Hast du ein Kind in Wien

Ich war schon seit Monaten mit den Füßen daheim, wo niemand wusste, was ich gesehen hatte. Und es fragte auch keiner. Erzählen kann man nur, wenn man wieder den abgibt, von dem man erzählt. Ich war froh, dass keiner etwas fragte, und insgeheim kränkte es mich. Der Großvater hätte mich bestimmt etwas gefragt. Er war seit zwei Jahren tot. Im Sommer nach meinem dritten Frieden war er an Nierenversagen gestorben und blieb bei den Toten, anders als ich.

An einem Abend kam der Nachbar, der Herr Carp, zu uns herüber und brachte die Wasserwaage zurück, die er geliehen hatte. Als er mich sah, musste er stottern. Ich bedankte mich für seine gelben Ledergamaschen und log, dass sie mich im Lager gewärmt hätten. Dass sie mir Glück gebracht hätten, sagte ich dann auch noch dazu, dass ich ihretwegen auf dem Basar einmal zehn Rubel gefunden hätte. Vor Aufregung glitten die Pupillen vom Herrn Carp wie Kirschkerne durch seine Augen. Er legte die Arme zusammen, streichelte sich beide Arme mit den Daumen, wippte und sagte: Dein Großvater hat immer auf dich gewartet. An seinem Todestag sind die Berge in die Wolken gegangen, es sind viele fremde Wolken wie fremde Koffer in die Stadt gekommen von überallher. Die Wolken haben gewusst, dass dein Großvater ein Weitgereister war. Eine Wolke war bestimmt von dir, auch wenn du es nicht weißt. Um fünf Uhr war das Begräbnis vorbei und gleich danach hat es eine halbe Stunde still geregnet. Ich weiß, es war ein Mittwoch, ich musste noch in die Stadt, Leim kaufen. Auf dem Heimweg habe ich vor eurem Hauseingang eine nackige Ratte gesehen. Sie war faltig, hat gezittert und sich an euer Holztor gekauert. Ich habe mich gewundert, dass sie keinen Schwanz hat oder darauf sitzt. Als ich vor ihr stand, sah ich eine warzige Kröte. Sie hat mich angeschaut und an ihren Backen zwei weiße Blasen aufgepumpt und grausig damit jongliert. Im ersten Moment habe ich sie mit dem Schirm wegschieben wollen, mich aber nicht getraut. Besser nicht, habe ich mir gedacht, es ist eine Erdkröte, sie winkt mit ihren weißen Blasen, das hat mit dem Tod von Leo zu tun. Man hat ja gedacht, dass du tot bist. Dein Großvater hat sehr auf dich gewartet, die erste Zeit. In der letzten Zeit dann weniger. Jeder hat ja geglaubt, dass du tot bist. Du hast ja nicht geschrieben, darum lebst du jetzt.

Das hat nichts miteinander zu tun, sagte ich.

Mein Atem bebte, weil der Herr Carp auf seinem ausgefransten Schnurrbart kaute und mich merken ließ, dass er es nicht glaubt. Die Mutter schielte durchs Verandafenster in den Hof, wo es nichts zu sehen gab als das bisschen Himmel und die Teerpappe auf dem Schuppen. Herr Carp, passen Sie auf, was sie reden, sagte die Großmutter. Das haben sie mir damals anders erzählt, damals hatten die weißen Blasen mit meinem toten Mann zu tun. Sie sind ein Gruß von meinem toten Mann, haben Sie damals gesagt. Der Herr Carp murmelte mehr zu sich selbst: Wie ich es jetzt sage, so ist es wahr. Ich konnte Ihnen, als Ihr Mann gestorben war, nicht auch noch mit dem toten Leo kommen. Der kleine Robert zog die Wasserwaage auf dem Boden und machte TSCH TSCH TSCH. Er setzte den Mopi aufs Dach seines Zugs, zog die Mutter am Kleid und sagte: Komm in den Zug, wir fahren auf die Wench. In der Wasserwaage zuckelte das abgleitende grüne Auge. Auf dem Zugdach oben saß der Mopi, im Waageninneren saß aber Bea Zakel und schaute durchs Fenster der Wasserwaage auf die Zehen vom Herrn Carp. Der Herr Carp hatte nichts Neues gesagt, nur das Ungehörige ausgesprochen. Ich wusste, dass der Schrecken größer als die Überraschung war, es war eine freudlose Erleichterung im Haus, als ich wiederkam. Ich hatte ihre Trauerzeit betrogen, weil ich lebte.

Seit ich wieder daheim war, hatte alles Augen. Alles sah, dass mein herrenloses Heimweh nicht wegging. Vor dem größten Fenster stand die Nähmaschine mit dem verfluchten Schiffchen und dem weißen Zwirn unter ihrem Holzdeckel. Das Grammophon war wieder in mein abgenutztes Köfferchen eingebaut und stand auf dem Ecktisch wie immer. Dieselben grünen und blauen Gardinen ließen sich hängen, dieselben Blumenmuster schlängelten sich in den Teppichen, die verfilzten Fransen säumten sie immer noch ein, die Schränke und Türen quietschten beim Öffnen und Schließen wie eh und je, die Fußböden knarrten an denselben Stellen, der Handlauf der Verandatreppen war noch an derselben Stelle rissig, jede Treppenstufe ausgetreten, am Geländer baumelte derselbe Blumentopf in seinem Drahtkorb. Nichts ging mich was an. Ich war eingesperrt in mich und aus mir herausgeworfen, ich gehörte nicht ihnen und fehlte mir.

Bevor ich ins Lager kam, waren wir siebzehn Jahre zusammen, teilten uns die großen Gegenstände wie Türen, Schränke, Tische, Teppiche. Und die kleinen Dinge wie Teller und Tassen, Salzstreuer, Seife, Schlüssel. Und das Licht der Fenster und der Lampen. Jetzt war ich ein Ausgewechselter. Wir wussten voneinander, wie wir nicht mehr sind und nie mehr werden. Fremdsein ist bestimmt eine Last, aber Fremdeln in unmöglicher Nähe eine Überlast. Ich hatte den Kopf im Koffer, ich atmete russisch. Ich wollte nicht weg und roch nach Entfernung. Ich konnte nicht den ganzen Tag im Haus zubringen. Ich brauchte eine Arbeit, um das Schweigen zu verlassen. Ich war jetzt 22 Jahre alt, hatte aber nichts gelernt. Ist Kistennagler ein Beruf, ich war wieder Handlanger.

Im August kam ich am späten Nachmittag aus der Kistenfabrik, und auf dem Verandatisch lag ein Brief für mich. Er war vom Rasierer Oswald Enyeter. Mein Vater sah mir beim Lesen zu, wie wenn einem jemand auf den Mund schaut beim Essen. Ich las:

Lieber Leo! Hoffentlich bist du wieder in der Heimat. Bei uns zu Hause war niemand mehr. Ich bin weitergezogen nach Österreich. Jetzt wohne ich in Wien — Margareten, viele Landsleute von uns sind hier. Vielleicht kommst du einmal nach Wien, dann kann ich dich wieder rasieren. Ich habe bei einem Landsmann wieder eine Stelle als Friseur gefunden. Tur Prikulitsch hat verbreitet, dass er im Lager der Rasierer war und ich der Kapo. Bea Zakel hat sich zwar von ihm getrennt, trotzdem behauptet sie das weiter. Ihr Kind hat sie Lea getauft. Hat das was mit Leopold zu tun? Vor zwei Wochen haben Bauarbeiter Tur Prikulitsch unter einer Donaubrücke gefunden. Sein Mund war geknebelt mit seiner Krawatte, und seine Stirn war mit der Axt in der Mitte durchgehackt. Die Axt lag auf seinem Bauch, von den Mördern keine Spur. Schade, dass ich es nicht war. Er hat es verdient.

Als ich den Brief zusammenlegte, fragte mein Vater:

Hast du ein Kind in Wien.

Ich sagte: Du hast den Brief gelesen, das steht aber nicht drin.

Er sagte: Man weiß ja nicht, was ihr im Lager alles gemacht habt.

Man weiß es nicht, sagte ich.

Die Mutter hielt meinen Ersatzbruder Robert an der Hand. Und Robert hielt den mit Sägemehl ausgestopften Stoffhund, den Mopi, auf dem Arm. Dann ging die Mutter mit Robert in die Küche. Als sie wiederkam, hielt sie an der einen Hand den Robert und in der anderen einen Teller Suppe. Und Robert presste den Mopi an seine Brust und hielt in der Hand den Löffel für die Suppe. Also für mich.

Seit ich in der Kistenfabrik war, streunte ich nach Feierabend durch die Stadt. Die Winternachmittage schützten mich, weil es früh dunkel war. Die Vitrinen der Geschäfte standen in gelbem Licht wie Haltestellen. Neu ausstaffiert warteten darin zwei, drei Gipsmenschen auf mich. Sie standen eng beieinander, mit Preisschildern vor den Fußspitzen, als müssten sie aufpassen, wo sie hintreten. Als wären die Preisschilder vor ihren Füßen Markierungen der Polizei, als wäre, kurz bevor ich kam, ein Toter weggetragen worden. Die kleineren Auslagen standen in Fensterhöhe. Sie waren vollgestopft mit Porzellan- und Blechgeschirr. Ich trug sie im Vorbeigehen wie Schubladen auf der Schulter. In einem traurigen Licht warteten lauter Sachen, die länger halten, als die Leute leben, die sie kaufen. Vielleicht so lang wie das Gebirge. Vom Großen Ring zog es mich in die Wohnstraßen. In den Fenstern hingen beleuchtete Vorhänge. Die verschiedensten Spitzenrosetten und Zwirnlabyrinthe hatten den gleichen schwarzen Widerschein vom nackten Baumgeäst. Und den Leuten in den Zimmern entging, dass ihre Vorhänge lebten und ihren weißen Zwirn in einer ständig anderen Mischung mit schwarzem Holz kombinierten, weil der Wind schlug. Erst an den Straßenenden war der Himmel frei, ich sah den Abendstern schmelzen und hängte mein Gesicht dran. Und dann war Zeit genug vergangen, und ich konnte sicher sein, dass alle schon gegessen haben, wenn ich nach Hause komme.

Ich hatte es verlernt, mit Messer und Gabel zu essen. Mir zuckten nicht nur die Hände, auch das Schlucken im Hals. Ich wusste, wie man hungert und das Essen streckt oder verschlingt, wenn man es endlich hat. Wie lang man kaut und wann man schluckt, um manierlich zu essen, wusste ich nicht mehr. Der Vater saß mir gegenüber, und die Tischplatte schien mir so groß wie die halbe Welt. Er schaute mir mit halbgeschlossenen Augen zu und verbarg sein Mitleid. Im Blinzeln leuchtete dann sein ganzes Entsetzen wie die rosa Quarzhaut an seiner Innenlippe. Der Großmutter gelang es am besten, mich ohne Umstände zu schonen. Sie kochte die dicken Suppen wahrscheinlich, damit ich mich mit Messer und Gabel nicht quäle.

An dem Augusttag, als der Brief kam, gab es grüne Bohnensuppe mit Rippchenfleisch. Nach dem Brief war mir der Hunger vergangen. Ich schnitt mir eine dicke Scheibe Brot, aß zuerst die Krümel vom Tisch, dann begann ich zu löffeln. Mein Ersatzbruder kniete auf dem Boden, stülpte seinem Stoffhund das Teesieb als Mütze auf den Kopf und setzte ihn rittlings auf die Schubladenkante des Verandaschränkchens. Alles, was Robert tat, war mir unheimlich. Er war ein zusammengebautes Kind — seine Augen von der Mutter, alt und rund und abendblau. Die Augen werden so bleiben, dachte ich. Seine Oberlippe von der Großmutter wie ein Spitzkragen unter der Nase. Die Oberlippe wird so bleiben. Seine gewölbten Fingernägel waren vom Großvater, sie werden so bleiben. Seine Ohren von mir und meinem Onkel Edwin, die eingedrehten Falten, die sich an den Ohrläppchen oben glattbiegen. Sechs gleiche Ohren aus dreierlei Haut, denn die Ohren werden so bleiben. Seine Nase wird nicht so bleiben, dachte ich, Nasen ändern sich, wenn sie wachsen. Später ist sie vielleicht vom Vater, mit der knochigen Kante an der Nasenwurzel. Wenn nicht, hat Robert gar nichts von ihm. Dann durfte der Vater zu dem Ersatzkind nichts dazutun.

Robert kam zu mir an den Tisch, hielt seinen Mopi mit dem Teesieb in der linken Hand und griff mir mit der rechten ans Knie, als wäre mein Knie eine Stuhlecke. Seit der Umarmung bei der Heimkehr, seit acht Monaten, hatte mich in diesem Haus niemand mehr berührt. Für sie war ich unnahbar, für Robert ein neuer Gegenstand im Haus. Er fasste mich an wie die Möbel, um sich festzuhalten oder mir etwas auf den Schoß zu legen. Diesmal stopfte er mir den Mopi in die Rocktasche, als wäre ich seine Schublade. Und ich hielt still, als wär ich eine. Ich hätte ihn wegstoßen wollen, der Nichtrührer hinderte mich. Der Vater nahm mir den Stoffhund und das Teesieb aus der Tasche und sagte:

Nimm deine Schätze.

Er ging mit Robert die Treppen hinunter in den Hof. Die Mutter setzte sich vis-à-vis von mir an den Tisch und schaute der Fliege auf dem Brotmesser zu. Ich rührte in meiner Bohnensuppe und sah mich bei Oswald Enyeter in der Rasierstube vor dem Spiegel sitzen. Tur Prikulitsch kam zur Tür herein. Ich hörte ihn sagen:

Kleine Schätze sind die, auf denen steht, da bin ich.

Größere Schätze sind die, auf denen steht, weißt du noch.

Die schönsten Schätze aber sind die, auf denen stehen wird, da war ich.

Da war ich klang aus seinem Mund wie Towarischtsch. Da war ich schon vier Tage nicht rasiert. Im Spiegel des Verandafensters fuhr die schwarzbehaarte Hand von Oswald Enyeter mit dem Messer durch weißen Schaum. Und hinterm Messer lief mir ein Hautstreifen wie ein Gummiband vom Mund zum Ohr. Oder war es damals schon das lange Schlitzmaul, das wir vom Hunger hatten. Der Vater konnte so ahnungslos von den Schätzen reden wie Tur Prikulitsch, weil sie beide noch nie ein Hungermaul hatten. Und die Fliege auf dem Brotmesser kannte die Veranda so gut wie ich die Rasierstube. Sie flog vom Brotmesser auf den Schrank, vom Schrank auf meine Brotscheibe, dann auf den Tellerrand und von dort zurück aufs Brotmesser. Jedesmal hob sie steil ab, kreiste mit Gesang und landete stumm. Auf den feingelochten Messingdeckel des Salzstreuers setzte sie sich nie. Jetzt wusste ich auf einmal, wieso ich den Salzstreuer seit meiner Heimkehr noch nie benutzt habe. In seinem Deckel blitzten die Messingaugen von Tur Prikulitsch. Ich schlürfte die Suppe, und die Mutter horchte, als würde ich den Brief aus Wien noch einmal lesen. Auf dem Brotmesser glänzte der Bauch der Fliege mal wie ein Tautropfen, mal wie ein Teertropfen, wenn sie sich drehte.

Tau und Teer und wie sich die Sekunden ziehen, wenn die Stirn über der Schnauze schräg gespalten ist. Hasoweh, aber wie geht eine ganze Krawatte in Turs kurzes Maul.

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