Der gutgläubige und der skeptische Flacon

Es war die Hautundknochenzeit, die Ewigkeit der Krautsuppe. Kapusta am Morgen beim Aufstehen, Kapusta am Abend nach dem Appell. KAPUSTA ist Kraut auf russisch, und russische Krautsuppe heißt, dass oft überhaupt kein Kraut drin ist. Kapusta ist ohne das Russische und ohne Suppe ein Wort aus zwei Dingen, die nichts gemeinsam haben, außer diesem Wort. CAP ist der rumänische Kopf, PUSTA ist die ungarische Tiefebene. Und man denkt sich das auf deutsch, und das Lager ist russisch wie die Krautsuppe. Mit so unsinnigem Zeug will man schlau sein. Aber das zerlegte Wort KAPUSTA taugt nicht zum Hungerwort. Hungerwörter sind eine Landkarte, statt Ländernamen sagt man sich die Namen vom Essen in den Kopf. Hochzeitssuppe, Faschiertes, Rippchen, Eisbein, Hasenbraten, Leberknödel, Rehkeule, Saurer Hase usw.

Jedes Hungerwort ist ein Esswort, man hat das Bild des Essens vor Augen und den Geschmack am Gaumen. Hungerwörter oder Esswörter füttern die Phantasie. Sie essen sich selbst, und es schmeckt ihnen. Man wird nicht satt, ist aber wenigstens beim Essen dabei. Jeder chronisch Hungrige hat seine eigenen Präferenzen, seltene, häufige und ständige Esswörter. Jedem schmeckt ein anderes Wort am besten. So wie Kapusta taugte auch das Meldekraut nicht als Esswort, weil es wirklich gegessen wurde. Werden musste.

Ich glaube, im Hunger sind Blindheit und Sehen dasselbe, der blinde Hunger sieht das Essen am besten. Es gibt stumme und laute Hungerwörter, so wie es am Hunger selbst das Heimliche und das Öffentliche gibt. Hungerwörter, also Esswörter, beherrschen die Gespräche, und man bleibt doch allein. Jeder isst seine Wörter selbst. Die anderen, die mitessen, tun es auch für sich selbst. Die Anteilnahme am Hunger der anderen ist null, mithungern kann man nicht.

Als Grundessen war die Krautsuppe der Grund, am Körper das Fleisch und im Kopf den Verstand zu verlieren. Der Hungerengel lief hysterisch herum. Er verlor jedes Maß, wuchs an einem Tag so viel, wie kein Gras in einem ganzen Sommer und kein Schnee in einem ganzen Winter. Vielleicht so viel wie ein hoher spitzer Baum in seinem ganzen Leben wächst. Mir scheint, dass sich der Hungerengel nicht nur vergrößerte, sondern auch vermehrte. Er besorgte jedem seine eigene, persönliche Qual, obwohl wir uns alle glichen. Denn in der Dreieinigkeit von Haut, Knochen und dystrophischem Wasser sind Männer und Frauen nicht zu unterscheiden und geschlechtlich stillgestellt. Man sagt zwar weiter DER oder DIE, wie man auch der Kamm oder die Baracke sagt. Und so wie diese sind auch Halbverhungerte nicht männlich oder weiblich, sondern objektiv neutral wie Objekte — wahrscheinlich sächlich.

Egal wo ich war, in meinem Bettgestell, zwischen den Baracken, in der Tag- oder Nachtschicht auf der Jama oder mit Kobelian in der Steppe oder am Kühlturm oder nach der Schicht in der Banja oder beim Hausieren, alles, was ich tat, hatte Hunger. Jeder Gegenstand glich in Länge, Breite, Höhe und Farbe dem Ausmaß meines Hungers. Zwischen der Himmeldecke oben und dem Staub der Erde roch jeder Ort nach einem anderen Essen. Der Lagerkorso roch nach Karamell, der Lagereingang nach frischgebackenem Brot, das Überqueren der Straße vom Lager zur Fabrik nach warmen Aprikosen, der Holzzaun der Fabrik nach kandierten Nüssen, der Fabrikeingang nach Rührei, die Jama nach gedünstetem Paprika, die Schlacke der Abraumhalden nach Tomatensuppe, der Kühlturm nach gebratenen Auberginen, das Labyrinth der dampfenden Rohre nach Vanillestrudel. Die Teerklumpen im Unkraut rochen nach Quittenkompott und die Koksbatterien nach Zuckermelonen. Es war Zauber und Qual. Sogar der Wind fütterte den Hunger, er webte sichtbares Essen, überhaupt nicht abstrakt.

Seit wir als Knochenmännlein und Knochenweiblein füreinander geschlechtslos waren, paarte sich der Hungerengel mit jedem, er betrog auch das Fleisch, das er uns bereits gestohlen hatte, und schleppte immer mehr Läuse und Wanzen in unsere Betten. Die Hautundknochenzeit war die Zeit der wöchentlichen Entlausungsparaden im Lagerhof nach der Arbeit. Alle, aber auch alle Gegenstände mussten hinaus zum Entlausen — die Koffer, die Kleider, die Bettgestelle und wir.

Es war der dritte Sommer, die Akazien blühten, der Abendwind roch nach warmem Milchkaffee. Ich hatte alles draußen hingestellt. Dann kam Tur Prikulitsch mit dem grünzähnigen Towarischtsch Schischtwanjonow. Er trug ein frischgeschältes Weidenstöckchen, doppelt so lang wie eine Flöte, biegsam fürs Prügeln war es und am unteren Ende angespitzt fürs Wühlen. Angewidert von unserem Elend spießte er die Koffersachen auf sein Stöckchen und schleuderte sie auf den Boden.

Ich hatte mich, so gut es ging, in die Mitte der Entlausungsparade gestellt, weil die Durchsuchungen zu Anfang und gegen Ende unerbittlich waren. Doch diesmal bekam Schischtwanjonow in der Mitte der Parade Lust auf Gründlichkeit. Sein Stöckchen bohrte in meinem Grammophonkoffer und stieß unter den Kleidern auf mein Necessaire. Da legte er das Stöckchen aus der Hand, öffnete das Necessaire und entdeckte meine geheime Krautsuppe.

Seit drei Wochen hatte ich die Krautsuppe in den beiden schönen Flacons, die ich nicht wegwerfen konnte, nur weil sie leer waren. Weil sie leer waren, füllte ich sie mit Krautsuppe. Der eine Flacon war aus geriffeltem Glas, rundbauchig, mit Schraubverschluss, der andere war flachbauchig mit breiterem Hals, für den ich sogar einen passenden Holzstopfen schnitzte. Damit die Krautsuppe nicht verdirbt, versiegelte ich sie luftdicht wie zu Hause das Dunstobst. Ich träufelte Stearin um den Stopfen, die Trudi Pelikan hatte mir aus der Krankenbaracke eine Kerze geliehen.

Schto eto, fragte Schischtwanjonow.

Krautsuppe.

Wozu.

Er schüttelte die Flacons, dass die Suppe schäumte.

Pamjat, sagte ich.

Andenken, das hatte ich von Kobelian gelernt, ist bei den Russen ein gutes Wort, darum habe ich es gesagt. Doch Schischtwanjonow hat sich wahrscheinlich gefragt, für wen ich dieses Andenken brauche. Wer ist so dumm, dass er Krautsuppe in Flacons braucht, um sich hier, wo es zweimal täglich Krautsuppe gibt, an Krautsuppe zu erinnern.

Für zu Hause, fragte er.

Ich nickte. Das war das Schlimmste, dass ich Krautsuppe in Flacons mit nach Hause nehmen wollte. Prügel hätten mir nichts ausgemacht, aber er war erst in der Mitte seiner Parade und hielt sich nicht mit Prügeln auf. Er konfiszierte meine Flacons und bestellte mich zu sich.

Am nächsten Morgen führte mich Tur Prikulitsch aus der Kantine in die Offiziersstube. Er ging wie ein Getriebener über den Korso und ich wie ein Verurteilter hinter ihm her. Ich fragte ihn, was ich sagen soll. Ohne sich umzudrehen, machte er eine wegwerfende Geste wie, da misch ich mich nicht ein. Schischtwanjonow brüllte. Tur hätte sich das Übersetzen sparen können, ich kannte das alles schon auswendig. Dass ich ein Faschist, Spion, Saboteur und Schädling bin, dass ich keine Kultur habe und mit gestohlener Krautsuppe das Lager, die Sowjetmacht und das Sowjetvolk verrate.

Im Lager war die Krautsuppe dünn, aber in den Flacons, da sie so einen engen Hals hatten, war sie leer. Die paar Krautfetzen in den Flacons waren für Schischtwanjonow eine klare Denunziation. Meine Lage war prekär. Aber dann spreizte Tur seinen kleinen Finger und hatte eine Idee: Medizin. Medizin war bei den Russen nur ein halbgutes Wort. Tur merkte das rechtzeitig, drehte auf seiner Stirn den Zeigefinger, als wolle er ein Loch bohren, und sagte maliziös: Obskurantjism.

Das leuchtete ein. Ich war doch erst drei Jahre im Lager und noch nicht umerzogen, ich glaubte noch an Zaubertränke gegen Krankheiten. Tur erklärte, ich hätte den Flacon mit dem Schraubverschluss gegen Durchfall und den mit dem Holzstopfen gegen Verstopfung. Schischtwanjonow wurde nachdenklich, glaubte nicht nur, was Tur ihm sagte, sondern auch, dass Obskurantjism im Lager zwar nicht gut, aber im Leben gar nicht so schlecht ist. Er sah sich die beiden Flacons noch einmal an, schüttelte, bis ihnen der Schaum oben im Hals stand, dann schob er den mit dem Schraubverschluss ein bisschen nach rechts, den mit dem Holzstopfen genauso weit nach links, dass die Flacons ganz beieinander standen und sich berührten. Schischtwanjonow hatte von den Flacons jetzt sogar einen weichen Mund und einen milden Blick. Tur hatte wieder ein gutes Gespür und sagte:

Geh jetzt, verschwinde.

Wahrscheinlich hat Schischtwanjonow die Flacons aus unerklärlichen oder sogar erklärlichen Gründen dann gar nicht weggeschmissen.

Was sind Gründe. Ich weiß bis heute nicht, warum ich die Flacons mit Krautsuppe füllte. Hatte das mit dem Satz der Großmutter zu tun: Ich weiß, du kommst wieder. War ich wirklich so arglos zu glauben, ich komm wieder und präsentiere der Familie zu Hause meine Krautsuppe als zwei Fläschchen mitgebrachtes Lagerleben. Oder saß, trotz des Hungerengels, im Kopf immer noch die Vorstellung, dass man von einer Reise ein Souvenir mitbringt. Meine Großmutter hatte mir von ihrer einzigen Schiffsreise aus Konstantinopel einen himmelblauen, daumenkleinen Türkenpantoffel mitgebracht. Das war aber die andere Großmutter, die vom Wiederkommen nichts gesagt hatte, die in einem anderen Haus wohnte und gar nicht beim Abschied dabei war. Sollten die Flacons zu Hause meine Zeugen sein. Oder hatte ich bereits einen gutgläubigen und einen skeptischen Flacon. War unterm Schraubverschluss vielleicht die Heimreise eingefüllt und unterm luftdicht versiegelten Holzstopfen das ewige Hierbleiben. War das womöglich der gleiche Gegensatz wie Durchfall und Verstopfung. Wusste Tur Prikulitsch zu viel über mich. War es hilfreich, dass ich mich mit Bea Zakel auf Gespräche einließ.

Waren Heimfahren und Hierbleiben überhaupt noch Gegensätze. Wahrscheinlich wollte ich beidem gewachsen sein, wenn es so kommt. Wahrscheinlich wollte ich von nun an das Leben von hier, das Leben überhaupt, nicht länger abhängig machen vom Wunsch, täglich nach Hause zu wollen und es nie zu können. Je mehr ich nach Hause wollte, umso mehr versuchte ich, es nicht so stark zu wollen, dass es mich kaputtmacht, wenn ich es niemals darf. Den Wunsch nach Heimkehr wurde man nicht los, um aber außer ihm noch etwas anderes zu haben, sagte ich mir, wenn sie uns für immer hierbehalten, so ist es doch mein Leben. Die Russen leben ja auch. Ich will mich nicht sträuben, hier sesshaft zu werden, ich muss doch nur so bleiben, wie ich mit dem einen luftdicht versiegelten Flacon schon zur Hälfte bin. Ich kann mich umerziehen, ich weiß noch nicht wie, doch die Steppe wird es schon richten. Mich hatte der Hungerengel derart in Besitz genommen, dass mir die Kopfhaut flatterte, ich war damals frisch kahlgeschoren wegen Läusen.

Kobelian hatte sich im vergangenen Sommer unterm weiten Himmel einmal das Hemd aufgeknöpft, und als es flatterte, etwas gesagt von der Grasseele der Steppe und seinem Ural-Gefühl. In meine Brust geht das auch, habe ich mir gedacht.

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