Heimweh. Als ob ich es bräuchte

Sieben Jahre nach meiner Heimkehr war ich seit sieben Jahren ohne Heimweh. Als ich auf dem Großen Ring im Schaufenster der Buchhandlung Fiesta von Hemingway sah, las ich aber Fiesta von Heimweh. Darum kaufte ich das Buch und machte mich auf den Heimweh, auf den Heimweg.

Es gibt Wörter, die machen mit mir, was sie wollen. Sie sind ganz anders als ich und denken anders, als sie sind. Sie fallen mir ein, damit ich denke, es gibt erste Dinge, die das Zweite schon wollen, auch wenn ich das gar nicht will. Heimweh. Als ob ich es bräuchte.

Es gibt Wörter, die mich zum Ziel haben, als wären sie nur für den Rückfall ins Lager gemacht, außer dem Wort RÜCKFALL selbst. Dieses Wort bleibt undienlich, wenn mir der Rückfall passiert. Undienlich ist auch das Wort ERINNERUNG. Auch das Wort BESCHÄDIGUNG ist für den Rückfall nicht zu gebrauchen. Auch das Wort ERFAHRUNG. Wenn ich es mit diesen undienlichen Wörtern zu tun kriege, muss ich mich dümmer stellen, als ich bin. Sie aber sind nach jeder Begegnung mit mir noch härter als vorher.

Man hat Läuse auf dem Kopf, in den Augenbrauen, im Nacken, in den Achseln, im Schamhaar. Man hat Wanzen im Bettgestell. Man hat Hunger. Man sagt aber nicht: Ich habe Läuse und Wanzen und Hunger. Man sagt: Ich habe Heimweh. Als ob man es bräuchte.

Manche sagen und singen und schweigen und gehen und sitzen und schlafen ihr Heimweh, so lang und so umsonst. Manche sagen, das Heimweh verliert mit der Zeit seinen Inhalt, wird schwelend und erst recht verzehrend, weil es mit dem konkreten Zuhause nichts mehr zu tun hat. Ich gehöre zu denen, die das sagen.

Ich weiß, schon im Bereich der Läuse gibt es dreierlei Heimweh: die Kopflaus, die Filzlaus und die Kleiderlaus.

Die Kopflaus kriecht und juckt an der Kopfhaut, hinter den Ohren, in den Augenbrauen, am Haaransatz im Nacken. Wenn es im Nacken juckt, kann es auch die Kleiderlaus im Hemdkragen sein.

Die Kleiderlaus kriecht nicht. Sie sitzt in den Nähten der Wäsche. Sie heißt Kleiderlaus, lebt aber nicht vom Zwirn.

Die Filzlaus kriecht und juckt im Schamhaar. Das Wort Schamhaar wurde nicht ausgesprochen. Man hat gesagt: Mich juckt es unten.

Die Größe der Läuse ist verschieden, aber alle sind weiß und sehen aus wie kleine Krebse. Wenn man sie zwischen den Daumennägeln zerquetscht, knacken sie trocken. Auf einem Nagel hat man den wässrigen Fleck von der Laus und auf dem anderen einen klebrigen Blutfleck. Die Eier der Läuse sind farblos aufgereiht wie ein gläserner Rosenkranz oder durchsichtige Erbsen in der Schote. Nur wenn sie Fleckfieber oder Typhus haben, sind Läuse gefährlich. Sonst kann man mit ihnen leben. Man gewöhnt sich daran, dass es überall juckt. Man könnte meinen, dass die Läuse in der Rasierstube über den Kamm von einem Kopf auf den anderen kamen. Das hatten sie nicht nötig, sie krochen in der Baracke von einem Bett zum anderen. Wir stellten die Füße der Betten in Konservendosen mit Wasser, um den Läusen den Weg abzuschneiden. Aber sie waren so hungrig wie wir und fanden andere Wege. Beim Appell, beim Schlangestehen am Essensschalter, an den langen Tischen in der Kantine, in der Arbeit beim Auf- und Abladen, beim Hocken in der Rauchpause, auch beim Tangotanzen teilten wir uns die Läuse.

Wir wurden mit der Nullermaschine kahlgeschoren, die Männer in der Rasierstube von Oswald Enyeter. Die Frauen in einem Bretterverschlag neben der Krankenbaracke von der russischen Feldscherin. Beim ersten Kahlscheren durften die Frauen ihre Zöpfe mitnehmen und sie in den Koffer legen als Andenken an sich selbst.

Ich weiß nicht, warum die Männer sich nie gegenseitig die Läuse fingen. Die Frauen steckten täglich die Köpfe zusammen, erzählten und sangen und fingen einander die Läuse.

Der Zither-Lommer wusste schon im ersten Winter, wie man Wollpullover von Läusen säubert. In der Abenddämmerung bei gut unter null Grad Celsius gräbt man ein 30 Zentimeter tiefes Loch in die Erde, steckt den Wollpullover ins Loch, lässt einen fingerlangen Zipfel herausstehen und scharrt das Loch locker zu. In der Nacht kriechen sämtliche Läuse aus dem Pullover. In der ersten Morgendämmerung sitzen sie in weißen Klumpen auf dem Zipfel. Dann kann man sie alle auf einmal mit dem Schuh zertreten.

Als es März wurde und die Erde nicht mehr metertief gefroren war, gruben wir Löcher zwischen den Baracken. Die Pulloverzipfel standen jeden Abend aus der Erde wie ein gestrickter Garten. In der Morgendämmerung blühte er mit weißem Schaum, wie Karfiol. Wir zertraten die Läuse und zogen die Pullover aus der Erde. Sie wärmten uns wieder, und der Zither-Lommer sagte: Kleider sterben nicht einmal, wenn man sie begräbt.

Sieben Jahre nach meiner Heimkehr war ich seit sieben Jahren ohne Läuse. Aber wenn ich Karfiol auf dem Teller habe, esse ich seit 60 Jahren die Läuse vom Pulloverzipfel in der ersten Morgendämmerung. Auch Schlagsahne ist bis heute kein Sahnehäubchen.

Für die Entlausung gab es ab dem zweiten Jahr neben den Duschen jeden Samstag die ETUBA — eine Heißluftkammer mit über 100 Grad Celsius. Wir hängten unsere Kleider an eiserne Haken, sie zirkulierten an Rollen wie Laufkatzen im Kühlraum eines Schlachthauses. Das Rösten der Kleider dauerte länger, als wir im Duschraum Zeit und heißes Wasser hatten — ungefähr anderthalb Stunden. Nach dem Duschen standen wir nackt im Vorraum und warteten. Verbogene räudige Gestalten, nackt sahen wir aus wie ausgemustertes Arbeitsvieh. Geschämt hat sich keiner. Wovor soll man sich schämen, wenn man keinen Körper mehr hat. Aber seinetwegen waren wir im Lager, für körperliche Arbeit. Je weniger Körper man hatte, desto mehr war man durch ihn gestraft. Diese Hülle gehörte den Russen. Vor den anderen schämte ich mich nie, nur vor mir, wie ich mich früher kannte mit glatter Haut im Neptunbad, wo der Lavendeldampf und das schnappende Glück mich verwirrten. Wo ich nie an ausgemustertes Arbeitsvieh auf zwei Beinen dachte.

Wenn die Kleider aus der Etuba herauskamen, stanken sie heiß und salzig. Der Stoff war versengt und brüchig. Aber während zwei, drei Entlausungsgängen wurden in der Etuba auch geschmuggelte Zuckerrüben zu kandierten Früchten. Ich hatte nie Zuckerrüben in der Etuba. Ich hatte eine Herzschaufel, Kohle, Zement, Sand, Schlackoblocksteine und Kellerschlacke. Einen Schreckenstag bei den Kartoffeln hatte ich, aber nie einen Tag bei den Zuckerrüben auf dem Feld. Nur Männer, die auf dem Kolchos Zuckerrüben auf- und abluden, hatten in der Etuba kandierte Früchte. Von zu Hause wusste ich, wie kandierte Früchte sind: glasgrün, himbeerrot, zitronengelb. Wie Schmucksteinchen steckten sie im Kranzkuchen und in den Zahnlücken, wenn man aß. Die kandierten Rüben waren erdbraun, geschält sahen sie aus wie glasierte Fäuste. Wenn ich die anderen essen sah, aß das Heimweh Kranzkuchen, und der Magen zog sich zusammen.

In der Silvesternacht zum vierten Jahr, in der Frauenbaracke habe auch ich kandierte Rüben gegessen — eine Torte. Statt gebacken war sie gebaut von der Trudi Pelikan. Statt kandierte Früchte — kandierte Rüben, statt Nüsse — Sonnenblumenkerne, statt Mehl — Maisschrot, statt auf Tortentellerchen — auf losen Fayencekacheln aus dem Sterbezimmer der Krankenbaracke. Und dazu gab es für jeden eine Zigarette vom Basar — LUCKY STRIKE. Ich zog zweimal dran und war besoffen. Der Kopf schwebte mir von den Schultern und vermischte sich mit den anderen Gesichtern, die Bettgestelle kreisten. Wir sangen und schunkelten den Viehwaggonblues:

Im Walde blüht der Seidelbast

Im Graben liegt noch Schnee

Und das du mir geschrieben hast

Das Brieflein tut mir weh

Die Planton-Kati saß mit ihrem Stück Torte auf der Fayencekachel am Tischchen unter der Dienstlampe. Sie schaute uns teilnahmslos zu. Doch als das Lied zu Ende war, wackelte sie auf ihrem Stuhl und machte: UUUH, UUUH.

Dieses tiefe UUUH machte sie, den dumpfen Ton der Deportationslokomotive beim letzten Halt in der Schneenacht vor vier Jahren. Ich erstarrte, einige weinten. Auch die Trudi Pelikan fand keinen Halt mehr. Und die Planton-Kati schaute sich das Weinen an und aß ihre Torte. Man sah, dass es ihr schmeckte.

Es gibt Wörter, die machen mit mir, was sie wollen. Ich weiß nicht mehr, ob das russische Wort WOSCH die Wanzen meint oder die Läuse. Ich meine mit Wosch sowohl die Wanzen als auch die Läuse. Das Wort kennt seine Tiere vielleicht gar nicht. Ich schon.

Die Wanzen klettern an den Wänden hoch und lassen sich im Dunkeln vom Plafond auf die Betten fallen. Ich weiß nicht, ob sie sich im Hellen nicht fallen lassen oder ob man sie nur nicht sieht. Auch als Schutz vor den Wanzen brennt die ganze Nacht das Dienstlicht in den Baracken.

Unsere Bettgestelle sind aus Eisen. Rostige Stangen mit rauhen Schweißnähten. In ihnen können sich die Wanzen vermehren, auch in den ungehobelten Brettern unterm Strohsack. Wenn die Wanzen überhandnehmen, müssen wir, meistens am Wochenende, mit den Betten in den Hof. Die Männer aus der Fabrik haben sich Drahtbürsten gemacht. Die Bettgestelle und die Bretter werden unter den Bürsten rotbraun vom Blut der zerquetschten Wanzen. Wir sind bei dieser befohlenen Wanzenvertilgung ehrgeizig dabei. Wir wollen unsere Betten säubern und in den Nächten Ruhe haben. Wir sehen das Blut der Wanzen gern, weil es unseres ist. Je mehr Blut, um so mehr Lust macht das Bürsten. Aus uns wird aller Hass herausgelockt. Wir bürsten die Wanzen tot und werden dabei stolz, als wären es die Russen.

Dann überfällt uns, wie ein Hieb auf den Kopf, die Übermüdung. Ein Stolz, der müde ist, macht traurig. Er hat sich kleingebürstet, bis zum nächsten Mal. Im Wissen der Vergeblichkeit tragen wir die entwanzten Betten wieder in die Baracken zurück. Mit einer lausigen Bescheidenheit im engsten Sinn des Wortes sagen wir: Wenigstens die Nacht kann kommen.

Und 60 Jahre später träume ich: Ich bin zum zweiten, dritten, manchmal sogar zum siebten Mal deportiert. Ich stelle meinen Grammophonkoffer an den Brunnen und irre auf dem Appellplatz herum. Es gibt keine Brigaden hier, keinen Natschalnik. Ich habe keine Arbeit. Ich bin vergessen von der Welt und von der neuen Lagerleitung. Ich berufe mich auf meine Erfahrung als Lagerveteran. Ich habe doch schließlich meine Herzschaufel, meine Tag- und Nachtschicht war immer ein Kunstwerk, erkläre ich. Ich bin doch kein Hergelaufener, ich kann doch was. Ich kenne mich aus mit Keller und Schlacke. Ich habe doch von meiner ersten Deportation ein käfergroßes Stück Schlacke blauschwarz im Schienbein eingewachsen. Ich zeige die Stelle am Schienbein wie einen Heldenorden. Ich weiß nicht, wo ich schlafen soll, hier ist alles neu. Wo sind die Baracken, frag ich. Wo ist Bea Zakel, wo ist Tur Prikulitsch. Die lahmende Fenja hat in jedem Traum eine andere Häkeljacke an und darüber immer dieselbe Schärpe aus dem weißen Brotleintuch umhängen. Sie sagt, es gibt keine Lagerleitung. Ich fühle mich vernachlässigt. Keiner will mich hier haben, und ich darf auf keinen Fall weg.

In welches Lager ist der Traum geraten. Interessiert es den Traum überhaupt, dass es die Herzschaufel und den Schlackenkeller wirklich gab. Dass mir die fünf gefangenen Jahre reichen. Will der Traum mich ewig deportieren und mich dann im siebten Lager nicht einmal arbeiten lassen. Das kränkt nun wirklich. Ich kann dem Traum nichts entgegenhalten, egal zum wievielten Mal er mich deportiert und in welchem Lager ich gerade bin.

Falls ich in diesem Leben noch einmal deportiert werden sollte, wüsste ich: Es gibt erste Dinge, die das Zweite schon wollen, auch wenn man das gar nicht will. Was treibt mich in diese Verbundenheit. Warum will ich nachts das Recht auf mein Elend haben. Warum kann ich nicht frei sein. Wieso zwinge ich das Lager, mir zu gehören. Heimweh. Als ob ich es bräuchte.

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