Der Nichtrührer

Anfang Januar 1950 kam ich aus dem Lager nach Hause. Jetzt saß ich wieder in einem Wohnzimmer, in einem tiefen Viereck unter der weißen Stuckdecke wie unterm Schnee. Der Vater malte die Karpaten, alle paar Tage ein neues Aquarell mit grauzähnigen Bergen und schneeverwischten Tannen, fast auf jedem Bild gleich sortiert. Am Fuß des Gebirges Reihentannen, am Hang Gruppentannen, auf dem Kamm Tannenpaare und Einzeltannen, dazwischen hie und da eine Birke wie weißes Geweih. Am schwersten zu malen sind offenbar Wolken, sie glichen auf allen Bildern grauen Diwankissen. Auf jedem Aquarell waren die Karpaten schläfrig.

Der Großvater war gestorben. Die Großmutter saß in seinem Plüschsessel und machte Kreuzworträtsel. Hie und da fragte sie ein Wort: Kanapee im Orient, Teil des Schuhs mit Z, Pferderasse, Dach aus Segeltuch.

Die Mutter strickte ein Paar Schafwollsocken nach dem anderen für ihr Ersatzkind Robert. Das erste Paar waren grüne, das zweite weiße. Dann braune, rotweiß gesprenkelte, blaue, graue. Mit dem weißen Paar hatte die Verwirrung angefangen — die Mutter strickte Läuseklumpen. Seither sah ich in allen Socken unsere gestrickten Gärten zwischen den Baracken, Pulloverzipfel im Morgengrauen. Ich lag auf dem Diwan, das Wollknäuel lag in der Blechschüssel neben dem Stuhl der Mutter, es war lebendiger als ich. Der Faden kletterte, ließ sich hängen und fallen. Zwei faustdicke Knäuel machten eine fertige Socke, die ganze Länge der Wolle war nicht zu berechnen. In allen Socken addiert, entsprach sie vielleicht der Entfernung vom Diwan zum Bahnhof. Ich mied die Bahnhofsgegend. Ich hatte jetzt warme Füße, nur die Frostflecken juckten am Rist, wo die Fußlappen immer zuerst an die Haut gefroren waren. Die Wintertage wurden schon gegen vier Uhr grau. Die Großmutter knipste das Licht an. Der Lampenschirm war ein hellblauer Trichter mit dunkelblauem Quastenrand. Die Decke bekam wenig Licht, der Stuck blieb grau und begann zu schmelzen. Am nächsten Morgen war er wieder weiß. Ich bildete mir ein, dass er nachts, wenn wir in anderen Zimmern schlafen, frisch gefriert wie die Eisstickereien im Brachland hinterm Zeppelin. Neben dem Schrank tickte die Uhr. Das Pendel flog und schaufelte unsere Zeit zwischen die Möbel vom Schrank zum Fenster, vom Tisch zum Diwan, vom Ofen zum Plüschsessel, vom Tag in den Abend. An der Wand war das Ticken meine Atemschaukel, in meiner Brust war es meine Herzschaufel. Sie fehlte mir sehr.

Ende Januar holte mich mein Onkel Edwin frühmorgens ab, um mich seinem Meister in der Kistenfabrik vorzustellen. Draußen auf der Schulgasse, ein Haus weiter im Fenster vom Herrn Carp, stand ein Gesicht. Es war unterm Hals vom Muster der Eisblumen abgeschnitten. Um die Stirn lag ein Zopf aus Eishaaren und neben der Nasenwurzel ein grünlich abgleitendes Auge — ich sah Bea Zakel im weißgeblümten Morgenmantel mit einem schweren grauen Zopf. Im Fenster saß wie jeden Tag die Katze vom Herrn Carp, aber mir tat es leid um Bea, dass sie so schnell gealtert ist. Ich wusste, dass die Katze nur eine Katze sein kann, die Telegrafenstange kein Wachposten, das weiße Brennen auf dem Schnee nicht der Lagerkorso, sondern die Schulgasse. Dass alles hier zu Hause nicht anders sein kann, weil es bei sich geblieben ist. Alles, außer mir. Zwischen den heimatsatten Leuten war ich vor Freiheit schwindlig. Mein Gemüt war sprunghaft, auf Absturz und hündische Angst dressiert, mein Hirn auf Unterwerfung angewiesen. Ich sah Bea Zakel im Fenster auf mich warten, bestimmt sah auch sie mich vorübergehen. Ich hätte grüßen sollen, wenigstens mit dem Kopf nicken oder winken mit der Hand. Es war mir zu spät eingefallen, wir waren jetzt zwei Häuser weiter.

Als wir am Ende der Schulgasse um die Ecke bogen, hängte mein Onkel mich ein. Sicher spürte er, dass ich dicht neben ihm ganz woanders bin. Vermutlich hängte er gar nicht mich ein, sondern seinen alten Mantel, den ich trug. Seine Lunge pfiff. Mir schien, dass er, was er nach dem langen Schweigen sagte, gar nicht sagen wollte. Dass seine Lungenflügel ihn dazu gezwungen hatten, dass er deshalb zweistimmig sagte: Hoffentlich nehmen sie dich in der Fabrik. Mir scheint, bei euch ist die Mieselsucht im Haus. Er meinte den Nichtrührer.

An der Stelle, wo die Pelzkappe an sein linkes Ohr stieß, liefen die Hautfalten seiner Ohrmuschel glatt auseinander wie an meinen Ohren. Ich musste auch sein rechtes Ohr anschauen. Ich machte mich los und wechselte auf seine rechte Seite. Noch mehr als das linke Ohr war auch das rechte mein Ohr. Der glatte Ohrenrand fing noch weiter unten an, er war länger und breiter, wie gebügelt.

In der Kistenfabrik nahmen sie mich. Ich kam täglich aus dem Nichtrührer heraus und nach Feierabend wieder hinein. Jedesmal, wenn ich nach Hause kam, fragte die Großmutter:

Bist du gekommen.

Und ich sagte: Ich bin gekommen.

Wenn ich das Haus verließ, fragte sie jedesmal:

Gehst du weg.

Und ich sagte: Ich gehe weg.

Beim Fragen kam sie mir immer einen Schritt entgegen und griff sich ungläubig an die Stirn. Ihre Hände waren durchsichtig, nur Haut mit Adern und Knochen, zwei Seidenfächer. Ich wollte der Großmutter um den Hals fallen, wenn sie das fragte. Der Nichtrührer hinderte mich.

Der kleine Robert hörte die täglichen Fragen. Wenn es ihm einfiel, machte er die Großmutter nach, kam mir einen Schritt entgegen, griff sich an die Stirn und fragte in einem Satz:

Bist du gekommen, gehst du weg.

Jedesmal, wenn er sich an die Stirn griff, sah ich die Speckfalten an seinen Handwurzeln. Jedesmal wollte ich dem Ersatzbruder den Hals zudrücken, wenn er das fragte. Der Nichtrührer hinderte mich.

An einem Tag, als ich aus der Arbeit kam, sah ein Zipfel weißer Spitzenstoff unterm Deckel der Nähmaschine heraus. An einem anderen Tag hing an der Klinke der Küchentür ein Regenschirm, und auf dem Tisch lag ein zersprungener Teller, zwei gleiche Scherben wie in der Mitte durchgeschnitten. Und die Mutter hatte sich den Daumen mit einem Taschentuch verbunden. An einem Tag lagen Vaters Hosenträger auf dem Radio und Großmutters Brille in meinem Schuh. An einem anderen Tag war Roberts Stoffhund Mopi mit den Schnürsenkeln meiner Schuhe an den Griff der Teekanne gebunden. Und in meiner Mütze lag eine Brotkruste. Vielleicht streiften sie den Nichtrührer ab, wenn ich von zu Hause weg war. Vielleicht lebten sie auf. Hier im Haus ging es zu wie mit dem Hungerengel im Lager. Es klärte sich nie, ob wir alle miteinander einen Nichtrührer haben oder jeder seinen eigenen.

Wahrscheinlich lachten sie, wenn ich nicht da war. Wahrscheinlich bedauerten oder beschimpften sie mich. Wahrscheinlich küssten sie den kleinen Robert. Wahrscheinlich sagten sie, dass sie mit mir Geduld brauchen, weil sie mich lieben, oder dachten es nur still und gingen ihren Händen nach. Wahrscheinlich. Vielleicht hätte ich lachen sollen, wenn ich nach Hause kam. Vielleicht hätte ich sie bedauern oder beschimpfen sollen. Vielleicht hätte ich den kleinen Robert küssen sollen. Vielleicht hätte ich sagen sollen, dass ich mit ihnen Geduld brauche, weil ich sie liebe. Nur, wie sollte ich das sagen, wenn ich es mir nicht einmal im stillen denken konnte.

Im ersten Monat nach der Heimkehr ließ ich die ganze Nacht im Zimmer das Licht brennen, weil ich mich ohne Dienstlicht fürchtete. Ich glaube, in der Nacht träumt man nur, wenn man vom Tag müde ist. Erst als ich in der Kistenfabrik arbeiten durfte, kam zum ersten Mal wieder ein Traum in meinen Schlaf.

Großmutter und ich sitzen zusammen auf dem Plüschsessel, Robert auf einem Stuhl daneben. Ich bin klein wie Robert und Robert groß wie ich. Robert steigt auf seinen Stuhl, nimmt über der Uhr den Stuck von der Decke. Er legt ihn mir und der Großmutter um den Hals wie einen weißen Schal. Der Vater kniet mit seiner Leica-Kamera vor uns auf dem Teppich, und die Mutter sagt: Lächelt euch mal an, es wird das letzte Bild, bevor sie stirbt. Meine Beine reichen nur knapp über den Stuhlrand. Aus dieser Position kann der Vater meine Schuhe nur von unten fotografieren, mit den Schuhsohlen nach vorn in Richtung Tür. Bei diesen kurzen Beinen bleibt dem Vater gar nichts anders übrig, auch wenn er das nicht will. Ich streife mir den Stuck von der Schulter. Die Großmutter umarmt mich und drückt mir den Stuck wieder an den Hals. Sie hält ihn fest mit ihrer durchsichtigen Hand. Die Mutter dirigiert den Vater mit einer Stricknadel, bis er umgekehrt zu zählen anfängt — drei, zwei, bei der Zahl eins knipst er. Danach steckt die Mutter sich die Stricknadel schräg durch den Dutt und nimmt uns den Stuck von den Schultern. Und Robert steigt damit auf seinen Stuhl und tut ihn oben an die Wand zurück.

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