Vom Hungerengel

Immer ist der Hunger da.

Weil er da ist, kommt er, wann er will und wie er will.

Das kausale Prinzip ist das Machwerk des Hungerengels.

Wenn er kommt, dann kommt er stark.

Die Klarheit ist groß:

1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot.

Ich bräuchte die Herzschaufel nicht. Aber mein Hunger ist auf sie angewiesen. Ich wünschte, die Herzschaufel wäre mein Werkzeug. Aber sie ist mein Herr. Das Werkzeug bin ich. Sie herrscht, und ich unterwerfe mich. Und doch ist sie meine liebste Schaufel. Ich hab mich gezwungen, sie zu mögen. Ich bin unterwürfig, weil sie ein besserer Herr zu mir ist, wenn ich gefügig bin und sie nicht hasse. Ich hab ihr zu danken, denn wenn ich fürs Brot schaufle, bin ich abgelenkt vom Hunger. Weil der Hunger nicht vergeht, sorgt sie dafür, dass sich das Schaufeln vor den Hunger schiebt. Das Schaufeln ist an erster Stelle beim Schaufeln, sonst packt der Körper die Arbeit nicht.

Die Kohle wird weggeschaufelt, wird aber nie weniger. Sie kommt, zum Glück, jeden Tag aus Jasinowataja, so steht es auf den Waggons. Jeden Tag steigert sich der Kopf hinein ins Schaufeln. Der ganze Körper, vom Kopf aus gesteuert, ist das Werkzeug der Schaufel. Sonst nichts.

Schaufeln ist schwer. Schaufelnmüssen und nicht können ist das eine. Schaufelnwollen und nicht können ist die zweifache Verzweiflung, der Knick wie der Knicks vor derKohle. Ich habe keine Angst vor dem Schaufeln, sondern vor mir. Also davor, dass ich beim Schaufeln noch an etwas anderes denke, als dass ich schaufle. Das ist mir die erste Zeit manchmal passiert. Es zehrt an den Kräften, die man zum Schaufeln braucht. Die Herzschaufel bemerkt sofort, wenn ich nicht ganz bei ihr bin. Dann schnürt eine dünne Panik mir den Hals zu. In den Schläfen klopft der nackte Zweitakt. Er greift sich den Puls wie eine Meute Klaxons. Ich bin kurz vor dem Zusammenbruch, im süßen Gaumen schwillt mir das Zäpfchen. Und der Hungerengel hängt sich ganz in meinen Mund hinein, an mein Gaumensegel. Es ist seine Waage. Er setzt meine Augen auf, und die Herzschaufel wird schwindlig, die Kohle verschwimmt. Der Hungerengel stellt meine Wangen auf sein Kinn. Er lässt meinen Atem schaukeln. Die Atemschaukel ist ein Delirium und was für eins. Ich hebe den Blick, da oben stille Sommerwatte, die Stickerei der Wolken. Mein Hirn zuckt mit einer Nadelspitze am Himmel fixiert, besitzt nur noch diesen einen festen Punkt. Und der phantasiert vom Essen. Schon sehe ich die weißgedeckten Tische in der Luft, und der Schotter knirscht mir unter den Füßen. Und die Sonne scheint mir hell mitten durch die Zirbeldrüse. Der Hungerengel schaut auf seine Waage und sagt:

Du bist mir noch immer nicht leicht genug, wieso lässt du nicht locker.

Ich sage: Du betrügst mich mit meinem Fleisch. Es ist dir verfallen. Aber ich bin nicht mein Fleisch. Ich bin etwas anderes und lasse nicht locker. Von Wer bin ich kann nicht mehr die Rede sein, aber ich sag dir nicht, was ich bin. Was ich bin, betrügt deine Waage.

So war es oft im zweiten Winter im Lager. Ich komme am frühen Morgen todmüde aus der Nachtschicht. Ich habe jetzt frei, müsste schlafen und leg mich hin und kann nicht. In der Baracke sind alle 68 Betten leer, alle anderen sind in der Arbeit. Es zieht mich hinaus in den hofleeren Nachmittag. Der Wind wirft seinen dünnen Schnee, er knistert mir im Nacken. Offenen Hungers geht der Engel mit mir zum Abfallhaufen hinter die Kantine. Ich torkel ein Stück hinter ihm her, ich hänge schief an meinem Gaumensegel. Schritt für Schritt geh ich meinen Füßen hinterher, wenn es nicht seine sind. Der Hunger ist meine Richtung, wenn es nicht seine ist. Der Engel lässt mich vor. Er wird nicht schüchtern, er will nur nicht gesehen werden mit mir. Dann beuge ich den Rücken, wenn es nicht seiner ist. Meine Gier ist roh, meine Hände sind wild. Es sind meine Hände, Abfall fasst der Engel nicht an. Ich schiebe die Kartoffelschalen in den Mund und schließe beide Augen, so spüre ich sie besser, süß und glasig, die gefrorenen Kartoffelschalen.

Der Hungerengel sucht Spuren, die nicht zu löschen sind, und löscht Spuren, die nicht zu halten sind. Kartoffelfelder ziehen durch mein Hirn, die schiefliegenden Parzellen zwischen den Heuwiesen auf der Wench, Gebirgskartoffeln von zu Hause. Die ersten runden blassen Frühkartoffeln, die glasblauen krumm verzogenen Spätkartoffeln, die faustdicken, lederschaligen gelbsüßen Mehlkartoffeln, die schlanken, glatthäutig ovalen hartkochenden Rosenkartoffeln. Und wie sie in den Sommer blühen mit gelbweiß, rosagrau oder lila gewachsten Bündeln auf bittergrünem Kraut mit kantigen Stengeln.

Und wie schnell hab ich dann mit hochgezogener Lippe alle gefrorenen Kartoffelschalen gegessen. Eine Schale gleich hinter die andere in den Mund geschoben, ohne Lücke wie der Hunger. Ohne Unterlass, alle am Stück sind sie ein einziges langes Kartoffelschalenband.

Alle, alle, alle.

Und es kommt der Abend. Und alle kommen von der Arbeit heim. Und alle steigen in den Hunger. Er ist ein Bettgestell, wenn ein Hungriger den anderen Hungrigen zuschaut. Aber das täuscht, ich spüre an mir, der Hunger steigt in uns hinein. Wir sind das Gestell für den Hunger. Wir alle essen mit geschlossenen Augen. Wir füttern den Hunger die ganze Nacht. Wir mästen ihn hoch auf die Schaufel.

Ich esse einen kurzen Schlaf, dann wache ich auf und esse den nächsten kurzen Schlaf. Ein Traum ist wie der andere, es wird gegessen. Es gibt eine Gnade des Esszwangs im Traum, und die ist eine Qual. Ich esse Hochzeitssuppe und Brot, gefüllte Paprika und Brot, Baumtorte. Dann werde ich wach, schau ins kurzsichtige gelbe Dienstlicht der Baracke, schlaf wieder ein und esse Kohlrabisuppe und Brot, sauren Hasen und Brot, Erdbeereis im Silberbecher. Danach Nussnudeln und Offizierskipfel. Und dann Klausenburger Kraut und Brot, Rumtorte. Dann Kesselfleisch vom Schweinskopf mit Meerrettich und Brot. Zuletzt hätte ich noch Rehkeule mit Brot und Aprikosenkompott gehabt, aber der Lautsprecher plärrt mittenhinein, denn es ist Tag. Der Schlaf bleibt dünn, je mehr ich esse, und der Hunger wird nie müde.

Bei den ersten drei von uns, die am Hunger gestorben sind, wusste ich genau, wer sie sind und die Reihenfolge ihres Todes. Ich dachte ein paar lange Tage an jeden der drei. Aber die Zahl Drei bleibt niemals die erste Zahl Drei. Jede Zahl wird abgeleitet. Und abgehärtet. Wenn man selbst eine Knochenhaut und körperlich nicht mehr gut beieinander ist, hält man die Toten tunlichst von sich weg. Denn es gab in den Spuren der Mathematik, im März, im vierten Jahr schon dreihundertdreißig Tote. Da kann man sich die deutlichen Gefühle nicht mehr leisten. Da hat man nur noch kurz an sie gedacht.

Die fade Stimmung hat man abgestreift. Den Anflug einer mürben Trauer weggejagt, und zwar schon kurz bevor sie kam. Der Tod wird groß und sehnsüchtig nach allen. Man darf sich nicht mit ihm abgeben. Man muss ihn wegscheuchen wie einen lästigen Hund.

Nie mehr war ich so entschieden gegen den Tod wie in diesen fünf Lagerjahren. Gegen den Tod braucht man kein eigenes Leben, nur eines, das noch nicht ganz zu Ende ist.

Aber die ersten drei Toten im Lager sind:

Die taube Mitzi von zwei Waggons zerquetscht.

Die Kati Meyer im Zementturm verschüttet.

Die Irma Pfeifer im Mörtel erstickt.

Und in meiner Baracke ist der erste Tote der Maschinist Peter Schiel, vergiftet mit Steinkohleschnaps.

Die Todesursache heißt bei jedem anders, aber mit ihr dabei war immer der Hunger.

In den Spuren der Mathematik habe ich einmal beim Rasierer Oswald Enyeter in den Spiegel gesagt: Alles Einfache ist reines Resultat, und ein Gaumensegel hat jeder. Der Hungerengel wiegt jeden, und mit denen, die lockerlassen, springt er von der Herzschaufel. Das ist sein kausales Prinzip und sein Hebelgesetz.

Beides ist zwar nicht zu verachten, aber auch nicht zu verzehren, hat der Rasierer gesagt. Auch das ist ein Gesetz.

Ich habe in den Spiegel geschwiegen.

Deine Kopfhaut ist voll mit Eiterblümchen, hat der Rasierer gesagt, da hilft nur noch die Nullerschere.

Was für Blümchen, hab ich gefragt.

Es war eine Wohltat, als er anfing, mich kahlzuscheren.

Eines ist sicher, hab ich mir gedacht, der Hungerengel kennt seine Komplizen. Er hätschelt sie, dann lässt er sie fallen. Dann zerbrechen sie. Und er mit ihnen. Er ist aus demselben Fleisch, das er betrügt. Auch das ist sein Hebelgesetz.

Und was soll ich jetzt dazu sagen. Alles, was geschieht, ist immer das Einfache. Seine Reihenfolge hat ein Prinzip, wenn es dauert. Und wenn es fünf Jahre dauert, wird es undurchschaubar und nicht mehr beachtet. Und mir scheint, wenn man es später erzählen will, ist nichts da, was sich nicht einfügen ließe: Der Hungerengel denkt richtig, fehlt nie, geht nicht weg, kommt aber wieder, hat seine Richtung und kennt meine Grenzen, weiß meine Herkunft und seine Wirkung, geht offenen Auges einseitig, gibt seine Existenz immer zu, ist ekelhaft persönlich, hat einen durchsichtigen Schlaf, ist Experte für Meldekraut, Zucker und Salz, Läuse und Heimweh, hat Wasser im Bauch und in den Beinen. Mehr als Aufzählen kann man nicht.

Wenn du nicht lockerlässt, meinst du, es sei nur halb so schlimm. Aus dir spricht bis heute der Hungerengel. Egal was er sagt, die Klarheit bleibt groß:

1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot.

Nur darf man über den Hunger nicht reden, wenn man Hunger hat. Der Hunger ist kein Bettgestell, sonst hätte er ein Maß. Der Hunger ist kein Gegenstand.

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