Aufregende Zeiten

Nach der Arbeit bin ich statt ins Lager ins Russendorf betteln gegangen. Am Univermag stand die Tür offen, der Laden war leer. Die Verkäuferin beugte sich über einen Rasierspiegel auf dem Pult und suchte ihren Kopf nach Läusen ab. Neben dem Rasierspiegel lief der Plattenspieler, Tatatataaa. Das kannte ich von zu Hause aus dem Radio, Beethoven mit den Sondermeldungen vom Krieg.

Mein Vater hatte sich schon 1936 für die Olympischen Spiele in Berlin den Blaupunkt mit dem grünen Katzenauge gekauft. In diesen aufregenden Zeiten, sagte er. Der Blaupunkt hatte sich ausgezahlt, später wurden die Zeiten noch aufregender. Es war drei Jahre später, Anfang September und wieder die Zeit des kalten Gurkensalats im Schatten auf der Veranda. Auf dem Ecktischchen stand der Blaupunkt, an der Wand daneben hing die große Europakarte. Aus dem Blaupunkt schallte das Tatatataaa, Sondermeldung. Der Vater kippte den Stuhl, bis sein Arm zum Radioknopf reichte, und stellte den Ton laut. Alle hörten auf zu reden und mit dem Besteck zu klappern. Sogar der Wind horchte durchs Verandafenster. Was am 1. September begonnen hatte, nannte mein Vater Blitzkrieg. Die Mutter sagte Polenfeldzug. Mein Großvater hatte, von Pula aus, als Schiffsjunge eine Weltumsegelung hinter sich und war ein Skeptiker. Den interessierte immer, was die Engländer zu der Sache sagen. Zu Polen nahm er lieber noch einen Löffel Gurkensalat und schwieg. Meine Großmutter sagte, dass Essen eine Familiensache ist und mit der Politik im Radio nicht zusammenpasst.

Im Aschenbecher neben dem Blaupunkt hatte mein Vater, er war Zeichenlehrer, auf Stecknadeln mit bunten Köpfen dreieckige rote Siegesfähnchen montiert. 18 Tage rückte der Vater seine Fähnchen auf der Karte ostwärts. Dann wars, sagte Großvater, mit Polen vorbei. Und mit den Fähnchen. Und mit dem Sommer. Die Großmutter zupfte die Fähnchen von der Europakarte und von den Stecknadeln und räumte die Stecknadeln in ihre Nähschachtel zurück. Und der Blaupunkt wanderte ins Schlafzimmer zu meinen Eltern. Durch drei Wände hörte ich in aller Früh das Wecksignal von Radio München. Die Sendung hieß Morgenturnen, und der Fußboden begann rhythmisch zu vibrieren. Die Eltern turnten dirigiert vom Turnlehrer im Blaupunkt. Und mich schickten die Eltern, weil ich zu pummelig war und soldatischer werden sollte, einmal pro Woche zum privaten Turnunterricht, dem Krüppelturnen.

Gestern hielt ein speziell angereister Offizier mit grüner Kappe, groß wie ein Kuchenteller, eine Ansprache auf dem Appellplatz. Es war eine Rede über den Frieden und die FUSSKULTUR. Und Tur Prikulitsch durfte ihn nicht unterbrechen, stand daneben, devot wie ein Ministrant und fasste nachher den Inhalt zusammen: Die Fußkultur stärkt unsere Herzen. Und in unseren Herzen schlägt das Herz der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Die fusische Kultur stählt die Kraft der Arbeiterklasse. Durch die fusische Kultur erblüht die Sowjetunion in der Kraft der kommunistischen Partei und im Glück des Volkes und des Friedens.

Der Akkordeonspieler Konrad Fonn, ein Landsmann von Tur Prikulitsch erklärte mir, dass ein Y im Russischen ein U ist. Dass es um die physische Kultur und ihre Kraft geht, um die Turnkultur auf kyrillisch. Und dass der Offizier das Wort falsch aufgeschnappt haben muss und Tur sich nicht traut, ihn zu korrigieren.

Die FUSSKULTUR kannte ich vom Krüppelturnen und aus der Schule den völkischen Donnerstag. Als Gymnasiasten mussten wir jeden Donnerstag zum Heimabend antreten. Auf dem Schulhof wurden wir gedrillt, hinlegen, aufstehen, auf den Zaun klettern, in die Hocke, hinlegen, Armbeugen, aufstehen. Links, rechts, marsch, Liedersingen. Wotan, Wikinger, germanisches Balladengut. Samstags oder sonntags marschierten wir in Kolonnen aus der Stadt hinaus. Im Gesträuch der Hügel trainierten wir Tarnung mit Ästen auf dem Kopf, Orientierung mit Käuzchen- und Hundestimme und Kriegsspiele mit roten und blauen Wollfäden am Arm. Wer dem Feind den Faden abreißen konnte, hatte ihn getötet. Wer die meisten Fäden hatte, wurde mit einer blutroten Hagebutte als Held dekoriert.

Einmal bin ich einfach nicht zum völkischen Donnerstag gegangen. Einfach war es nicht. In der Nacht davor gab es ein großes Erdbeben. In Bukarest war ein Mietshaus eingestürzt und hatte viele unter sich begraben. Bei uns in der Stadt waren nur Schornsteine abgestürzt und bei uns zu Hause nur zwei Ofenrohre auf den Fußboden gefallen. Das nahm ich mir zum Vorwand. Der Turnlehrer fragte nichts, doch bei mir im Kopf hatte das Krüppelturnen bereits gewirkt. Ich sah in diesem Ungehorsam den Beweis, dass ich wirklich ein Krüppel bin.

Mein Vater fotografierte in diesen aufregenden Zeiten sächsische Trachtenmädchen und Turnerinnen. Er hatte sich dafür sogar eine Leica gekauft. Und er wurde Sonntagsjäger. Montags sah ich ihm zu, wie er den geschossenen Hasen das Fell abzog. So nackig gehäutet, bläulichsteif und langgestreckt glichen die Hasen den sächsischen Turnerinnen an der Stange. Die Hasen wurden gegessen. Die Felle an die Schuppenwand genagelt und nach dem Trocknen auf den Dachboden in eine Blechtruhe gelegt. Alle halbe Jahr kam der Herr Fränkel sie abholen. Dann kam er nicht mehr. Mehr wollte man nicht wissen. Er war Jude, rotblond, groß, schlank fast wie ein Hase. Auch der kleine Ferdi Reich und seine Mutter, die bei uns unten im Hof wohnten, waren nicht mehr da. Mehr wollte man nicht wissen.

Es war leicht, nichts zu wissen. Es kamen Flüchtlinge aus Bessarabien und Transnistrien, sie wurden einquartiert, blieben und gingen wieder. Und es kamen deutsche Soldaten aus dem Reich, wurden einquartiert, blieben und gingen wieder. Und es gingen Nachbarn und Verwandte und Lehrer in den Krieg zu den rumänischen Faschisten oder zum Hitler. Und es kamen manche in den Fronturlaub und andere nicht. Und es gab Scharfmacher, die sich vor der Front drückten, aber zu Hause hetzten und in Uniform auf den Tanzball und ins Kaffeehaus gingen.

Auch der Naturkundelehrer trug Stiefel und Uniform, wenn er uns den goldenen Frauenschuh als Moosgewächs erklärte. Und das Edelweiß. Das Edelweiß war mehr als eine Pflanze, es war eine Mode. Alle trugen Abzeichen und Anstecker mit Flugzeug- und Panzertypen, Waffengattungen, Edelweiß und Enzian als Talisman. Ich sammelte Abzeichen, tauschte sie und lernte die Rangordnungen auswendig. Die liebsten waren mir der Unter- und Obergefreite. Ich glaubte, Gefreite sind Freier, Unter- und Oberliebhaber.

Denn bei uns zu Hause war der Obergefreite Dietrich aus dem Reich einquartiert. Meine Mutter machte Sonnenbad auf dem Schuppendach, und der Dietrich betrachtete sie mit dem Fernglas aus der Dachluke. Und mein Vater beobachtete ihn von der Veranda, zerrte ihn in den Hof und zerschlug sein Fernglas mit dem Hammer auf dem Hofpflaster neben dem Schuppen. Meine Mutter zog mit einem Säckchen Kleider unterm Arm für zwei Tage zu meiner Fini-Tante. Schon eine Woche vorher hatte der Dietrich meiner Mutter zum Geburtstag zwei Mokkatassen geschenkt. Es war meine Schuld, ich hatte ihm gesagt, dass sie Mokkatassen sammelt, und war mit ihm ins Porzellangeschäft gegangen. Dort habe ich dem Dietrich zwei Tässchen empfohlen, die meiner Mutter ganz bestimmt gefallen würden. Sie waren blassrosa wie feinster Knorpel, hatten einen Silberrand und einen Silbertropfen oben am Henkel.

Mein zweitliebstes Abzeichen war aus Bakelit, ein Edelweiß mit Phosphor, das in der Nacht leuchtete wie der Wecker.

Der Naturkundelehrer ging in den Krieg und kam nicht wieder. Der Lateinlehrer kam aus dem Krieg in den Fronturlaub und schaute bei uns in der Schule vorbei. Er setzte sich ans Katheder und hielt eine Lateinstunde. Sie war schnell zu Ende und ganz anders, als er dachte. Ein Schüler, der schon oft mit Hagebutten dekoriert worden war, sagte gleich zu Beginn: Herr Lehrer, erzählen Sie, wie ist es an der Front. Der Lehrer biss sich auf die Lippen und sagte: Nicht wie ihr glaubt. Und dann wurde er so starr im Gesicht und zittrig an den Händen, wie wir ihn gar nicht kannten. Nicht wie ihr glaubt, wiederholte er. Und dann legte er den Kopf auf den Tisch, ließ die Arme wie eine Fetzenpuppe am Stuhl herunterhängen und weinte.

Das Russendorf ist klein. Wenn man betteln geht, hofft man, dass man keinen anderen Bettler aus dem Lager trifft. Alle betteln mit Kohle. Wenn man ein echter Bettler ist, versteckt man seine Hände. Man trägt sein Stück Kohle im Fetzen wie ein schlafendes Kind auf dem Arm. Man klopft an eine Tür, und wenn sie aufgeht, lupft man den Fetzen und zeigt, was man hat. Ab Mai und bis im September stehen die Aussichten mit einem Stück Kohle nicht gut. Aber man hat nur Kohle.

Ich sah Petunien in einem Hausgarten, eine ganze Vitrine voller blassrosa Tässchen mit Silberrand. Im Weitergehen schloss ich die Augen und sagte MOKKATASSE und zählte die Buchstaben im Kopf: zehn. Und dann zählte ich zehn Schritte, danach zwanzig für beide Tassen. Wo ich stehenblieb, war aber kein Haus. Ich zählte bis einhundert für alle zehn Mokkatassen, die meine Mutter zu Hause in der Vitrine stehen hatte, und war drei Häuser weiter gekommen. Im Garten waren keine Petunien. Ich klopfte an die erste Tür.

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