Zwei Monate habe ich im Lager zusätzlich zum Kantinenfraß Kartoffeln gegessen. Zwei Monate gekochte Kartoffeln mit strenger Einteilung, mal als Vorspeise, mal als Hauptgang, mal als Dessert.
Die Vorspeise waren geschälte Kartoffeln mit Salz gekocht und wildem Dill bestreut. Die Schalen habe ich aufgehoben, denn am nächsten Tag gab es den Hauptgang aus gekochten Kartoffelwürfeln mit Nudeln. Die Kartoffelschalen vom Vortag zusammen mit den frischgeschälten waren meine Nudeln. Und als Dessert gab es am dritten Tag ungeschälte Kartoffeln, in Scheiben geschnitten und auf dem Feuer geröstet. Dann wurden noch geröstete Kerne vom wilden Hafer und ein bisschen Zucker draufgestreut.
Ich hatte mir von der Trudi Pelikan ein halbes Maß Zucker und ein halbes Maß Salz geliehen. Wie wir alle dachte auch die Trudi Pelikan nach dem dritten Frieden, dass wir bald nach Hause dürfen. Den Glockenschnittmantel mit den schönen Pelzmanschetten tauschte ihr Bea Zakel auf dem Basar für fünf Maß Zucker und fünf Maß Salz. Das Geschäft mit dem Damenmantel war besser gelaufen als der Tausch meines Seidenschals. Den trug Tur Prikulitsch noch immer beim Appell. Nicht mehr ständig. In der Sommerhitze gar nicht, seit Herbst aber wieder alle paar Tage. Und ich fragte Bea Zakel alle paar Tage, wann ich von ihr oder von Tur etwas dafür bekomme.
Nach einem Abendappell ohne Seidenschal bestellte Tur Prikulitsch mich, meinen Kellerkumpan Albert Gion und den Advokaten Paul Gast in seine Dienststube. Tur stank nach Zuckerrübenschnaps. Nicht nur seine Augen, auch sein Mundwerk schien geölt. Er strich Rubriken auf der Liste durch, füllte andere mit unseren Namen und erklärte, dass der Albert Gion morgen nicht in den Keller muss und ich nicht in den Keller muss und der Advokat nicht in die Fabrik muss. In seine Rubriken hatte er gerade eben etwas anderes eingetragen. Wir waren alle miteinander verwirrt. Tur Prikulitsch begann von vorn und erklärte wieder, dass der Albert Gion morgen wie immer in den Keller muss, aber nicht mit mir, sondern mit dem Advokaten. Als ich fragte, warum nicht mit mir, ließ er die Augenlider halb herunter und sagte: Weil du morgen früh um Punkt sechs auf den Kolchos gehst. Ohne Gepäck, abends kommst du zurück. Als ich fragte, wie, sagte er: Na wie, zu Fuß. Rechter Hand kommen drei Abraumhalden, an die hältst du dich. Linkerhand kommt dann der Kolchos.
Ich war sicher, dass es nicht bloß für einen Tag sein soll. Auf dem Kolchos starb man noch schneller, man wohnte in Erdlöchern, fünf, sechs Stufen runter, das Dach aus Reisig und Gras. Oben fiel der Regen durch, unten stieg das Grundwasser. Es gab einen Liter Wasser pro Tag zum Trinken und Waschen. Man verhungerte nicht, man verdurstete in der Hitze, man bekam vom Dreck und Ungeziefer eitrige Wunden mit Tetanus. Jeder im Lager fürchtete den Kolchos. Ich war sicher, statt mir den Schal zu bezahlen, lässt Tur Prikulitsch mich auf dem Kolchos krepieren, dann hat er den Schal von mir geerbt.
Ich ging um sechs Uhr los mit meinem Kopfkissen in der Jacke, falls es auf dem Kolchos etwas zu stehlen gibt. Der Wind pfiff über die Kraut- und Rübenfelder, die Gräser wiegten sich orange, der Tau glitzerte in Wellen. Darin stand feuriges Meldekraut. Der Wind kam von vorn, die ganze Steppe lief in mich hinein und wollte, dass ich zusammenbreche, weil ich mager war und sie gierig. Hinter einem Krautfeld und einem schmalen Stück Akazienwald kam die erste Abraumhalde, dann Grasland, dahinter ein Maisfeld. Dann kam die zweite Abraumhalde. Erdhunde schauten übers Gras, braune Pelzrücken mit fingerlangen Schwänzen und bleichen Bäuchen standen auf den Hinterbeinen. Ihre Köpfe nickten, ihre Vorderpfoten waren zusammengelegt wie Menschenhände beim Beten. Auch ihre Ohren waren seitlich am Kopf angewachsen wie bei den Menschen. Eine letzte Sekunde nickten die Köpfe, dann schaukelte leeres Gras über den Erdlöchern, aber ganz anders als vom Wind.
Erst jetzt fiel mir auf, dass die Erdhunde spüren, dass ich allein und unbewacht durch die Steppe gehe. Erdhunde haben feine Instinkte, sie beten für die Flucht, dachte ich. Flucht wäre jetzt möglich, aber wohin. Vielleicht wollen sie mich warnen, vermutlich bin ich längst auf der Flucht. Ich schaute mich um, ob mir jemand folgt. Ganz weit hinten kamen zwei Gestalten, sahen aus wie ein Mann mit einem Kind, sie trugen zwei kurzstielige Schaufeln, keine Gewehre. Der Himmel war wie ein blaues Netz über die Steppe gespannt und in der Ferne ohne Durchschlupf an die Erde angewachsen.
Es hatte im Lager schon drei Fluchtversuche gegeben. Alle drei waren Karpato-Ukrainer, Tur Prikulitschs Landsleute. Die sprachen gut Russisch und wurden dennoch alle drei eingefangen und von Prügeln entstellt beim Appell vorgeführt. Und dann nie mehr gesehen, in ein Sonderlager geschickt oder ins Grab.
Jetzt sah ich linkerhand eine Bretterbude und einen Wachposten mit Pistole am Gurt, ein magerer, junger Kerl, um einen halben Kopf kleiner als ich. Er hatte auf mich gewartet, er winkte. Ich kam gar nicht zum Stehen, er hatte es eilig, wir gingen an Krautfeldern entlang. Er kaute Sonnenblumenkerne, warf sich zwei gleichzeitig in den Mund, zuckte einmal, spuckte aus dem einen Mundwinkel die Schalen und schnappte unterdessen mit dem anderen die nächsten Kerne, und schon flogen wieder die leeren Schalen. Wir gingen so schnell, wie er schnappte. Ich dachte, vielleicht ist er stumm. Er sprach nicht, er schwitzte nicht, seine Mundakrobatik kam nicht aus dem Takt. Er ging, als ziehe der Wind ihn auf Rädern. Er schwieg und aß wie eine Schälmaschine.
Dann zog er mich am Arm, wir blieben stehen. An die zwanzig Frauen waren auf dem Feld verstreut. Sie hatten keine Werkzeuge, sie gruben die Kartoffeln mit den Händen aus der Erde. Der Wachposten wies mir eine Reihe zu. Die Sonne stand wie ein Glutstück mitten im Himmel. Ich schaufelte mit den Händen, der Boden war hart. Die Haut platzte, in den Wunden brannte der Dreck. Wenn ich den Kopf hob, flogen Schwärme flimmernder Punkte vor meinen Augen. Im Hirn stockte das Blut. Auf dem Acker war dieser junge Kerl mit der Pistole außer Wachposten auch Natschalnik, Brigadier, Vorarbeiter, Nachprüfer, alles in einem. Wenn er die Frauen beim Reden erwischte, peitschte er ihnen Kartoffelkraut ins Gesicht oder stopfte ihnen faule Kartoffeln in den Mund. Und er war nicht stumm. Was er dabei schrie, verstand ich nicht. Es waren keine Kohleflüche, keine Baustellenbefehle oder Kellerworte.
Langsam verstand ich etwas anderes, dass Tur Prikulitsch mit ihm eine Absprache hat, mich den ganzen Tag arbeiten zu lassen und erst am Abend zu erschießen, weil ich fliehen wollte. Oder mich am Abend in ein Erdloch zu stecken, in ein ganz privates, weil ich hier der einzige Mann war. Oder nicht nur an diesem Abend, sondern von heute an jeden Abend, dass ich nie mehr zurück ins Lager komme.
Als der Abend kam, war der Kerl außer Wachposten, Natschalnik, Brigadier, Vorarbeiter, Nachprüfer auch Lagerkommandant. Die Frauen stellten sich zum Zählappell in die Reihe, sagten ihre Namen und die Nummer, machten die Taschen der Pufoaikas links und zeigten in jeder Hand ihre zwei Kartoffeln. Vier mittlere durften sie behalten. Wenn eine zu groß war, wurde sie umgetauscht. Ich stand als Letzter in der Reihe und zeigte mein Kopfkissen. Es war gefüllt mit 27 Kartoffeln, 7 mittlere und 20 große. Auch ich durfte 4 mittlere Kartoffeln behalten, die anderen musste ich ausleeren. Der Pistolenmann fragte, wie ich heiße. Ich sagte: Leopold Auberg. Er nahm, als hätte es etwas mit meinem Namen zu tun, eine mittlere Kartoffel und schoss sie mit dem Schuh über meine Schulter. Ich zog den Kopf ein. Die nächste schießt er nicht mit dem Fuß, die wirft er mir an den Kopf und schießt ihr im Flug hinterher mit seiner Pistole und zerfetzt sie zusammen mit meinem Hirn. Er schaute, während ich das dachte, wie ich mein Kissen in die Hosentasche stecke. Dann zog er mich am Arm aus der Reihe und zeigte, als wäre er wieder stumm, in den Abend, in die Steppe, dorthin wo ich am Morgen hergekommen war. Dort ließ er mich stehen. Und den Frauen gab er den Marschbefehl und ging hinter der Brigade in die andere Richtung. Ich stand am Feldrand, sah ihn mit den Frauen wegmarschieren und war sicher, bald lässt er seine Brigade allein und kommt zurück. Und ohne Zeugen wird es einmal knallen und heißen: Erschossen auf der Flucht.
Die Brigade marschierte wie eine braune Schlange immer kleiner in die Weite. Ich stand angewachsen vor dem großen Kartoffelhaufen und begann zu glauben, dass es zwischen Tur Prikulitsch und dem Wachposten keine Absprache gibt, sondern zwischen Tur Prikulitsch und mir. Dass der Kartoffelhaufen die Absprache ist. Dass Tur mir den Seidenschal mit Kartoffeln bezahlen will.
Ich stopfte mich bis unter die Mütze mit Kartoffeln aller Größe aus. Ich zählte 273 Kartoffeln. Der Hungerengel half mir, er war ja ein notorischer Dieb. Doch nachdem er mir geholfen hatte, war er wieder ein notorischer Peiniger und ließ mich mit dem langen Heimweg allein.
Ich ging los. Bald juckte es mich überall, die Kopflaus, die Hals- und Nackenlaus, die Achsellaus, die Brustlaus, im Schamhaar die Filzlaus. Zwischen den Zehen in den Fußlappen der Galoschen juckte es sowieso. Zum Kratzen hätte ich den Arm heben müssen, was ich mit meinen ausgestopften Ärmeln nicht konnte. Beim Gehen hätte ich die Knie biegen müssen, was ich mit den ausgestopften Hosenbeinen nicht konnte. Ich schlurfte an der ersten Abraumhalde vorbei. Die zweite kam und kam nicht, oder war sie mir entgangen. Die Kartoffeln waren schwerer als ich. Für die dritte Abraumhalde war es inzwischen schon viel zu dunkel. In alle Himmelsgegenden waren Sterne aufgefädelt.
Die Milchstraße läuft von Süden nach Norden, hatte der Rasierer Oswald Enyeter gesagt, als der zweite seiner Landsleute nach missglückter Flucht auf dem Lagerplatz vorgeführt wurde. Um nach Westen zu gelangen, hatte er gesagt, muss man die Milchstraße überqueren und rechts abbiegen, dann immer geradeaus, also sich vom großen Wagen immer links halten. Ich aber fand nicht einmal die zweite und dritte Abraumhalde, die jetzt auf dem Rückweg linkerhand kommen mussten. Lieber rundum bewacht sein als rundum verloren. Die Akazien, der Mais, auch meine Schritte trugen einen schwarzen Umhang. Die Krautköpfe schauten mir nach wie Menschenköpfe, sie trugen verschiedenste Frisuren und Mützen. Nur der Mond trug eine weiße Haube und fingerte mir im Gesicht wie eine Krankenschwester. Ich dachte, vielleicht brauche ich die Kartoffeln gar nicht mehr, vielleicht bin ich todkrank vergiftet vom Keller und weiß es noch nicht. Ich hörte stockende Vogelschreie aus den Bäumen und ein klagendes Lallen in der Weite. Die Nachtsilhouetten konnten fließen. Ich darf mich nicht fürchten, dachte ich, sonst ertrinke ich. Ich redete mit mir, um nicht zu beten:
Die beständigen Dinge vergeuden sich nicht, sie brauchen nichts als eine einzige, ewig gleiche Beziehung zur Welt. Die Beziehung der Steppe zur Welt ist das Lauern, die Beziehung des Mondes das Leuchten, die Beziehung der Erdhunde das Fliehen, die Beziehung der Gräser das Schaukeln. Und meine Beziehung zur Welt ist das Essen.
Der Wind summte, ich hörte die Stimme meiner Mutter. Im letzten Sommer zu Hause bei Tisch hätte die Mutter nicht sagen sollen, stich die Kartoffeln nicht mit der Gabel an, sie zerfallen, die Gabel nimmt man fürs Fleisch. Das hat sich die Mutter nicht vorstellen können, dass die Steppe ihre Stimme kennt, dass mich die Kartoffeln einmal nachts in der Steppe in die Erde ziehen und die Sterne oben alle stechen. Dass ich mich wie ein Schrank durch Felder und Grasland zum Lagertor schleppe, hat damals am Tisch niemand geahnt. Dass ich nur drei Jahre später allein in der Nacht ein Kartoffelmensch bin und meinen Rückweg in ein Lager Heimweg nenne.
Am Lagertor bellten die Hunde mit diesen sopranhohen Nachtstimmen, die immer dem Weinen glichen. Vielleicht hatte Tur Prikulitsch auch mit den Wachposten eine Absprache, denn sie winkten mich durch, ich wurde nicht kontrolliert. Und ich hörte sie hinter mir lachen, Schuhe tappten auf den Boden. Ich konnte mich, so ausgestopft wie ich war, nicht umdrehen, vermutlich imitierte einer meinen steifen Gang.
Dem Albert Gion habe ich am nächsten Tag 3 mittlere Kartoffeln in die Nachtschicht mitgenommen. Vielleicht will er sie in aller Ruhe hinten auf dem Feuer, in dem offenen Eisenkorb, braten. Er will nicht. Er schaut sie einzeln an und legt sie in seine Mütze. Er fragt: Warum grad 273 Kartoffeln.
Weil minus 273 Grad Celsius der absolute Nullpunkt ist, sag ich, kälter geht es nicht.
Du hast es heute mit der Wissenschaft, meint er, du hast dich doch bestimmt verzählt.
Verzählt haben kann ich mich nicht, sag ich, die Zahl 273 passt auf sich auf, sie ist ein Postulat.
Postulat, sagt Albert Gion, du hättest an was anderes denken sollen. Mensch Leo, du hättest abhauen können.
Der Trudi Pelikan gab ich 20 Kartoffeln und hatte damit Zucker und Salz bezahlt. Zwei Monate später, kurz vor Weihnachten waren die 273 Kartoffeln alle. Die letzten kriegten so blaugrüne abgleitende Augen wie Bea Zakel. Ich überlegte, ob ich ihr das eines Tages sagen soll.