Von den Schlacken

Im Sommer habe ich mitten in der Steppe einen Damm aus weißer Schlacke gesehen und an die Schneespitzen der Karpaten gedacht. Kobelian sagte, der Damm sollte einmal eine Straße werden. Die weiße Schlacke war festgebacken, hatte eine körnige Struktur, wie Kalkblasen und Muschelsand. In verstreuten Flecken färbte sich das Weiße rosa, oft so stark, dass es grau wurde am Rand. Ich weiß nicht, warum Rosa ins Graue gealtert so schmeichelnd und besitzergreifend schön ist, nicht mehr mineralisch, sondern traurigmüde wie Menschen. Ob das Heimweh eine Farbe hat.

Die andere weiße Schlacke lag in mannshohen Haufen als Hügelkette neben der Jama. Sie war nicht festgebacken, an den Rändern wuchs Gras. Wenn es beim Kohleschaufeln stark regnete, suchten wir darin Unterschlupf. Wir höhlten uns Löcher in die weiße Schlacke. Sie rieselte nach und packte uns ein. Und im Winter dampfte auf ihr der Schnee, und wir wärmten uns in den Löchern und waren dreimal versteckt, in der Schneedecke, in der Schlacke und in der Pufoaika-Montur. Es roch anheimelnd nach Schwefel, der Dampf quoll durch alles. Wir saßen bis über den Hals in den Löchern, mit der Nase wie voreilig gekeimte Blumenzwiebeln über der Erde und der schmelzenden Schneeschicht am Mund. Wenn wir aus der Schlacke herauskrochen, waren unsere Kleider löchrig von den Glutstückchen, überall hing die Watte heraus.

Vom Auf- und Abladen kenne ich die dunkelrote gemahlene Hochofenschlacke. Sie hat nichts mit der weißen Schlacke zu tun, ist aus rotbraunem Staub, der bei jedem Schaufelschwung durch die Luft geistert und sich langsam herabsenkt wie ein Faltenwurf. Da sie trocken wie der heiße Sommer und durch und durch aseptisch ist, spricht die dunkelrote Hochofenschlacke das Heimweh nicht an.

Es gibt auch die grünbraune Schlacke, festgebacken auf der wilden Wiese, im Brachland hinter der Fabrik. Sie lag wie abgeleckte Salzbrocken unterm Unkraut. Wir hatten miteinander nichts zu tun, sie ließ mich vorbeigehen und brachte mich auf keinerlei Gedanken.

Aber mein Ein und Alles, meine Jeden-Tag-Schlacke und Tag-und Nachtschichtschlacke war die Dampfkesselschlacke aus den Kohleöfen, die heiße und die kalte Kellerschlacke. Die Öfen standen in der Oberwelt, fünf hintereinander, hoch wie Etagenhäuser. Die Öfen heizten fünf Kessel, produzierten Dampf für das ganze Werk und für uns im Keller die heiße und kalte Schlacke. Und die ganze Arbeit, die heiße und die kalte Phase jeder Schicht.

Die kalte Schlacke entsteht nur durch die heiße, sie ist nur der kalte Staub der heißen Schlacke. Die kalte Schlacke muss nur einmal pro Schicht entleert werden, die heiße Schlacke jedoch ständig. Sie muss im Takt der Öfen in unzählige Wägelchen geschaufelt, den Berg hinaufgestoßen und am Schienenende des Bergs ausgekippt werden.

Die heiße Schlacke kann jeden Tag anders sein. Sie gerät je nachdem, wie die Kohlemischung ausgefallen ist. Man kann von der Gunst und von der Tücke der Mischung reden. Wenn die Kohlemischung gut ist, kommen auf dem Transportrost 4 bis 5 cm dicke glühende Platten an. Sie haben ihre Wärme abgegeben, sind spröd und brechen trocken in Stücke, die locker wie geröstetes Brot aus der Klappe fallen. Der Hungerengel wundert sich, auch wenn man beim Schaufeln schwächelt, füllt sich das Wägelchen ziemlich schnell. Ist die Mischung aber schlecht, kommt die Schlacke zäh wie Lava an, weißglühend und klebrig. Sie fällt nicht von allein durch den Rost, sie staut sich zwischen den Ofenklappen. Mit der Schürstange reißt man Batzen los, die ziehen sich wie Teig. Man kriegt den Ofen nicht leer, das Wägelchen nicht voll. Es ist eine plagende, zeitraubende Arbeit.

Wenn die Mischung aber katastrophal ist, kriegt der Ofen regelrecht Durchfall. Die Durchfallschlacke wartet nicht, bis die Klappe offen ist, sie fließt schon aus der halbgeöffneten Klappe wie geschissene Maiskörner. Sie ist rot und weißglühend, aber man würde am liebsten nicht hinsehen. Sie ist gefährlich, kann einem in jedes Loch der Kleider fließen. Weil man sie nicht stoppen kann, läuft das Wägelchen über und wird unter der Schlacke begraben. Man muss die Klappe, weiß der Teufel wie, schließen, die Beine, die Galoschen und Fußlappen vor der Glutüberschwemmung hüten, die Glut mit dem Wasserschlauch löschen, das Wägelchen freischaufeln, es den Berg hochziehen und die Havariestelle säubern — und das alles auf einmal. Es ist das pure Desaster, wenn es auch noch gegen Schichtende passiert. Man verliert endlos Zeit, und die anderen vier Öfen warten nicht, sie müssten längst entleert werden. Der Takt wird rasend, die Augen schwimmen, die Hände fliegen, die Füße wackeln. Ich hasse die Durchfallschlacke heute noch.

Aber die Einmal-pro-Schicht-Schlacke, die kalte Schlacke, liebe ich. Sie ist anständig zu einem, geduldig und berechenbar. Der Albert Gion und ich brauchten einander nur für die heiße Schlacke. Die kalte Schlacke wollte jeder für sich allein haben. Die kalte Schlacke ist zahm und zutraulich, fast anlehnungsbedürftig — ein violetter Sandstaub, mit dem man ungestört allein sein kann. Sie war in der hintersten Ofenreihe des Kellers, sie hatte ihre eigenen Klappen und ein eigenes Wägelchen mit Blechbauch, ohne Gitter.

Der Hungerengel wusste, wie gern ich mit der kalten Schlacke allein war. Dass sie gar nicht kalt war, sondern lauwarm und ein bisschen nach Flieder roch oder nach behaarten Gebirgspfirsichen und späten Sommeraprikosen. Doch am meisten roch die kalte Schlacke nach Feierabend, weil in der nächsten Viertelstunde Schichtschluss und kein Desaster mehr möglich war. Sie roch nach Heimweg aus dem Keller, nach Kantinensuppe und Ausruhen. Sogar nach ziviler Welt roch sie und machte mich übermütig. Ich stellte mir vor, ich gehe nicht im Watteanzug aus dem Keller in die Baracke, sondern feingemacht mit Borsalino, Kamelhaarmantel und weinrotem Seidenschal in Bukarest oder in Wien ins Kaffeehaus und setze mich dort an ein Marmortischchen. So freilebig war die kalte Schlacke, sie schenkte einem den Selbstbetrug, durch den man sich ins Leben zurückstehlen konnte. Besoffen vom Gift, konnte man sich mit der kalten Schlacke glücklich machen, todsicher glücklich.

Nicht umsonst erwartete Tur Prikulitsch, dass ich mich beklage. Nur deshalb fragte er alle paar Tage in der Rasierstube:

Und, wie ist es bei euch im Keller.

Wie geht es im Keller.

Was macht der Keller.

Klappt es im Keller.

Oder nur: Und im Keller.

Und weil ich ihm den Schneid abkaufen wollte, blieb ich immer bei derselben Antwort: Jede Schicht ist ein Kunstwerk.

Wenn er nur den kleinsten Schimmer gehabt hätte von der Mischung aus Kohlegasen und Hunger, hätte er fragen müssen, wo ich mich herumtreibe im Keller. Und ich hätte sagen können, bei der Flugasche. Denn auch die Flugasche ist eine Art kalte Schlacke, treibt sich überall herum und überzieht den ganzen Keller mit Pelz. Auch mit der Flugasche kann man sich glücklich machen. Sie hat kein Gift und gaukelt. Sie ist mausgrau, samtig und riecht nicht, besteht aus Plättchen, winzigkleinen Schuppen. Sie wuselt ständig und hängt sich wie Rauhreifkristalle an alles. Jede Oberfläche verpelzt. Im Licht macht die Flugasche aus dem Drahtnetz der Glühbirne einen Zirkuskäfig mit Läusen, Wanzen, Flöhen und Termiten. Die Termiten haben Hochzeitsflügel, hab ich in der Schule gelernt. Ich habe sogar gelernt, die Termiten leben in Lagern. Sie haben einen König, eine Königin und Soldaten. Und die Soldaten haben große Köpfe. Es gibt Kiefersoldaten, Nasensoldaten und Drüsensoldaten. Und alle werden von den Arbeitern gefüttert. Und die Königin ist dreißig mal größer als die Arbeiter. Ich glaube, das ist auch der Unterschied zwischen dem Hungerengel und mir oder Bea Zakel und mir. Oder Tur Prikulitsch und mir.

In Verbindung mit Wasser fließt nicht das Wasser, sondern die Flugasche, indem sie Wasser trinkt. Sie bläht sich auf zu Tropfsteinservicen und noch viel größer zu Betonkindern, die graue Äpfel essen. In Verbindung mit Wasser kann die Flugasche zaubern.

Ohne Licht und Wasser sitzt sie tot herum. An den Kellerwänden wie echter Pelz, auf der Wattemütze wie Kunstpelz, in den Nasenlöchern wie Gummistopfen. Das Gesicht von Albert Gion, so schwarz wie der Keller, sieht man nicht, nur sein Augenweiß schwimmt durch die Luft und seine Zähne. Bei Albert Gion weiß ich nie, ob er nur verschlossen oder traurig ist. Wenn ich ihn frage, sagt er: Darüber denke ich nicht nach. Wir sind zwei Kellerasseln, das meine ich ernst.

Nach Schichtschluss gehen wir duschen in die Banja neben dem Fabrikstor. Kopf, Hals, Hände werden dreimal eingeseift, aber die Flugasche bleibt grau und die kalte Schlacke violett. Die Kellerfarben waren in die Haut gefressen. Mich störte es nicht, ich war sogar ein wenig stolz, es waren ja auch die Farben des Selbstbetrugs.

Bea Zakel bedauerte mich, überlegte eine Weile, wie sie das schonend formulieren könnte, wusste aber, dass es eine Kränkung war, als sie sagte: Du bist wie aus einem Stummfilm, du gleichst dem Valentino.

Sie hatte sich die Haare frisch gewaschen, ihr Seidenzopf war glatt geflochten und noch feucht. Ihre Wangen waren gut genährt und röteten sich wie Erdbeeren.

Als Kind lief ich, während die Mutter und die Fini-Tante Kaffee tranken, durch den Garten. Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben eine dicke reife Erdbeere und rief: Kommt mal her, hier brennt ein Frosch und leuchtet.

Ein Stückchen glühend heißer Kellerschlacke habe ich aus dem Lager nach Hause mitgebracht, am rechten Schienbein außen. Es ist in mir ausgekühlt und hat sich in kalte Schlacke verwandelt. Es schimmert durch die Haut wie eine Tätowierung.

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