Taschentuch und Mäuse

Im Lager gab es vielerlei Tücher. Das Leben ging von einem Tuch zum anderen. Vom Fußwickeltuch zum Handtuch, zum Brottuch, zum Meldekrautkopfkissentuch, zum Hausier- und Betteltuch und sogar zum Taschentuch, wenn man überhaupt eines hatte.

Die Russen im Lager brauchten kein Taschentuch. Sie pressten das eine Nasenloch mit dem Zeigefinger zu und bliesen den Rotz durchs andere wie Teig auf den Boden. Dann pressten sie das saubere Nasenloch zu, und der Rotz spritzte durchs andere. Ich habe geübt, bei mir flog der Rotz nicht weg. Niemand im Lager nahm zum Naseputzen ein Taschentuch. Wer eines hatte, brauchte es als Beutel für Zucker und Salz. Wenn es ganz zerrissen war, als Klopapier.

Einmal bekam ich ein Taschentuch geschenkt von einer Russin. Es war sehr kalt. Mich trieb der Hunger. Nach der Arbeit ging ich wieder mal ins Russendorf hausieren mit einem Stück Anthrazitkohle, das man jetzt zum Heizen brauchte. Ich klopfte an eine Tür. Eine alte Russin öffnete, nahm mir die Kohle ab und ließ mich ins Haus. Das Zimmer war niedrig, in der Wand das Fenster so tief wie mein Knie. Auf einem Hocker standen zwei magere, grauweiß gescheckte Hühner. Dem einen Huhn hing der Kamm übers Auge, es schlenkerte mit dem Kopf wie ein Mensch ohne Hände, dem das Haar ins Gesicht fällt.

Die alte Frau redete seit einer Weile. Ich verstand nur hie und da ein Wort, spürte aber, worum es ging. Dass sie Angst vor den Nachbarn hat, dass sie schon lange mit zwei Hühnern allein ist, aber lieber mit den Hühnern redet, als mit den Nachbarn. Dass sie einen Sohn in meinem Alter hat, dass er Boris heißt und von zu Hause so weit weg ist wie ich, in der anderen Richtung, in einem Lager in Sibirien, in einem Strafbataillon, weil ein Nachbar ihn denunziert hat. Vielleicht habt ihr Glück, du und mein Sohn Boris, sagte sie, und dürft bald nach Hause. Sie zeigte auf den Stuhl, und ich setzte mich an die Tischecke. Sie nahm mir die Mütze vom Kopf und legte sie auf den Tisch. Sie legte einen Holzlöffel neben die Mütze. Dann ging sie zum Herd und schöpfte aus dem Topf Kartoffelsuppe in eine Blechschüssel. Es war bestimmt ein Liter Suppe. Ich löffelte, sie stand neben meiner Schulter und schaute mir zu. Die Suppe war heiß, ich schlürfte und schielte zu ihr. Und sie nickte. Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß. Die zwei Hühner hatten ihre Füße eingezogen, hockten auf dem Bauch und schliefen. Die Suppe heizte mich bis in die Zehen. Meine Nase tropfte. Abadschij, warte, sagte die Russin und brachte aus dem Nebenzimmer ein schneeweißes Taschentuch. Sie gab es mir in die Hand und drückte meine Finger zu, als Zeichen, dass ich es behalten soll. Sie schenkte es mir. Und ich wagte nicht, mich zu schneuzen. Was da geschah, ging weit über das Geschäftliche des Hausierens und mich und sie und ein Taschentuch hinaus. Es betraf ihren Sohn. Und mir tat es gut und auch wieder nicht, sie oder ich oder wir beide waren ein Stück zu weit gegangen. Sie musste etwas tun für ihren Sohn, weil ich da war und er von zu Hause so weit weg wie ich. Mir war es peinlich, dass ich da war, dass ich nicht er war. Und dass sie das auch spürte und sich darüber hinwegsetzen musste, weil sie die Sorgen um ihn nicht mehr aushielt. Auch ich hielt es nicht mehr aus, zwei Menschen zu sein, zwei Verschleppte, das war mir zu viel, das war nicht so einfach wie auf dem Hocker zwei Hühner nebeneinander. Ich war mir doch selber schon um eine Last zu viel.

Mein Kohletuch, grob und dreckig, hab ich nachher auf der Straße draußen als Taschentuch benutzt. Und nach dem Schneuzen um den Hals gelegt, da war es mein Halstuch. Mit den Halstuchenden hab ich mir im Gehen die Augen gewischt, oft und kurz, dass es nicht auffällt. Es hat mich zwar keiner beobachtet, ich wollte, dass es mir nicht auffällt. Ich wusste zu gut, es gibt ein inneres Gesetz, wonach man mit dem Weinen nie anfangen darf, wenn man zu viele Gründe hat. Ich redete mir ein, dass die Tränen von der Kälte kommen, und glaubte mir.

Das schneeweiße Taschentuch aus feinstem Batist war alt, ein gutes Stück aus der Zarenzeit. Es hatte einen handgestickten Ajour-Rand, Stäbchen aus Seidenzwirn. Die Lücken zwischen den Stäbchen waren akkurat genäht und in den Ecken kleine Seidenrosetten. So etwas Schönes hatte ich lang nicht mehr gesehen. Die Schönheit der normalen Gebrauchsgegenstände war zu Hause nicht der Rede wert. Im Lager ist es gut, sie zu vergessen. In dem Taschentuch erwischte sie mich. Diese Schönheit tat mir weh. Ob dieser Sohn der alten Russin, der er und ich in einem war, je wieder nach Hause kommt. Ich fing an zu singen, um die Gedanken abzustellen. Ich sang für uns beide den Viehwaggonblues:

Im Walde blüht der Seidelbast

Im Graben liegt noch Schnee

Und das du mir geschrieben hast

Das Brieflein tut mir weh

Der Himmel lief, Wolken mit ihren vollgestopften Kissen. Dann schaute der frühe Mond mit dem Gesicht meiner Mutter. Die Wolken schoben ihr ein Kissen unters Kinn und ein Kissen hinter die rechte Wange. Und durch die linke Wange zog das Kissen wieder hinaus. Und ich fragte den Mond: Ist meine Mutter schon so schwach. Ist sie krank. Gibt es unser Haus noch. Wohnt sie noch dort, oder ist sie auch in einem Lager. Lebt sie überhaupt noch. Weiß sie, dass ich noch lebe, oder weint sie schon um einen Toten, wenn sie an mich denkt.

Schon den zweiten Winter war ich im Lager, wir durften keine Post nach Hause schreiben, kein Lebenszeichen. Im Russendorf standen nackte Birken, darunter die Schneedächer wie krumme Betten in Luftbaracken. In dieser frühen Dämmerung war die Haut der Birken anders bleich als am Tag und anders weiß als Schnee. Ich sah den Wind biegsam durch die Äste schwimmen. Auf dem Trampelweg neben den geflochtenen Weidenzäunen kam mir ein holzbraunes Hündchen entgegen. Es hatte einen dreieckigen Kopf, hohe Beine, stracksdünn wie Trommelstöcke. Weißer Atem flog ihm aus dem Maul, als würde es mein Taschentuch essen und dabei mit den Beinen trommeln. Das Hündchen lief vorbei, als wäre ich nur der Schatten vom Zaun. Es hatte recht, ich war auf diesem Heimweg ins Lager nichts weiter als ein gewöhnlicher russischer Gegenstand in der Dämmerung.

Das weiße Taschentuch aus Batist hatte noch niemand benutzt. Auch ich habe es nie benutzt, aber wie eine Art Reliquie von einer Mutter und einem Sohn bis zum letzten Tag im Koffer aufbewahrt. Und schließlich auch nach Hause mitgenommen.

Im Lager hatte so ein Taschentuch nichts zu suchen. Ich hätte es all die Jahre auf dem Basar für etwas Essbares tauschen können. Ich hätte Zucker oder Salz dafür bekommen, vielleicht sogar Hirse. Die Versuchung war da, der Hunger blind genug. Was mich abhielt: Ich glaubte, das Taschentuch ist mein Schicksal. Wenn man sein Schicksal aus der Hand gibt, ist man verloren. Ich war mir sicher, der Abschiedssatz meiner Großmutter ICH WEISS DU KOMMST WIEDER hat sich in ein Taschentuch verwandelt. Ich schäme mich nicht, wenn ich sage, das Taschentuch war der einzige Mensch, der sich im Lager um mich kümmerte. Ich bin mir sicher, auch heute noch.

Manchmal kriegen die Dinge eine Zartheit, eine monströse, die man von ihnen nicht erwartet.

Am Kopfende hinterm Kissen ist der Koffer und unterm Kissen im Brottuch das vom Mund abgesparte, unschätzbar wertvolle Brot. Und wo auf dem Kissen das Ohr liegt, piepst es eines Morgens. Und man hebt den Kopf und wundert sich, zwischen Brottuch und Kissen zappelt ein hellrosa Knäuel, groß wie das eigene Ohr. Sechs augenlose Mäuse, jede kleiner als ein Kinderfinger. Und ihre Haut wie Seidenstrümpfe, die zucken, weil sie aus Fleisch sind. Mäuse aus dem Nichts geboren, ein Geschenk ohne Grund. Da war ich plötzlich stolz auf sie, als ob auch sie stolz auf mich wären. Stolz, weil mein Ohr Kinder bekommen hatte, weil sie trotz der 68 Betten in der Baracke bei mir geboren wurden und ausgerechnet mich zum Vater haben wollten. Sie lagen alleine da, eine Mutter habe ich nie gesehen. Ich genierte mich vor ihnen, weil sie mir so maßlos trauten. Ich spürte sofort, dass ich sie liebte und dass ich sie loswerden muss, und zwar sofort, bevor sie Brot fressen und bevor die anderen aufwachen und etwas merken.

Und ich hob das Knäuel Mäuse aufs Brottuch, hielt die Finger wie ein Nest, um ihnen ja nicht wehzutun. Ich schlich aus der Baracke, trug das Nest über den Hof. Meine Füße zittrig vor Eile, dass mich ja kein Wachsoldat sieht und kein Wachhund riecht. Doch meine Augen wichen nicht vom Tuch, dass mir beim Gehen ja keine Maus herunterfällt. Dann stand ich in der Latrine und schüttelte das Tuch ins Loch. Die Mäuse plumpsten in die Grube. Kein Pieps. Ich atmete nur einmal tief, geschafft.

Als ich neun Jahre alt war, fand ich auf einem alten Teppich im hintersten Winkel der Waschküche ein neugeborenes graugrünes Kätzchen mit verklebten Augen. Ich nahm es in die Hand und streichelte ihm den Bauch. Es fauchte und biss mir in den kleinen Finger, ließ nicht los. Da sah ich Blut. Da drückte ich mit Daumen und Zeigefinger — ich glaube, ich habe ganz zugedrückt, und zwar am Hals. Mir klopfte das Herz wie nach einem Zweikampf. Das Kätzchen, weil es tot war, hatte mich beim Töten ertappt. Dass es keine Absicht war, machte es nur schlimmer. Monströse Zärtlichkeit verstrickt sich anders in Schuld als absichtliche Grausamkeit. Tiefer. Und länger.

Was das Kätzchen mit den Mäusen gemeinsam hat:

Kein Pieps.

Und was das Kätzchen von den Mäusen unterscheidet:

Bei den Mäusen war es Absicht und Mitleid. Bei dem Kätzchen die Verbitterung, dass man streicheln will und gebissen wird. Das ist das Eine. Zugzwang das andere. Wenn man das Drücken anfängt, kann man nicht zurück.

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