die Augen schloss oder offenhielt, mich herumwälzte oder ins Dienstlicht stierte, ob jemand schnarchte, als ob er am Ertrinken wäre, oder der Gummiwurm aus der Kuckucksuhr schnarrte — die Nacht war unermesslich groß, und in ihr waren Fenjas Leintücher unendlich weiß, und darunter lag das viele unerreichbare Brot.
Morgens nach der Hymne eilte der Hunger mit mir zum Frühstück, zu Fenja. Zu dieser übermenschlichen ersten Entscheidung: bin ich standhaft heute, kann ich ein Stückchen Brot für den Abend … und so weiter.
Wie weit.
Alle Tage hat mir der Hungerengel das Hirn gefressen. Und eines Tages hat er mir die Hand gehoben. Und mit dieser Hand hätte ich den Karli Halmen fast erschlagen — es ging um den Kriminalfall mit dem Brot.
Karli Halmen hatte einen ganzen Tag frei und schon zum Frühstück sein ganzes Brot gegessen. Alle waren in der Arbeit. Karli Halmen hatte die Baracke bis am Abend für sich allein. Am Abend war das gesparte Brot vom Albert Gion weg. Der Albert Gion war fünf Tage nacheinander standhaft gewesen, er hatte sich fünf Stückchen Brot gespart, so viel wie eine Tagesration. Er war den ganzen Tag mit uns in der Schicht gewesen und hatte wie alle, die gespartes Brot hatten, den ganzen Tag an die Abendsuppe mit Brot gedacht. Und aus der Schicht zurück, hat er, wie alle, zuerst unter sein Kissen geschaut. Das Brot war nicht mehr da.
Das Brot war nicht da, und Karli Halmen saß in der Unterwäsche auf seinem Bett. Albert Gion brachte sich vor ihm in Stellung und gab ihm, ohne ein Wort, drei Fäuste auf den Mund. Karli Halmen spuckte, ohne ein Wort, zwei Zähne aufs Bett. Der Akkordeonspieler führte Karli am Nacken zum Wassereimer und drückte seinen Kopf unters Wasser. Es blubberte aus Mund und Nase, dann röchelte es, dann wurde es still. Der Trommler zog den Kopf aus dem Wasser und würgte ihm den Hals, bis Karlis Mund so hässlich zuckte wie Fenjas Mund. Ich stieß den Trommler weg, zog aber meinen Holzschuh aus. Und es hob mir derart die Hand, dass ich den Brotdieb beinah totgeschlagen hätte. Der Advokat Paul Gast hatte bis dahin von seinem Bett oben zugeschaut. Er sprang mir auf den Rücken, riss mir den Schuh weg und warf ihn an die Wand. Karli Halmen lag angepisst neben dem Eimer und kotzte Brotschleim.
Mir hatte die Mordlust den Verstand geschluckt. Nicht nur mir, wir waren eine Meute. Wir schleppten den Karli in der blutigen, verpissten Unterwäsche neben die Baracke hinaus in die Nacht. Es war Februar. Wir stellten ihn an die Barackenwand, er torkelte und fiel um. Ohne Absprache öffneten der Trommler und ich die Hosen, dann auch der Albert Gion und alle anderen. Und weil wir schon mal vor dem Schlafengehen waren, pissten wir Karli Halmen nacheinander ins Gesicht. Auch der Advokat Paul Gast machte mit. Zwei Wachhunde bellten, hinter ihnen kam ein Wachmann angerannt. Die Hunde rochen das Blut und knurrten, der Wachmann fluchte. Der Advokat und der Wachmann trugen Karli zur Krankenbaracke. Wir schauten ihnen hinterher und rieben uns mit Schnee das Blut von den Händen.
Alle gingen stumm in die Baracke und krochen in die Betten. Ich hatte einen Blutfleck am Handgelenk, drehte ihn zum Licht und dachte, wie hellrot Karlis Blut ist, wie Siegellack, gottseidank aus der Ader, nicht aus der Vene. In der Baracke war es mucksstill, und ich hörte in der Kuckucksuhr den Gummiwurm schnarren, nah wie aus meinem eigenen Kopf. Ich dachte nicht mehr an Karli Halmen, auch nicht an Fenjas unendlich weißes Leintuch, nicht einmal an das unerreichbare Brot. Ich fiel in einen tiefen ruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen war das Bett von Karli Halmen leer. Wir gingen wie immer zur Kantine. Auch der Schnee war leer und nicht mehr rot, es hatte frisch geschneit. Karli Halmen lag zwei Tage in der Krankenbaracke. Danach saß er mit eitrigen Wunden, zugeschwollenen Augen und blauen Lippen wieder zwischen uns in der Kantine. Die Sache mit dem Brot hatte sich erledigt, alle verhielten sich wie immer.
Wir haben Karli Halmen den Diebstahl nicht vorgehalten. Und er hat uns die Strafe nie vorgeworfen. Er wusste, er hat sie verdient. Das Brotgericht verhandelt nicht, es bestraft. Die Nullgrenze kennt keine Paragraphen, sie braucht kein Gesetz. Sie ist eines, weil der Hungerengel auch ein Dieb ist, der das Hirn stiehlt. Die Brotgerechtigkeit hat kein Vor- und kein Nachspiel, sie ist nur Gegenwart. Total durchsichtig oder total geheimnisvoll. Auf jeden Fall ist die Brotgerechtigkeit anders gewalttätig als hungerlose Gewalt. Dem Brotgericht kann man nicht kommen mit der gängigen Moral.
Die Zeit des Brotgerichts war im Februar. Im April saß Karli Halmen bei Oswald Enyeter in der Rasierstube auf dem Stuhl, seine Wunden waren heil, sein Bart gewachsen, wie zertrampeltes Gras. Und ich war nach ihm dran und wartete hinter ihm im Spiegel, wie Tur Prikulitsch sonst hinter mir stand. Der Rasierer legte seine pelzigen Hände auf Karlis Schultern und fragte: Seit wann fehlen uns vorn die zwei Zähne. Weder zu mir noch zum Rasierer, nur zu den pelzigen Händen sagte Karli Halmen: Seit dem Kriminalfall mit dem Brot.
Als sein Bart abrasiert war, setzte ich mich auf den Stuhl. Es war das einzige Mal, dass Oswald Enyeter beim Rasieren eine Art Serenade pfiff und aus dem Schaum ein Fleckchen Blut quoll. Nicht hellrot wie Siegellack, sondern dunkelrot, wie eine Himbeere im Schnee.